FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2009

 

Die soziale Konstruktion von Behinderung
durch frühkindliche Traumatisierung

    von Anne Singelmann

 

Einen Menschen in seiner Ganzheit zu sehen und sein Verhalten aus der individuellen Biographie heraus als sinnvoll betrachten zu können, ist sicherlich ein wesentliches Resultat meines Studiums. Die Entwicklung des Einzelnen kann nur als eine prozesshafte begriffen und das Sein nur aus dem Werden erklärt werden. Marian hat mir zum Ende meines Studiums mit seiner Geschichte noch einmal gezeigt, wie elementar dieses Denken ist. Marian, dessen Geschichte in dieser Arbeit erzählt werden soll, wird in Rumänien geboren und verbringt seine ersten zwei Lebensjahre in einem rumänischen Waisenheim. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder wird er kurz vor seinem zweiten Geburtstag nach Deutschland adoptiert. Im Laufe der Zeit widerlegt Marian sowohl Diagnosen als auch Prognosen. Seine Lebensgeschichte ist zum einen als Folge schwerer Gewalterfahrungen und Bindungsabbrüche zu verstehen, zum anderen lässt sie die Bedeutung intensiver Beziehungen erkennen. In der vorliegenden Arbeit möchte ich die Biographie dieses Menschen als eine Geschichte traumatischer und isolierender Erfahrungen verständlich machen. Ich möchte Symptome dechiffrieren und eventuell weiteren vorschnellen Prognosen vorbeugen.

Ich lerne Marian und seine Familie im September 2005 kennen. Zuvor bekomme ich Einsicht in Akten und Gutachten, die mir seitens der Familie geschickt werden. Ich lese Diagnosen, Gutachten und Entwicklungsberichte. Es bleibt ein bewegendes aber doch größtenteils fremdes Schicksal. Ich erhalte ein Videoband mit privaten Aufnahmen der Eltern von ihrem Sohn ab dem Zeitpunkt der Adoption. Die Geschichte beginnt ein Gesicht zu bekommen und die Distanz wandelt sich ein Stück weit in Nähe. Es folgen Telefonate mit dem Vater und der Prozess beginnt seinen Lauf zu nehmen. In der Zeit des Kennenlernens ist nicht nur dieses fremde Schicksal zu einem Ausdruck eines besonderen Lebens und einer besonderen Geschichte geworden, sondern Marian und seine Familie sind für mich zu besonderen Menschen geworden.

Ich möchte Marians Geschichte aufschreiben. Ich möchte versuchen, das mit der nötigen Distanz eines Beobachters und gleichzeitig mit der nicht zu umgehenden Nähe zu tun, die ich brauche um die Zusammenhänge zu verstehen, die Marian zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist.

Auf der Basis der rehistorisierenden Diagnostik (vgl. Jantzen, 1998a, 1999, 2005) soll Marians Werden nachvollzogen werden. Die Frage nach dem „Warum?“ soll in dieser Arbeit eine zentrale Position einnehmen. Nicht die Diagnose soll Ausgangspunkt der Betrachtung dieses Menschen sein, sondern anhand seiner Lebensgeschichte soll nach möglichen Ursachen und Auswirkungen gesucht werden.

Nach Jantzen liegt der „Kern der Retardation“ nicht im biologischen Defekt, sondern in der veränderten sozialen Entwicklungssituation. Es kommt dadurch zu einer Veränderung in der Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt (vgl. Jantzen 1999, S. 6).

Im ersten Kapitel dieser Arbeit werde ich die Methode der rehistorisierenden Diagnostik auf der Grundlage der Syndromanalyse nach LURIJA vorstellen. Anhand dieser Form der Aufarbeitung einer Lebensgeschichte wird der weitere Aufbau der Arbeit verständlich. Entsprechend der Theorie der Syndromanalyse erfolgt die Abfolge der Arbeit in drei logisch aufeinander folgenden Schritten.

Dementsprechend gibt das zweite Kapitel einen Überblick über Marians Lebensgeschichte. Diese wird mir größtenteils von seinen Eltern erzählt. Über die Zeit in Rumänien können auch sie nur Vermutungen anstellen, da es kaum schriftliches Material, Akten oder Dokumente über diese ersten zwei Lebensjahre gibt. Anhand eines Interviews, das ich mit den Eltern geführt habe, werde ich Marians Geschichte bis zum heutigen Zeitpunkt erzählen. Ich werde mich an die chronologische Abfolge halten und bestimmte, von mir als zentrale und für Marians Werden entscheidende Lebensphasen erachtete Abschnitte intensiver ausführen als andere. Die von mir getroffene Auswahl und die jeweilige Zuschreibung von Bedeutung sind rein subjektiv. Ich werde jedoch versuchen die Informationen so wortgetreu wie möglich wiederzugeben und in der Darstellung seiner Geschichte vor allem Marian gerecht zu werden.

Die zweite Stufe ist gekennzeichnet durch die Hinzunahme von Erklärungswissen und umfasst die Kapitel drei bis sieben. Nach der Vorstellung von Marians Biographie werde ich im dritten Kapitel auf das Zusammenwirken und den Austausch zwischen Individuum und Umwelt eingehen und damit Grundvoraussetzungen für die Entwicklung darstellen.

Es erscheint mir sinnvoll, im Weiteren theoretische Grundlagen zur Entwicklung des Menschen in seiner Ganzheit aufzuzeigen. Der Aufbau des Psychischen ist unzertrennlich mit der biologischen und der sozialen Ebene verbunden. In der Tradition der materialistischen Behindertenpädagogik, die das Subjekt in Relation zu Tätigkeit und Objekt begreift, soll die Bedeutung der menschlichen Tätigkeit und der Austausch mit der Umwelt in Form von Dialogen beschrieben werden.

Die Bedeutung der Reziprozität im Dialog und die daraus entstehenden Entwicklungsbedingungen sollen im vierten Kapitel aufgegriffen werden. An dieser Stelle möchte ich zeigen, dass der Mensch sein Leben lang auf den Austausch mit seiner Umwelt angewiesen ist und dass die Weichen in diese Richtung bereits sehr früh gestellt werden. Das folgende Kapitel beschreibt in Anlehnung an Marians Lebensgeschichte, welche Auswirkungen Deprivation, Vernachlässigung und Isolation auf die Entwicklung eines Menschen haben. Die Darstellung verschiedener Studien zur Situation rumänischer Adoptivkinder soll ermöglichen, anhand des Verhaltens der untersuchten Kinder in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen auf Marians Vergangenheit zu schließen. Übereinstimmungen im Verhalten und der Entwicklung können helfen, die Lücken in Marians ersten zwei Lebensjahren zu schließen. Ich möchte darauf eingehen, wie deprivierende und traumatisierende Umstände den Aufbau eines Gehirns beeinflussen können und damit veränderte Bedingungen für das Leben des Individuums in seiner Umwelt konstruieren. Den Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Konstruktion einer Behinderung werde ich in Kapitel sieben ebenfalls beleuchten. Diese Geschichte ist selbstverständlich nicht von Marians Familie, die diese Entwicklung ermöglicht oder zumindest die äußeren Rahmenbedingungen für eine positive Entwicklung geschaffen hat, wie sie selbst sagen würden. Deshalb möchte ich abschließend auf diese doch besondere Familiensituation eingehen, mich mit den Kompetenzen dieser Eltern und den Feldern der Macht auseinandersetzen, in denen sie sich aufgrund ihrer Situation befinden.

Im achten Kapitel geht es mir darum die persönliche Biographie mit theoretischem Wissen zu vereinen und Marians Entwicklung als eine logische nachzuvollziehen. Ich möchte zusammenfassend darstellen, wie sich Marian unter seinen persönlichen Voraussetzungen und den Bedingungen seines Lebens entwickelt, welche Schritte er vollzogen und welche Strategien er sich für sein Leben zurechtgelegt hat. Auf der einen Seite möchte ich beschreiben, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Marian entgegen vieler Prognosen ausgebildet hat, wie er lernt und welchen Umgang mit Sprache er gewählt hat. Auf der anderen Seite stehen nach wie vor die Erlebnisse aus der Vergangenheit, die Berücksichtigung erfordern.

Die Lebensgeschichte eines Menschen und in diesem Fall speziell Marians Geschichte umfasst weitere Bereiche, die zu beschreiben sicherlich ebenso wichtig wären, aber doch in dieser Arbeit aufgrund ihres Umfanges keinen Platz finden können. Die Beziehung zwischen Marian und seinem Zwillingsbruder ist einer davon. Ihre Trennung in Rumänien, das Zusammentreffen in der Familie und das erneute Kennenlernen, sowie die mittlerweile sehr innige Beziehung zwischen den Brüdern sind ein großer Teil in Marians Leben, muss jedoch in dieser Arbeit mit oben genannter Begründung weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Ein weiteres, seit 1½ Jahren sehr wichtiges Thema für Marian und seine Familie ist die Schule. Auch dieser Bereich kann nur am Rande, wenn es um Felder der Macht oder den sozialen Druck von außen auf die Familie geht, behandelt werden.

Marians Geschichte zeigt, dass Zuschreibungen und Begriffe wie Behinderung, Verhaltensauffälligkeit usw. über ihren rein deskriptiven Charakter hinaus immer auch bewertend gebraucht werden. Die Betroffenen werden in ihrem Sein immer auch in Relation zu „Nicht-Behinderten“ und zur „Normalität“ gesetzt. Eine rein auf klinische Diagnosen beschränkte Beschreibung eines Menschen sagt nichts über ihn, seine Lebensgeschichte sowie die Bedingungen aus, unter denen er lebt. Sie reduziert auf bloße Natur, indem scheinbar störende Eigenschaften oder Auffälligkeiten als unveränderlich, als Eigenschaft oder als „Satansgene“ zugeschrieben werden.

Das Verhalten eines Menschen als entwicklungslogischen Ausdruck seiner Reaktion auf Umweltereignisse zu begreifen, ist Ziel dieser Arbeit. Dazu muss der Rahmen der Betrachtung erweitert, der Betroffene aus dem rein pathologischen Bezugsrahmen herausgelöst und neue Zusammenhänge geschaffen werden.

 

gesamte Arbeit als pdf-datei zum Download

s.a. Bericht über ein rumänisches Adoptivkind und das Versagen der Schulpädagogik aufgrund mangelnder Kooperation und Unkenntnis über die Folgen traumatischer Schädigungen von Susan Brandstädter

 

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