FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

Trauma, Trauma-Coping und Posttraumatische Belastungsstörung: Theorie und Therapeutische Ansätze

von Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse (Okt. 98)

 

Vorbemerkung: Sachsse behandelt schwer traumatisierte Patientinnen mit behutsamer Traumaexposition. Er meldet eine hohe Erfolgsquote und wenig Rückfälle. Die Patientinnen sind auch besser in der Lage, zusätzliche psychotherapeutische Angebote zu nutzen. Aber er weist auch darauf hin, dass Traumaexposition nicht riskiert werden darf, wenn es irgendwelche Täterkontakte gibt oder die Patientinnen in missbrauchenden Beziehungen leben. Denn das würde ihre dissoziativen Schutzmechanismen zusätzlich herausfordern. In derselben Gefahr befinden sich vernachlässigte, misshandelte und missbrauchte Pflegekinder bei Kontakten mit Eltern, die sie in früher Kindheit traumatisierten.
C.M. (Okt. 01)


Modethema "Trauma"

Das Thema "Traumatisierung" ist derzeit ein Modethema. Es bewegt und beschäftigt alle, und wenn ich zurück denke, dann sehe ich, daß es immer wieder solche Modethemen gab: Als ich studierte, war "die Gruppe" so ein Modethema. Alles war eine "Gruppe", "Die Gruppe" veränderte die Welt, "die Gruppe" sollte ein völlig neues Bewußtsein schaffen - und ich frage mich manchmal, ob dieses Modethema "Gruppe" damals wirklich etwas verändert hat: Ich denke schon. Ich glaube, daß die Auseinandersetzung mit Gruppenphänomenen dazu beigetragen hat, daß eigentlich überall in Gruppen gearbeitet wird; es ist eher die Ausnahme, daß irgendwo jemand noch so alleine vor sich hinarbeitet. Die Arbeit in Teams, in Gruppen, in Leitungsgruppen, in Arbeitseinheiten hat sich durchgesetzt, und insofern hat die Auseinandersetzung mit diesem Thema der Gruppe etwas verändert. Ich bin sicher, daß die Auseinandersetzung mit dem Thema "Trauma" ebenfalls etwas verändern wird.

Ich möchte in meinem Vortrag folgendermaßen vorgehen: Ich spreche zunächst ein bißchen über die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma, dann über die aktuelle Sichtweise der Traumaverarbeitung und dann über die Frage "Welche Behandlungsansätze werden zur Zeit versucht?" abschließend über allererste Ergebnisse.

Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma

Die Auseinandersetzung mit dem Trauma als Phänomen beginnt für viele - gerade für diejenigen, die aus der Psychoanalyse kommen - 1896 mit Sigmund Freuds Arbeit zur Ätiologie der Hysterie. Freud stand jedoch bereits in einer Tradition, er fing nicht neu an, entdeckte nicht, wie er meinte, die Quelle des Nils. Vielmehr kam er aus einer Tradition, die sich Mitte des letzten Jahrhunderts in Frankreich entwickelte. Damals setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, die mit Psychologie nichts im Sinn hatten, mit der Traumatisierung von Kindern auseinander. Es handelte sich dabei um Gerichtsmediziner, die Kriminalstatistiken erstellten, große Zahlensammlungen aus den verschiedensten Departements, in denen sie zusammentrugen, wie oft eigentlich Kindstötungen mit sexuellem Hintergrund vorkamen. Sie kamen dabei zu sehr erschreckenden Zahlen. Das bedeutet, daß dieses Phänomen bekannt war. Ich bin auch sicher, daß der Marquis de Sade nicht nur Phantasien beschrieben hat. Interessanterweise ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema auch in der Bundesrepublik ursprünglich von einer Gerichtsmedizinerin ausgegangen - nämlich Frau Trube-Becker - als von der Psychologie, Psychiatrie oder Psychoanalyse.

Die Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Phänomen fand in Paris auch an der Salpetrière statt. Dort machte Sigmund Freud bekanntermaßen ein längeres Praktikum, um sich fortzubilden, um einen größeren Kenntnisstand im Bereich der Neurologie und Psychiatrie bei dem damals führenden Neurologen und Psychiater, nämlich bei Charcot, zu erlangen.

Charcot ist ja sehr wesentlich für die Entwicklung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Denkens gewesen, weil er im Grunde genommen der Entdecker der Psychogenese ist.

Die Trennung zwischen Körper und Psyche war bis etwa 1800 ja gar nicht gegeben. Da unterschied man nicht zwischen mentalen oder seelischen und somatischen Prozesse, sondern man sah den Menschen ganzheitlich. Erst durch die Aufklärung entwickelte sich eine andere Sichtweise. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden psychisch Kranke immerhin nicht mehr als "vom Teufel besessen", als "Abweichler" oder irgendwie "moralisch Dekadente" gesehen, sondern als Kranke. Hinzu kamen dann die ersten Befunde der Neurologie: Die Effekte von Hirnhautentzündungen, Verletzungen, Traumata oder Blutungen wurden zunehmend erkannt, und es gab den wichtigen Satz von Griesinger: "Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten". Damit war formuliert, daß körperliche Prozesse an vielen seelischen Symptombildungen beteiligt sind.

Charcot an der Salpetrière beschäftigte sich mit einer besonderen Gruppe von problematischen Patientinnen und Patienten. Man wußte, daß es zwei Arten von Anfallskranken gab: Es gab einmal die Anfallskranken, denen es nach jedem Anfall schlechter ging; diese wurden immer dementer, immer abgebauter, sie mußten schließlich einen Kopfschutz tragen, mußten gepflegt werden und starben schließlich. Und dann gab es eine andere Gruppe von Anfallskranken, die auch epileptische Anfälle bekamen - denen es hinterher aber besser oder zumindest nicht schlechter ging; diese waren nach dem Anfall wieder klar, für sie schien so ein Anfall etwas zu sein, wodurch sich etwas löste. Es waren überwiegend Frauen, die dieser Gruppe angehörten.

Eine der ersten Hypothesen über die Entstehung dieser Anfälle war, daß es sich dabei um Krampfanfälle des "Hyster", des Uterus, handeln könne; denn es waren ja fast nur Frauen. Also sprach man von Hystero-Epilepsie. Diese Hypothese hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Charcot stellte nun fest, daß es möglich war, die beobachteten Symptome durch Hypnose hervorzurufen und durch Hypnose auch günstig zu beeinflussen, also verschwinden zu lassen. Damit war deutlich geworden und bewiesen, daß es seelische Symptome gibt, die durch seelische Ursachen herbeigeführt werden und mit seelischen Mitteln behandelt werden können. Diese Auffassung bildete ein Gegengewicht zu Griesingers Sicht- und Denkweise. Beide Positionen stehen sich seit 1850/ 1860 gegenüber und nähern sich jetzt in der Gegenwart allmählich wieder an - die Position der Somatogenese und die der Psychogenese.

Charcot selbst galt neben einem anderen wichtigen Forscher, nämlich Oppenheim, als jemand, der die Hysterie als posttraumatische Belastungsstörung sah. Einer der wichtigsten Schüler von Charcot, Gilles de la Tourette, ein Neurologe, der das Tourette-Syndrom mit erforscht hat, sagte, Charcot sei ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß hysterische Symptome sehr oft durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen worden seien. Zwei weitere wichtige Charcot-Schüler haben diesen Gedanken aufgegriffen und fortgesetzt: Einer war Janet, der die psychologische Abteilung an der Salpetrière leitete und im Grunde genommen all das schon beschrieben hat, was heute unter den Stichworten "Dissoziative Störungen, Dissoziation, Aufspaltung des Bewußtseins, posttraumatische Belastungsstörung" diskutiert wird. Janet hat immer die Position vertreten, schwere seelische Störungen wie diejenigen, um die es in meinem Vortrag geht, seien posttraumatische Zustände und hätten oft etwas zu tun mit Kindesmißhandlung, Kindesmißbrauch oder anderen schweren Traumata. Er lief mit dieser Auffassung allerdings ins Leere. Erst vor 10/15 Jahren wurde Janet von der Gruppe um Van der Hart, Van der Kolk und Judith Herman wiederentdeckt.

Jemand anderer aber hospitierte auch in der Salpetrière, nämlich Sigmund Freud, der im Anschluß an seinen Pariser Aufenthalt in Wien mit Breuer zusammenarbeitete. Breuer hatte einige Patientinnen, die er nicht gut behandeln konnte und mit denen er nicht richtig zurecht kam. Breuer und Freud haben zunächst versucht, die Charcot’sche Hypnose bei schwer zu behandelnden psychogenen Störungen anzuwenden. Dabei machten sie nun eine ganz interessante Wandlung durch. Bissige Zungen behaupten, die Psychoanalyse sei weder von Sigmund Freud noch von Breuer entwickelt worden, sondern von Anna O., einer 20jährigen Patientin mit all den Symptomen, die man heute bei Borderline Persönlichkeitsstörungen oder auch bei Multipler Persönlichkeitsstörung findet. Abends sprach Anna O., z.B. nur englisch, manchmal zerriß sie die Bettwäsche, warf mit Sachen um sich, dann wieder war sie ein liebes kleines Mädchen und setzte sich Breuer auf den Schoß, was diesen in Eheschwierigkeiten brachte.

Mit Anna O. kamen die beiden mit der Hypnose nicht so richtig weiter. Lorenzer hat das sehr differenziert beschrieben, wie die Anfänge der Psychoanalyse damals abgelaufen sind. Irgendwann kam Anna O. dann auf eine Idee, übertragen gesprochen: "Lieber Herr Breuer, am besten bekommt es mir, wenn sie vorbeikommen, sich hinsetzen, mir einfach zuhören, möglichst wenig sagen, und ich kann mir mal alles von der Seele reden." Sie nannte das "chimney sweeping", also den Schornstein freikehren, und sprach von "talking cure" - abends sprach sie ja nur englisch. Diese "talking cure" bekam ihr tatsächlich, und Breuer und Freud kamen auf die Idee, daß Hypnose mit Reden eventuell wirksamer ist als Hypnose ohne Reden.

Freud entwickelte dann in einem Zwischenschritt ein Verfahren, bei dem er seine Patienten in Hypnose versetzte und sie aufforderte, dabei alles auszusprechen, über alles zu reden, was ihnen zu dem Symptom in den Sinn kam. Heute würde man das vielleicht Focussing nennen oder Traumaexposition. Und was er dabei zu hören bekam, versetzte ihn in Erstaunen bzw. auch wiederum nicht zu sehr, weil er bei Charcot und auch bei Janet ja schon ähnliches gehört hatte: Nämlich daß am Grunde jeder hysterischen Symptombildung eine Erfahrung vorzeitiger sexueller Erregung in Kindheit und Jugend liegt! Hier taucht zum ersten Mal die Verführungstheorie auf. 18 Fälle publizierte Freud 1896, die Reaktion darauf ist bekannt: Krafft-Ebing sprach von einem wissenschaftlichen Märchen, Freuds Vortrag wurde weder zitiert noch diskutiert; er mußte feststellen, daß er keine Überweisungen mehr bekam, daß er ausgegrenzt wurde und daß man mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte.

Ein Jahr später hat Freud dann das formuliert, was heute oft als Widerrufsbrief bezeichnet wird: er habe sich wohl doch geirrt, es gäbe auch viel Phantasien. Danach durchzieht sein Werk ein Pendeln: Es gibt immer wieder Textpassagen, die man als Beleg dafür zitieren könnte, daß Freud immer an das Trauma geglaubt hat; es gibt aber immer wieder auch Textpassagen, mit denen man belegen könnte, Freud habe die Verführungstheorie damals begraben, die Psychoanalyse entwickelt und sei der Auffassung gewesen, nicht das Trauma sei wichtig, sondern die ubiquitären Phantasien, die der menschlichen Entwicklung zu Grunde lägen: die Kindheitsentwicklung und das, was in der Seelenschaft zum Trauma gemacht werde.

In der Zeit nach ihm, bei seinen Schülerinnen und Schülern, war das Trauma ein Tabu. Es galt ganz klar, daß das Trauma kein relevantes Ereignis sei, Traumatisierungen spielten keine Rolle. Mit dieser Position stand die Psychoanalyse nun nicht sonderlich alleine da, in Frankreich z.B. wurde die Diskussion um den sexuellen Kindesmißbrauch um die Jahrhundertwende eigentlich abgeschlossen. Es gab viele Gegenstimmen gegen diejenigen, die sagten, daß Kindesmißbrauch weit verbreitet sei und daß man gerichtlich einschreiten müsse. Es gab viele, die meinten, das seien alles Phantastereien; insbesondere als dann auch geachtete Männer angezeigt wurden und nicht nur Leute aus Randgruppen, hieß es schnell, das seien alles Spinnereien. Die Frauen, die solche "Phantasien" von sich gaben, kamen in die Psychiatrie als seelisch Verwirrte, und das Thema war damit begraben. Letztlich kann man sagen: Zwischen 1895 und etwa 1980 spielte dieses Thema in der Wissenschaft keine Rolle. Sexueller Mißbrauch und Kindesmißbrauch waren kein Thema, Kindesmißhandlung sowieso nicht, die Grenzen zwischen dem Erziehungs- und Züchtigungsrecht und Mißhandlungen sind ja auch heute noch sehr fließend. Es ist ja auch gar nicht einfach, in diesem Bereich präzise Kategorien zu definieren.

Eine zweite Denktradition ist wesentlich, die sehr vielen, die im Psychotherapiebereich arbeiten, überhaupt nicht gegenwärtig ist. Es geht dabei um Unfälle, Haftpflicht und Krieg. Als die erste Eisenbahn in Großbritannien fuhr, gab es am ersten Tag auch schon den ersten Eisenbahnunfall. Mit der Industrialisierung häuften sich die Unfälle in den Bereichen des Verkehrswesens und der Fabriken, und es entstand so allmählich der Haftpflichtgedanke. Es entstand der Gedanke: wenn so etwas durch eine Eisenbahn verursacht worden ist, dann muß die Eisenbahngesellschaft auch dafür bezahlen. Es gab eine ganze Reihe von Leuten, die nach so einem Eisenbahnunglück oder auch nach einem anderen Verkehrsunfall oder wenn sie sich in der Fabrik mit irgendwelchen Maschinen verletzt hatten dann sagten, dieser Vorfall habe ihnen geschadet: Sie könnten nicht mehr schlafen, müßten immer an den Vorfall denken, sie fingen an zu zittern, könnten sich nicht mehr konzentrieren und seien durcheinander. Sie sagten, das liege an dem Unfall.

Die ersten Hypothesen bezüglich dieser Ereignisse waren somatische Hypothesen. Erichsen formulierte die Überlegung, daß die Erschütterungen z.B. bei einem Eisenbahnunfall zu Irritationen in der Wirbelsäule und im Rückenmark führten, und diese "Eisenbahnwirbelsäule" sei dafür verantwortlich, daß es später zu Zittern, Konzentrationsstörungen und schnellem Herzschlag komme. Der ganze Prozeß habe also eine organische Genese. Diese Hypothese hat bis heute ihre Wertigkeit. Bei sehr vielen Halswirbelsäulenschleudertraumata ist die Irritation der Wirbelsäule etwas, was immer wieder mit diskutiert wird. Es ist also nicht so, daß der Aspekt der Somatogenese heute vom Tisch sei.

Es gab aber auch eine Gegengruppe, die sagten, das ist nicht etwas Organisches, was da abläuft, sondern das Wesentliche sei der Schreck und der Schock, und es sei auch nicht eine Sache der Wirbelsäule, sondern überwiegend des Gehirns, und deshalb sei es besser, vom "railway brain" zu sprechen, vom "Eisenbahngehirn". Für diese Tradition war Oppenheim wichtig, der als erster formuliert hatte, daß es eine traumatische Neurose oder eine traumatogene Neurose gebe. Er sagte 1889: "Aus den körperlichen Veränderungen heraus entwickeln sich seelische Symptome"; diese seien zwar seelischer Natur, aber er sah eine körperliche Verursachung im Hintergrund. Gar nicht so unmodern, wie ich später noch ausführen werde.

Es gab natürlich sehr frühzeitig noch eine dritte Gruppe, die meinte, das seien alles verkommene Subjekte und Simulanten, Versicherungsbetrüger und Spinner, die anders nicht zu Geld kommen würden und die sich nach einem Eisenbahnunfall oder weil ihnen irgendwie in der Fabrik eine Maschine eine Verletzung zugefügt habe, sagen: "Da will ich doch mal die Versicherungsgesellschaften ausschlachten oder ich will eine Rente haben oder ich will einfach nicht mehr arbeiten müssen".

Diese drei Hypothesen: Somatogenese, Psychogenese, Simulation und Versicherungsbetrug durchziehen die gesamte Diskussion bis in die Gegenwart und werden sich wahrscheinlich erst auflösen lassen, wenn man tatsächlich mit den Gehirnuntersuchungen und mit den Untersuchungen der posttraumatischen Belastungsstörungen, die gegenwärtig im Gange sind, weitergekommen ist. 1871 wurden in Deutschland die ersten Gesetze zur Haftpflicht erlassen, es gab Begutachtungen und Gutachterstreits.

Schließlich führte ein bestimmtes Ereignis noch zu einer Akzentuierung dieser Abläufe, ein Ereignis, das zu einer, man möchte fast sagen: geschichtlich fast einmaligen, Gruppe von Symptomen führte, nämlich der erste Weltkrieg. Im ersten Weltkrieg, ziemlich genau ab 1916, entstand plötzlich eine Symptomatik, die vorher und nachher so in Kriegszeiten nur sehr, sehr selten beobachtet worden ist. Das waren die Kriegszitterer. Das waren Soldaten, die plötzlich ein unstillbares Zittern bekamen, das nicht abzustellen war. Wurden sie aus der Frontlinie herausgenommen, beruhigten sie sich allmählich wieder. Sie wurden im Lazarett behandelt, und sobald sie wieder an die Front sollten, kam das Zittern wieder. Selbstverständlich war wiederum die erste Hypothese, das sei somatogen, das sei körperlich bedingt, das sei der Granatenschock; durch die Granatenexplosionen kommt es in den Schützengräben zu heftigen Erschütterungen, und diese Druckwellen sollten im Wirbelsäulenbereich Irritationen auslösen, die wiederum verantwortlich seien für dieses Kriegszittern.

Selbstverständlich bildeten eine zweite große Gruppe diejenigen, die sagten, das seien feige Gesellen und Vaterlandsverräter, die sich nur drücken wollten; die wollten nicht kämpfen, sondern sich nur der Situation entziehen. Es entwickelte sich eine militärpsychiatrische Tradition, die darin bestand, daß man sagte: die psychiatrische Behandlung eines Soldaten muß belastender sein als der Fronteinsatz. Das ist durchaus auch erfolgreich in allen Nationen durchgeführt worden, da nahmen sich Amerikaner, Engländer, Franzosen, Deutsche und Österreicher nicht viel. Mit Kaltwasserbehandlungen, mit Elektroschocks und Aversionstherapie wurde versucht, die Soldaten dazu zu motivieren, wieder in den Einsatz zurückzugehen, durchaus mit Erfolg. Die Soldaten flüchteten im Grunde genommen irgendwann einmal aus dem Lazarett, bekamen aber sehr schnell wieder dieses Kriegszittern und waren dann doch nicht mehr einsatzfähig. Heute weiß man ziemlich sicher, daß eine bestimmte Art der Kriegsführung dieses Symptom hervorgerufen hat, eine Kriegsführung, die vorher und nachher nur sehr selten war, nämlich der Schützengrabenkrieg. Die Soldaten waren völlig hilflos in ihren Schützengräben eingegraben, und es war eine absolut statistische Willkür, ob sie überlebten oder nicht. Es hat in Frankreich während des ersten Weltkrieges auf den Schlachtfeldern Tage gegeben, da gab es fünfzig-, sechzig-, siebzigtausend Tote an einem Tag in allen kriegführenden Nationen. Man erforscht zur Zeit, welche Effekte diese Massentraumatisierungen möglicherweise auf die Geschichte der Nachkriegszeit, auf die Zeit 1920/1930 und die Katastrophe des 2. Weltkrieges hatten.

Ja, es ist eine potentiell lebensgefährliche Situation. Es gab einige wenige Personen in Großbritannien, den USA, die versuchten, bei diesen Soldaten, die aus dem 1. Weltkrieg wiederkamen, eine "talking-cure" zu machen, eine Redekur nach Sigmund Freud. Kardinger war ein Jahr bei Freud gewesen und hat selbst in seiner Autobiographie berichtet, daß es ihm als Kind nicht gut gegangen ist, daß er viel geschlagen wurde, daß er verschiedene Traumata erlebt hat. Er konnte sich in posttraumatische Zustände einfühlen und versuchte eine Redekur mit den Soldaten, sagte aber ganz offen, daß sie ihnen nicht geholfen habe. Was die Soldaten trotzdem gut fanden, war, daß ihnen überhaupt jemand geglaubt hat und ihnen zugehört hat und sie nicht gleich als Simulanten oder Versicherungsbetrüger abgestempelt hat. Nach dem 1. Weltkrieg gab es in allen Nationen eine ganze Reihe von Soldaten, die Versicherungsansprüche stellten; das wurde zum volkswirtschaftlichen Problem. Mitten in der Weltwirtschaftskrise hatte man kein Geld auch noch dafür übrig, und es gab sehr bald Gesetze, die besagten, daß es für diese Probleme nichts gebe. In Deutschland gab es einen Beschluß des Reichsversicherungsamtes, der wirklich perfide ist, und der besagte: Sofern jemand von seinem Unfall etwas hat, ist es zwangsläufig so, daß das der Grund für seine persistierenden Symptome ist. Das bedeutet: sobald jemand eine Rente beantragt, hat er einen sekundären Krankheitsgewinn, der die Ursache stabilisiert und verstärkt, und das spricht dagegen, daß er bezugsberechtigt ist. Das ist ein hervorragender, geradezu klassischer Double bind, aus dem es ja kein Entrinnen gibt: In dem Moment, in dem Menschen mit solchen Symptomen einen Rentenantrag stellen, sind sie Rentenneurotiker und haben deshalb keinen Rentenanspruch.

Im zweiten Weltkrieg versuchten die Amerikaner und Briten einen anderen Umgang mit ihren Soldaten als im ersten. Sie hatten aus der posttraumatischen Belastungsstörung gelernt, machten Militärpsychiatrie und, wie einige von Ihnen vielleicht wissen, auch Gruppentherapie. Therapeutische Gemeinschaften entstanden, man versuchte eine bestimmte Gruppenkohäsion herzustellen, weil man festgestellt hatte, daß das beste Mittel gegen posttraumatische Belastungszustände eine gute Gruppenkohäsion ist. Das ist das, was am ehesten verhindert, daß Soldaten schwere PTSD, also posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, und das hatte man auch erforscht.

Nach dem zweiten Weltkrieg war insbesondere die Bundesrepublik Deutschland mit einer geschichtlichen Tatsache konfrontiert, die nicht aufarbeitbar ist, und die die Geschichte Deutschlands verändert hat und weiterhin verändern wird: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Auf Druck der Alliierten verabschiedete der Bundestag 1956 das Entschädigungsgesetz, das beinhaltete, daß jemand, der durch nationalsozialistische Verfolgung und Konzentrationslager Gesundheitsschäden davongetragen hat, einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hat, auf eine EU-Rente. Der Gesetzestext war so formuliert, daß, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, daß es da Zusammenhänge gibt, daß dann eine solche Rente gewährt werden muß. Dies mußte begutachtet werden, selbstverständlich viel über die Ordnungsämter, und traf auf die wissenschaftliche Lehrmeinung in der Psychiatrie - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, ja sogar in Israel -, daß akute Belastungsreaktionen zwar zu posttraumatischen Zuständen führen können, daß diese aber nur ein ¼ bis ½ Jahr andauern und sich dann wieder geben. Hat jemand mehr als ½ Jahr nach einer Traumatisierung Störungen, dann müsse er vorher schon konstitutionell belastet gewesen sein, neurotisch beispielsweise; und wenn die Symptome mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum ursprünglichen Ereignis auftauchen, dazwischen also 5 oder 10 Jahre liegen, dann konnten sie mit dem eigentlichen Trauma nichts mehr zu tun haben, sondern seien auf andere Faktoren zurückzuführen. Ein Wiener Psychiater formulierte: "Die Belastbarkeit der menschlichen Seele liegt im Unendlichen", ein gesunder Mensch verkraftet also alles.

Nun darf man nicht vergessen, daß bei einem umschriebenen Trauma - nehmen wir die Entführung der "Landshut" nach Mogadischu - ziemlich uniform folgendes zu beobachten ist: Etwa ¼ der Leute hat keine über eine Woche hinausgehenden Symptome und Störungen; etwa die Hälfte hat Störungen, die etwa ein halbes Jahr andauern, also eine akute posttraumatische Belastungsstörung; etwa ¼ behält schwere chronische posttraumatische Belastungsstörungen. Das bedeutet: Ein und dasselbe Ereignis hat eine gewisse Bandbreite an Folgen. Insofern gibt es für die alte Hypothese, entscheidend sei die innerseelische Verarbeitung und nicht das Trauma, durchaus auch Argumente. Es bedurfte dann aber der Arbeiten von Venzlaff - Ulrich Venzlaff ist mein psychiatrischer Lehrer - und anderer, die besagten, daß es auch Extremtraumatisierungen gibt. Unter denen bricht fast jeder zusammen.

Diese Gruppe bekam Unterstützung aus einer ganz anderen Ecke: der amerikanische Militärpsychiater Lifton arbeitete in Japan und Korea mit Kriegsgefangenen, mit Leuten, die in japanische Kriegsgefangenschaft geraten waren oder die bei den Chinesen eine Gehirnwäsche erlebt hatten. Dieser Psychiater interessierte sich 1955 für die Frage: "Wie hat sich eigentlich der Abwurf der Atombomben ausgewirkt?". Er stellte bei den Überlebenden von Hiroschima und Nagasaki fest, daß diese ein psychopathologisches Syndrom hatten, das demjenigen der Überlebenden von Konzentrationslagern sehr ähnlich war.

Als diese beiden Gruppierungen dann Ende der 50er Jahre zusammenkamen und sich austauschten, wurde klar, daß es Extremtraumatisierungen gibt, unter denen fast jeder Mensch schwere seelische Symptome entwickelt, denen also die wenigsten gewachsen sind. Damit war im Grunde genommen der erste Schritt getan, um das Trauma als solches zu etablieren.

Krystal, hat einmal gesagt, daß wir uns mit Extremtraumatisierungen beschäftigen, daß aber eigentlich die meiste alltägliche Gewalt innerhalb der Familie geschieht. Diese Äußerung zeigte wiederum zunächst keine Wirkung. Es bedurfte eines erneuten Ereignisses, um das auszulösen, was jetzt aktuell ist, nämlich daß überall über Trauma und posttraumatische Störung diskutiert und geforscht wird. Dieses Ereignis war der Vietnam-Krieg.

Nach dem Vietnam-Krieg hatten bis zu einer Million Veteranen in den USA mit posttraumatischen Störungen zu tun, und die erste Argumentation war wiederum: "Die waren vorher alle schon irgendwie gestört; das sind verkappte Pazifisten oder Hippies oder Leute, die Drogen genommen haben, das hat mit dem Krieg nichts zu tun." Die Veteranen ließen sich das aber nicht mehr bieten, insbesondere die Angehörigengruppen wehrten sich und hielten dagegen: "Nach dem ersten Jahr ist unser Sohn zurückgekommen, mit schönen Auszeichnungen und Artikeln im Kreisblatt, er stand im Mittelpunkt - und nach zwei Jahren war er ein menschliches Wrack, hat um sich geschossen, hat seine Frau verprügelt und seine Kinder, er konnte nicht mehr arbeiten, hat getrunken und war völlig neben der Spur. Der war im ersten Jahr gesund, und daß er sich nach dem zweiten Jahr so entwickelte, das zeigt, daß er schon vorher irgendwie gestört gewesen ist? Das geht so nicht!" Damit begann im Grunde genommen die Erforschung der posttraumatischen Belastungsstörung auf breiterer Basis.

Ebenfalls in den 70er/80er Jahren gab es eine zweite Bewegung, die Frauenhäuser und die feministische Forschung, die die Diskussion um strukturelle Gewalt gegen Frauen in Gang brachten. Deren Annahme lautete, daß Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Gewalt in der Familie Schäden hervorrufen. Begriffe wie Battered-Child-Syndrom oder Broken-Home-Situation entstanden. Die an dieser Diskussion beteiligten Frauen trafen sich auf ersten Konferenzen, es wurde die posttraumatische Belastungsstörung formuliert. 1978 erschien ein sehr einflußreiches Buch von Charles Figley, danach war der Begriff der Traumatisierung klar formuliert, auch in seinen psychodynamischen Verarbeitungen klar, und es wurde deutlich, daß die Verarbeitung von Traumata relativ uniform abläuft.

Anfang der 90er Jahre erschien ein dickes "Handbuch der posttraumatischen Syndrome", in dem verschiedene Syndrome zusammengetragen wurden: Zustand nach Konzentrationslager, Zustand nach Kriegsgefangenschaft bei den Japanern, Zustand nach Kriegsgefangenschaft bei den Deutschen, Zustand nach Erdbeben, Zustand nach Verschüttung, Zustand nach Geiselhaft, Zustand nach Flugzeugabsturz usw. usf. In annähernd 100 Kapiteln wurden die verschiedensten Traumatisierungen zusammengestellt, und dabei wurde deutlich, daß es ein bestimmtes Schema der Traumaverarbeitung gibt, das fast biologisch abläuft.

Normale und pathologische Traumaverarbeitung

Was Sie hier (auf der Folie, die Red.) sehen ist die sog. "Horowitzkaskade". Das wichtigste Wort steht hier oben links, das ist das Wort: "normal". Man hat sich nämlich in der Beschäftigung mit dem Thema der Traumatisierung auch gefragt: "Wie wird ein traumatisches Ereignis denn normalerweise verarbeitet? Gibt es so etwas wie eine Normalität im Ablauf der Verarbeitung?" Ich will ein ganz alltägliches Beispiel nehmen: Heute Abend gehen Sie nach Hause, noch so in Gedanken und dösen so vor sich hin und überqueren den Zebrastreifen, Sie sind im Recht und werden angefahren. Ein Auto bremst, Reifen quietschen, und Sie liegen auf der Straße. Was passiert dann? Die erste Reaktion könnte sein, daß Sie "Arschloch!" schreien. Wenn Sie gut erzogen sind, unterdrücken Sie das - so etwas sagt man nicht! - und Sie haben damit im Grunde genommen schon den ersten Teil getan, um keine normale Reaktion zu haben. Wenn Sie irgendwo in Italien oder Griechenland aufgewachsen sind, dann dürfen Sie das schreien, hier in Deutschland ist das nicht so gut. Nach diesem Vorfall kann es sein, daß Sie schlagartig hellwach sind. In sehr vielen Fällen kommt in so einer Situation nämlich plötzlich ein Zustand, den man als Hypervigilanz, als "besonders wach sein", bezeichnet. Sie sind ganz konzentriert, spüren nichts mehr, Ihnen tut auch nichts weh und Sie erleben einen leichten, fast hypomanischen Rauschzustand. Angeblich - ich persönlich stamme wie gesagt aus dem westfälisch-niedersächsischen Flachland - kann man auch beim Bergsteigen in solche Zustände rein kommen.

Dieser Zustand ist bedingt durch einen Noradrenalinstoß, der dazu führt, daß Sie plötzlich hellwach sind. Noradrenalin ist nun wichtig zum Lernen. Tiere lernen nur unter Streß, d. h.: Wenn Sie einem Tier etwas beibringen wollen, in einem Tierexperiment z.B., dann müssen Sie es unter leichten Streß setzen. Nur dann wird Noradrenalin ausgeschüttet, und nur dann kann das Tier etwas lernen und sich etwas merken. Ohne Streß lernt ein Tier gar nichts. Das kennen wir Menschen auch, so ein bißchen Lampenfieber vor einem Vortrag oder etwas Angst vor der Prüfung oder leichter Streß vor irgendeiner Anforderung ist gar nicht so schlecht. Dann sind die Leistungen besser. Das liegt daran, daß dann in uns ein gewisser Noradrenalinspiegel besteht, und mit Noradrenalinspiegel merken wir uns Sachen besser.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich das Lernen und das Gedächtnis insgesamt genauer anzusehen. Niemand von Ihnen lernt heute so, daß innerlich ein Tonband mitläuft oder ein Video, d.h.: Sie werden sich hinterher nicht präzise, nicht einmal bei der Mittagspause, an einzelne Sätze oder an präzise Formulierungen erinnern können, vielleicht an ein, zwei Bemerkungen. Aber ansonsten nehmen Sie mehr so eine Art "Eintopf", einen "Informationseintopf" mit und verarbeiten den weiter.

Das wäre jetzt völlig anders, wenn hier oben etwas herrunterfallen und mich erschlagen würde. Wenn das geschähe, dann hätten Sie Schwierigkeiten, dieses Ereignis für den Rest Ihres Lebens wieder zu vergessen. Das wäre etwas, das sich plötzlich eingebrannt hätte, daran würden Sie sich erinnern wie an ein Dia oder wie an einen Kurzfilm, an eine kurze Sequenz, vielleicht auch an den Aufschrei, all das wäre in Ihrem Gehirn abgespeichert. Es sieht so aus, als ob zuviel Noradrenalin in so einer Situation zuviel des Guten ist, so daß das Gehirn zuviel lernt, zuviel behält, in einer Form sich Sachen merkt, die unphysiologisch ist, nämlich in Form von Dias oder in Form von kurzen Bildstreifen.

Das entspricht nicht dem normalen Lernen. Das normale Lernen - das können Sie bei Manfred Spitzer ("Geist im Netz") lesen - ist immer sofort Verarbeitung. Sie lernen nie unverarbeitet sondern Sie fangen sofort mit der Verarbeitung an. Zurück zum Zebrastreifen: Sie haben die Situation im Griff: Sie sind ruhig, stehen auf, beruhigen den Autofahrer, der ein schlechtes Gewissen hat, Sie rufen die Polizei an, der Krankenwagen kommt, die "Sanis", die kennen das schon, die fragen dann: "Wer hat denn hier den Unfall gehabt? Ach Sie, ja mhm. Na, ist ja gut, daß wir jetzt da sind, dann setzen Sie sich mal hin". "Nein, nein", sagen Sie dann, "mir geht’s bestens und kümmern Sie sich mal um den Autofahrer, dem geht’s ja viel schlimmer, der ist ja mitten im Schock". Die "Sanis" sagen dann: "Ja, das machen wir auch, aber legen Sie sich erst mal ruhig hin". Die Sanitäter wissen ja, daß das sofort in einen Schockzustand übergehen kann.

Aber wenn Sie das alles überstanden haben - wenn Sie die Notaufnahme überstanden haben, den diensthabenden Arzt überzeugt haben, daß Sie nicht eine Nacht bleiben müssen, die Polizei hinter sich gebracht haben - und wenn Sie dieser Zustand nach Hause begleitet hat, dann kann es sein, daß Sie sich hinsetzen, tief Luft holen und sich sagen: "Na, das ist ja noch mal gut gegangen". Sie schenken sich ein Bier oder einen Wein ein, legen sich eine CD auf, legen die Beine hoch - und plötzlich fangen Sie an zu zittern: Sie kriegen einen Zitteranfall, das Herz fängt an zu rasen, sie bekommen Schweißausbrüche, Sie werden plötzlich ganz unruhig; und es kann sein, daß Sie plötzlich wieder mitten in der Situation sind, mitten drin und zwar schlimmer als auf dem Zebrastreifen selbst.

Dieser Zustand, der als Intrusion oder Flash back bezeichnet wird, ist es offenkundig, der die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen so schwierig macht. Wenn so etwas passiert, daß sich aufgrund des Überadrenalinzustandes etwas einbrennt, etwas richtig im Gehirn festsetzt, dann ist die Verarbeitung dieser Erfahrung nicht so einfach wie die Verarbeitung dieses Vortrags in dieser Sporthalle: Vielleicht träumen Sie heute Nacht noch davon, daß eine Basketballmannschaft spielt und der Schiedsrichter einen Vortrag hält oder so etwas Komisches. Sie bringen dabei all diese unterschiedlichen Informationen durcheinander und müssen erst mal verträumen, daß ein Vortrag auf einem Basketballfeld stattfindet; aber das ist nicht das Problem, davon werden wir nicht wach. Wenn mir hier - wie gesagt - der Himmel auf den Kopf fallen würde, dann wäre das anders, dann würden Sie vielleicht heute Abend so eine Intrusion oder so einen Flash back bekommen. Oder aber, wenn Sie sich schlafen legen, die Augen zumachen, dann steht Ihnen die Szene wieder vor Augen, Sie können nicht einschlafen, oder aber, Sie träumen das nachts und werden davon wach. Es läuft so ab, wie es abgelaufen ist und zwar als Video, unverarbeitet. Wenn sich diese Intrusion festsetzt, wenn sie nicht verarbeitet werden kann, dann kann das bis zum Zustand der Hypermnesie gehen, der nicht mehr loszuwerdenden Erinnerung. Das entspricht dem, was Menschen, die in Konzentrationslagern gewesen sind, oft beklagt haben, daß sie diese Gedanken und Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Hypermnesie heißt Übererinnerung,- Amnesie heißt, daß man kein Gedächtnis hat, und Hypermnesie würde bedeuten, daß man zuviel erinnert.

Die Intrusionen sind nun also das Problem. Sie können uns abends Angst machen, wir trinken dann etwas mehr, gehen zum Hausarzt, der verschreibt uns Valium oder ein Schlafmittel oder er sagt: "Machen Sie mal Urlaub." "Nein, nein," sagen Sie, " ich gehe besser gleich wieder zur Arbeit, da bin ich wenigstens abgelenkt." Diese Flashbacks und Intrusionen sind in vielen Filmen ganz gut verarbeitet. Da kann man sich das ganz gut bildlich vor Augen führen. Überhaupt spielt ja Trauma und Traumaverarbeitung nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Kino eine gewisse Rolle, von "Titanic" über "Speed I" und "Speed II", "Vulcano", "Deep Impact", "Armaggeddon": immer geht es um Katastrophen und um Traumatisierungen. Dabei sind die verschiedenen Zustände, die mit Traumata zu tun haben, immer personifiziert: Dieser Zustand der Hypervigilanz und Emotionslosigkeit, das ist im allgemeinen der Held, das ist Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger. Dann gibt es die Emotionsbestimmten wie etwa Sandra Bullock, meistens Frauen, die schreien und die Orientierung verlieren und die dann den Menschen mit Hypervigilanz brauchen, der die Übersicht behält. Weiterhin gibt es die Stuporösen, die depressiv sind und in der Ecke sitzen, die brauchen dann auch diesen Menschen, der abgeschaltet ist. Das ist ein ganz interessantes Szenarienprinzip.

Flashbacks können Sie gut sehen in dem Film "Mercury Puzzle" mit Bruce Willis - Sie merken schon, den sehe ich ganz gerne -: Bruce Willis hat als Polizist versucht, einen jugendlichen Straftäter zu retten, der aber neben ihm erschossen worden ist. Er kommt abends nach einem anstrengenden Tag nach Hause, wie es offenkundig immer so bei ihm ist im Film, er schaltet ab und dann kommt wieder die ganze Szene. Und diese Szene ist etwas farblich verändert, so ein bißchen schwarz-weiß-bunt, und sie läuft zeitlupenähnlich ab, langsam, gedehnt, zeitlich in einer anderen Welt, man hört seinen Herzschlag. Er ist in dieser Szene wieder drin, er sitzt auf dem Sofa und reibt sich die Hände, er hat einen Schweißausbruch und macht dann etwas, was viele Menschen tun, die unter einem solchen Symptom leiden: Er steht auf, knallt die Tür zu, macht einen Zug durch die Gemeinde und knallt sich den Kopf voll. Alkohol ist ein gutes Medikament gegen Flash backs und Intrusionen. Ein anderer Film, in dem Flash backs und Intrusionen verfilmt worden sind, ist beispielsweise "Angeklagt" mit Judie Foster, die ebenfalls unter intrusiven Zuständen leidet.

Mit diesen Intrusionen muß man nun also fertig werden, man muß sie irgendwie verarbeiten. Die normale Verarbeitung besteht darin, daß man sie erst mal verträumt - und das ist mir ganz wichtig. Leute, die traumazentriert arbeiten, haben einen bestimmten Glauben, der auch einige neurophysiologische Unterstützung erfährt. Sie glauben, daß das menschliche Gehirn, wenn es funktioniert und gesund ist und seine Arbeit machen kann, nachts im Traum Sachen erledigt und abarbeitet. Sie glauben daran, daß der Traum so etwas ist wie eine Informationsschnellkompostieranlage. Ich habe das vorhin schon als Beispiel gebracht: Sie träumen, daß eine Basketballmannschaft Basketball spielt, und der Schiedsrichter hält einen Vortrag. In diesem Traum wären widersprüchliche Informationen durcheinandergeworfen und verarbeitet. Eigentlich sind wir nachts zwei- bis dreimal psychotisch: wir hören Stimmen, wir sehen Bilder, sind delirant, das Gehirn spielt verrückt. Morgens werden wir wach, unser Frontalhirn hat sich alle Mühe gegeben, daraus einen sinnvollen Traum zu machen - man nennt das sekundäre Traumarbeit, Freud hat diese Prozesse sehr gut geschildert und dargestellt. Die einzelnen Abläufe sind verarbeitet und irgendwie eingebaut worden.

Genau das aber fällt mit traumatischen Erfahrungen schwer. Die laufen wieder und wieder ab und sind schlecht zu verträumen - das ist das Problem. Wenn es gut geht, dann gibt es erst ein Video, wir werden wach, dann gibt es noch mal ein Video, wir werden wach, und dann wird das Video allmählich zum Alptraum. Dieser Alptraum ist schon die erste Verarbeitung, und nach und nach verträumen wir die Sache.

Es gibt aber auch die Situation, daß wir das Ganze in den Dialog bringen, daß wir darüber reden. Unsere Umwelt reagiert auf eine traumatische Erfahrung polar: Die eine Gruppe sagt: "Darüber mußt Du reden, das muß raus! Komm, erzähl doch mal, Du hast es zwar schon fünfmal erzählt, aber wir sind ja gut befreundet, erzähl es noch mal! Wie war das denn auf dem Zebrastreifen? Erzähl noch mal. Es geht Dir ja immer im Kopf rum, das geht ja nicht."

Innerseelisch schwanken Menschen nach einer traumatischen Erfahrung zwischen zwei Zuständen: Da ist einmal der Zustand der Intrusion und zum andern der Zustand der Konstriktion. Das ist ein bißchen etwas anderes als die Hypervigilanz, aber was auch dazu gehört, ist der Zustand des Abgeschaltetseins: Die Gefühle sind wie betäubt, man ist irgendwie in einem dumpfen Zustand, nichts erreicht einen mehr so recht, ob nun Herbst oder Sommer ist, es ist ziemlich egal, das Essen schmeckt immer gleich schlecht, über Witze kann man nicht so recht lachen, man ist so etwas in Watte. Es ist ein subdepressiver Zustand, es tut einem irgendwie körperlich auch alles weh. Es ist ein Zustand von Abgeschaltetsein.

In diesem Pendeln zwischen Konstriktion, Intrusion, darüber reden, sich ablenken und davon träumen wird eine solche Erfahrung in einem Vierteljahr langsam verarbeitet. Daß eine solche Verarbeitung aber auch länger dauern kann, wissen wir, wenn wir uns klar machen, daß das Trauerjahr etwas Sinnvolles ist. Letztlich ist die Traumaverarbeitung nichts anderes als ein Trauerprozeß, der ganz ähnlich abläuft mit intrusiven und mit depressiv-konstriktiven Zuständen, und er dauert bis zu einem Jahr. Das wußten die Menschen, und deshalb war dieses Jahr früher der Trauer gewidmet. Heute müssen wir ja nach einem Trauerfall drei Tage später wieder voll arbeitsfähig sein; das ist nicht dem menschlichen Wesen angemessen. Wir tun uns auch sicherlich damit Gewalt an.

Das also ist die normale Verarbeitung eines Monotraumas, eines Typ-I-Traumas, wobei schon diese Verarbeitung Schwierigkeiten bereiten kann. Es kann sein, daß jemand es nicht schafft, seine Erfahrung irgendwie zu verarbeiten: er kann nicht darüber reden, man glaubt ihm nicht, er hat keine Gesprächspartner, er kann sich nicht so richtig ablenken, er ist nicht in der Lage, seine Träume auszuhalten, er betrinkt sich häufig oder nimmt viele Medikamente. Wenn die Intrusionen nicht verarbeitet werden, dann können sie getriggert werden, d.h.: Sie können angestoßen werden. Dann kann jemand so verrückte Verhaltensweisen entwickeln wie gerade bei einem Zebrastreifen nicht über die Straße zu gehen, oder Umwege zu machen, um keine Zebrastreifen zu sehen. Oder er entwickelt irgendwelche Zwangsrituale: erst muß viermal nach rechts und links geguckt werden, bevor er über den Zebrastreifen gehen kann.

Nicht hinter jeder Phobie, nicht hinter jedem Zwangsritual, nicht hinter jedem depressiven Zustand, nicht hinter jeder Sucht steht ein schweres Trauma. Es ist aber hilfreich, dies als eine Möglichkeit mit zu bedenken, als etwas, was neben der Entwicklungspathologie und neben der Konfliktpathologie als Traumaätiologie in Frage kommen kann, insbesondere dann, wenn die Symptome sich nicht so gut auf die Kindheit beziehen lassen, wenn das eigentlich nicht so richtig stimmt. In solchen Fällen war es oft so, daß wir gesagt haben - ich selbst bin ja auch Psychoanalytiker -: "Da muß doch was sein. Ja also, der verleugnet seine Kindheit, der sagt, die Kindheit war ganz schön, katastophal war die Pubertät oder der Militärdienst oder so irgendetwas. Das geht doch nicht, das ist doch eine frühe Störung, eine schwere, recht frühe Störung." Dieses Vorgehen ist sicher falsch. Gerade dann, wenn die Anamnese und die Kindheitsgeschichte nicht so richtig passen zur Schwere der Symptomatik, dann sollte man sich auch mal fragen: "Hat es vielleicht zwischenzeitlich einige gravierende Traumata gegeben? Hat es irgendwelche Erfahrungen in der Pubertät gegeben?"

Ich habe Frauen behandelt, die hatten eigentlich eine recht stabile Kindheit und Jugend, haben dann aber aus Trotz, aus Auflehnung einen Partner gewählt - nach dem Motto: "Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer wieder gewarnt haben." - einen Partner, der den Eltern nun wirklich nicht gefiel und paßte, und die mit diesem Partner zwei scheußliche Jahre erlebt haben. Diese Frauen waren auch sehr durcheinander, haben sich selbst verletzt und geschnitten. Es ist nicht alles "frühe Kindheit".

Besonders schwierig wird es dann, wenn es sich nicht um ein unvorhergesehenes, unvorhersehbares Monotrauma handelt, sondern wenn Sie in einer Lebenssituation sind, in der Sie damit rechnen müssen, traumatisiert zu werden: Wenn Sie z.B. in einem Gefängnis sind, in dem Sie gefoltert werden, wenn Sie in Isolationshaft sind, wenn Sie in einer Familie sind, wo Sie damit rechnen müssen, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen traumatisiert zu werden - und sich darauf schon einstellen können. An dieser Stelle komme ich wieder zurück zu der Sache mit den Schützengräben. Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen, daß Hilflosigkeit biologisch im Tierreich nicht so richtig vorkommt. Wenn ein Tier in Lebensgefahr kommt und weder die Möglichkeit zum Kampf noch zur Flucht hat, kann es sein, daß das Tier stirbt. Jäger berichten von folgendem: freies Feld, irgendein Kaninchen flüchtet, ein Raubvogel greift an, der Jäger schießt in die Luft, den Vogel schiessen darf er ja nicht mehr unter den Naturschutzbedingungen, der Vogel dreht ab, der Jäger geht über’s Feld und das Kaninchen ist tot, obwohl der Raubvogel das Kaninchen gar nicht erreicht hat.

Das kann man natürlich auch im Tierexperiment machen: Man setzt ein Kaninchen unter eine Glasglocke, läßt einen Vogel angreifen, und in einem statistisch gar nicht so seltenen Ausmaß ist es nicht nur so, daß das Kaninchen sich tot stellt ( Totstellreflex als erster Selbstschutzschalter), sondern tatsächlich tot ist. Das bedeutet: Lebensgefahr ist lebensgefährlich. Innerseelisch scheint es Mechanismen zu geben - wohl überwiegend über eine massive Kalziumausschüttung -, die dazu führen, daß Tiere in Situationen, in denen sie damit rechnen müssen, getötet zu werden, sich selbst töten - ein sinnvoller Schutz gegen den Schmerz beim gefressen oder getötet werden.

Wir sind Säugetiere, und unsere Streßphysiologie ist ebenfalls darauf ausgerichtet, zu kämpfen oder zu flüchten. Ich komme später noch auf die Streßphysiologie und die hirnphysiologischen Veränderungen zu sprechen. Jetzt erst mal zum seelischen Ablauf: Wichtig ist mir das Zwischenergebnis: Völlige Hilflosigkeit in einer Situation der Lebensgefahr ist für Säugetiere potentiell lebensgefährlich. Das ist wesentlich, im Hinterkopf zu behalten.

Der Inescapable-Schock ist etwas, was nicht gut ist. Wir Menschen haben nun eine Möglichkeit, die auf der einen Seite unser Segen ist, auf der anderen Seite unser Fluch. Tierforscher sagen, der Mensch hält einfach zu viel aus. Was Menschen Menschen schon angetan haben, das hätte keine Tierpopulation, keine Tierrasse überlebt. Diese Tiere gäbe es einfach nicht mehr. Wir Menschen halten zu viel aus, wir ertragen zu viel! Und zwar deshalb, weil bei uns die kognitiven Strukturen, das Frontalhirn, einen sehr großen Einfluß haben.

Mit diesen kognitiven Strukturen können wir umschalten. Wir können die Realität verändern. Wir können sagen: "Ich bin gar nicht da, ich schalte ab". Wir können induziert depersonalisieren, können sagen: "Ich steige aus meinem Körper aus, ich stehe daneben, ich nehme das gar nicht wahr, was mit meinem Körper geschieht." Und wir können induziert derealisieren: Dann sind wir in einer anderen Welt. Gefangene in einer engen Zelle erschaffen sich eine riesige Phantasiewelt, in der sie ihren Raum verlassen können. Diese Möglichkeiten haben wir.

Diese Möglichkeit ist nun eine Überlebensstrategie bei schwerer Traumatisierung. Viele, die mißhandelt und mißbraucht worden sind, berichten: "Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben gesehen. Ich bin neben mir gestanden, ich war ganz woanders. "Es gibt ein sehr beeindruckendes literarisches Beispiel für kindliche Dissoziativität, nämlich "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln". Der Autor Lewis Carol ist bekannt als pädophiler Autor, der möglicherweise Erfahrungen und Szenen von Kindern (auch sich selbst?), die in bestimmten Situationen dissoziiert haben, literarisch verarbeitet hat. Auf der einen Seite sind "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" literarische Kunstwerke, auf der anderen Seite ist das keine normale kindliche Phantasietätigkeit mehr; da ist so viel Morbides, Kaputtes, Krankes enthalten, das ist eine Flucht. "Alice hinter den Spiegeln" beginnt ja auch so, daß das Mädchen hinter den Spiegel gehen kann. Das ist eine Dissoziation, ein induzierter Derealisationszustand, in dem sich Alice dann in einer ganz anderen Welt aufhält - und das wird schon seinen Grund gehabt haben. Solche Prozesse ermöglichen uns das Überleben oft schwerer Traumatisierungen.

Man hat festgestellt, daß es umso wahrscheinlicher ist, daß wir eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung bekommen, je besser wir in der traumatischen Situation dissoziieren. Das ist das Dilemma: Je besser akut die Dissoziation klappt, umso schwerer fällt die Verarbeitung. Was nämlich jetzt im Gehirn gespeichert ist als - wie ich gerne sage - "Erinnerungsabszeß" und was nicht verarbeitet werden kann, ist nicht die traumatische Erfahrung, sondern ein Konglomerat aus Fetzen des Traumas, der traumatischen Situation und der Dissoziation, eine Mischung aus Depersonalisation, Derealisation und Fetzen der traumatischen Erfahrung.

Das wird dann evtl. getriggert, durch Gewitter, durch knarrende Bohlen, durch plötzliche Dunkelheit, durch einen Knall oder sonst etwas, und das bedeutet, daß dann die Zustände nicht klassische Intrusionen sind, sondern eine Mischung aus Trauma und Verarbeitung. Es stellt sich ein Zustand ein, der gekennzeichnet ist durch Depersonalisation und Wirklichkeitsverlust, die Wahrnehmung verändert sich, alles kommt durcheinander und die Leute brechen ein, ticken aus, rasten weg, sind im falschen Film, haben einen Erregungszustand und können sich nicht mehr orientieren. Dieser Zustand des Kontrollverlustes ist ausgesprochen beunruhigend und ängstigend.

Ich stelle mir das so vor - und die Patientinnen haben mir das bestätigt -, als wenn ich in einem fremden Raum übernachte: es ist ganz dunkel - ich sorge inzwischen dafür, daß das nicht mehr der Fall ist -; dann passiert es oft, daß ich Alpträume habe, ich werde wach, es ist dunkel, und ich muß erst mal suchen, bis ich die Nachtischlampe finde, und bis dahin läuft der Traum weiter; und ich bin aber schon wach, und das ist ein übler Zwischenzustand, in dem ich schon wach bin und der Alptraum noch weiterläuft. Dann mache ich das Licht an, und dann ist es wieder gut: "Aha, hier bin ich, wie komme ich denn hier hin, ach so, ja . . .", und dann komme ich langsam wieder in die Realität zurück und der Alptraum ist zu Ende.

Jetzt stellen Sie sich einfach vor, der Alptraum hört nicht auf, sondern läuft weiter; dann haben Sie meines Erachtens den Zustand einer Patientin, die getriggert ist, bei der dissoziative Zustände da sind und die in zwei Wirklichkeiten gleichzeitig ist. Das ist ein scheußlicher Zustand - ich werde gleich noch erläutern, warum Sie mit Worten dabei so wenig erreichen können -, und dieser Zustand läßt sich gut beenden, nämlich durch einen Hautschnitt. Ich wüßte gerne, warum. Aber das beste Antidissoziativum ist eine Selbstverletzung der Haut. Innerhalb von 15 bis 30 Sekunden, manchmal dauert es auch eine Minute, ist der Kopf wieder klar, die Affekte sind geordnet, die Sprache steht wieder zur Verfügung, der Druck ist raus, die Leute haben sich abgeregt, sie sind wieder in der Gegenwart und die ganze Sache ist vorbei. Manchmal muß tiefer geschnitten werden, aber es wirkt. Und es wirkt nichts anderes. Wir haben bisher kein Medikament, was sicher antidissoziativ wirkt. Wir haben kein Antidissoziativum.

Mich interessiert, welche biochemischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Endorphinausschüttung kann es nicht unbedingt sein, weil der Körper im Zustand der Depersonalisation schon in einem Überendorphinzustand ist. Depersonalisation ist verbunden mit einer körperlichen Endorphinvergiftung, das kann es also nicht sein. Es muß irgendeine Mischung aus peripheren und zentralen Prozessen sein, die dadurch in Gang gesetzt werden und die nach 15 bis 30 Sekunden zur Wirkung kommen, eine Selbstmedikation. Das macht den Umgang mit der Symptomatik nicht so ganz einfach; denn man kann nicht so leicht darauf verzichten, und das führt jede Klinik immer wieder in die neue Diskussion: Konzentrieren wir uns auf das Symptom oder schieben wir es beiseite? Es gibt verschiedene Strategien, darauf kann ich im Rahmen der Therapiediskussion noch zu sprechen kommen.

Vor der nächsten Diskussionsrunde ist mir wichtig, daß wir uns klar machen, daß es inzwischen eine Reihe von Befunden gibt, die die Diskussion um eingebildetete Kranke oder darum, daß die sich ja nur anstellen, relativieren.

Zunächst ist die Frage wichtig: Was ist die normale Streßphysiologie? Rufen wir uns das nochmal ins Gedächtnis: Normalerweise kommt ein Impuls ins Gehirn, und gerät ziemlich bald zum Mandelkern, der Amygdala. Der Mandelkern ist der "Rauchmelder des Gehirns". Das ist sozusagen die Alarmglocke, wodurch die Streßachse anspringt. Diese Streßachse führt dazu, daß Noradrenalin ausgeschüttet wird, wir sind in einem Übererregungszustand, in einem Hyper-Arousal-Zustand, und zwar bevor wir überhaupt bewußt registriert haben, was los ist. Es dauert nämlich 5 bis 7 Zwischenneurone, bis das Frontalhirn gemerkt hat, was Sache ist. Das wäre viel zu langsam, das muß viel schneller gehen. Unser Körper schaltet also schon auf Hyper-Arousal, auf Übererregung, bevor wir bewußt mitbekommen haben, was Sache ist.

Wiederum heute Abend gehen Sie nach Hause und plötzlich fällt ein Schuß; dann sind Sie in Aufregung und zittern und sind in einer Situation, in der Sie kämpfen könnten, bevor Sie registriert haben, daß das vielleicht ein Mofa ist mit einer Fehlzündung, so daß Sie sich also wieder abregen können. Es war nur eine Fehlzündung, also nichts Schlimmes, oder es war ein Schuß in weiter Ferne, der auch nicht schlimm ist. Es braucht aber etwas Zeit, bis das klar wird.

Was passiert nun aber bei traumatisierten Menschen? Wenn man traumatisierte Menschen triggert, indem man ihnen einen spezifischen Reiz gibt, ihnen z. B. ihre Traumatisierungsgeschichte vorliest, und dann beobachtet, wie das Gehirn arbeitet, dann gibt es einen interessanten Unterschied:

Bei gesunden, nicht traumatisierten Menschen läuft folgendes ab: Amygdala, Hippocampus. Der Hippocampus ist eine Art Ordnungssystem, in dem wird eingeteilt. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Forscher steht einem Säbelzahntiger gegenüber, beide benutzen ihren Hippocampus und teilen das Gesehene ein. Der Forscher ist am Nachdenken: "Das ist doch so eine Art Löwe oder sollte man eher sagen: Tiger. Eigentlich ist dieses Exemplar doch ausgestorben, wieso steht es mir denn dann gegenüber?" Das ist der Hippocampus. Der Säbelzahntiger benutzt auch seinen Hippocampus: "Wow, das Mittagessen". Beide benutzten ihren Hippocampus, um das Gesehene einzuteilen. Dann geht die Information weiter zum Frontalhirn, und dort schaltet sich beim Menschen dann die Broccaregion ein - beim Säbelzahntiger wahrscheinlich nicht -, dort kommt die Sprache dazu, und dann denken wir nach: Aha, dieser Knall ist von einem Mofa, von einem Auto, von irgendeinem Jäger oder ein Fenster ist zugeknallt oder jemand hat seine Tasche fallen lassen und dann denken wir über die Situation nach.

Was passiert nun, wenn man einen traumatisierten Menschen triggert? Die rechte Amygdala ist sehr aktiv, die linke nicht; die linke Amygdala leitet normalerweise weiter zum Frontalhirn, zur linken Hirnhälfte und zum Sprachzentrum. Beim Traumatisierten haben Frontalhirn und Sprachzentrum also Sendepause, weil die linke Amygdala inaktiv ist. Das bedeutet: Sie haben das klinische Bild in der Gehirnarbeit abgebildet, das da lautet: hochgradig aufgeregt, Hyperarousel-Zustand. Sie stehen der traumatisierten Patientin/dem traumatisierten Patienten gegenüber und sagen zu ihr/ihm: "Nun sagen Sie doch, was Sache ist, Sie können es doch sagen, sagen Sie doch, was los ist!" Und der Patient steht da und findet keine Worte, er ringt nach Worten.

Es ist klinisch lange bekannt, daß im Zustand des Hyperarousel eine hirnphysiologische Situation gegeben ist, in der das Sprachzentrum und das Frontalhirn nicht arbeiten. Am nächsten Tag sagt Ihnen dann die Patientin/der Patient: "Ja, wenn ich erstmal darüber reden kann, dann geht’s auch schon wieder." Aber in der Situation selbst können Sie verbal nichts erreichen - und das ist auch ganz wichtig zu wissen -, weil beim getriggerten Patienten die entsprechenden Hirnareale praktisch gelähmt sind. Wenn man die PatientInnen mit Traumaexposition behandelt hat und dann wieder triggert, dann springt das Frontalhirn und das Sprachzentrum an.

Gleichzeitig ist es so, daß es diesen Leuten sehr schwer fällt, sich abzuregen. Um uns abzuregen, brauchen wir Cortison. Nun könnte man denken, diese Leute haben einen ständig erhöhten Cortisonspiegel. Das aber ist nicht der Fall, sie haben einen reduzierten Cortisonspiegel, wobei unklar ist, wieso. Das sind alles Befunde, die hauptsächlich bei Vietnam-Veteranen, aber auch bei Frauen mit chronischer Traumatisierung erhoben wurden.

Außerdem haben diese Menschen einen verkleinerten linken Hippocampus. Der linke Hippocampus ist nicht so aktiv, und er ist kleiner geworden als der rechte. Dafür gibt es organische Befunde sowohl bei Vietnam-Veteranen als auch bei Frauen nach schweren Vergewaltigungen. Das bedeutet, daß wir es mit einer Streßpsychosomatose zu tun haben, einer funktionellen Gehirnpsychosomatose. Die alten Gedanken von Oppenheim und Kardiner, daß es sich um eine Physioneurose, eine seelische Störung mit körperlicher Beteiligung handelt, bewahrheiten sich, worauf im Rahmen der Therapie Rücksicht genommen werden muß.

Wir können diese Menschen nicht wie Neurotiker behandeln. Die Therapiestrategien, die wir für Neurotiker mit einer überstarken neurotischen Abwehr entwickelt haben, sind nach meiner Überzeugung für Menschen mit einer dissoziativen Störung, mit einer zu schwachen Abwehr ungeeignet. Das ist aus der Arbeit mit Borderlinestörungen auch seit langem bekannt, aber da kann man durchaus noch ein, zwei Schritte weitergehen.

Soviel zur normalen und pathologischen Traumaverarbeitung, zur Streßphysiologie, zur Problematik der veränderten Informationsverarbeitung. Haben Sie dazu Fragen?

Einige Anmerkungen also zum Zustand des Inescapable-Schock, der absoluten Hilflosigkeit, der bei Menschen oft assoziiert ist mit Suizidalität. Ich habe subjektiv das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu sein, also will ich mir das Leben nehmen. Welche akuten Interventionsmöglichkeiten gibt es, wenn man mit solchen Menschen zu tun hat?

Als erster Schritt, zur Suizidalität wieder Abstand zu bekommen - eine sog. Metaebene herzustellen - hat sich bewährt zu versuchen, die Suizidalität umzudeuten. Ich lasse mir erst mal die Suizidalität durch den Patienten erläutern, frage z.B. nach, worin die Aussichtslosigkeit besteht und so fort, und sage dem Patienten dann, daß ich denke, daß seine Suizidalität ein Signal der Seele ist, das er sehr ernst nehmen sollte. "Es ist ein Signal, daß Sie dieses Leben beenden sollten. Ich halte es allerdings für ein Mißverständnis, wenn Sie glauben, das geht nur dadurch, daß Sie Ihren Körper töten. Ich halte es für etwas, was geschehen sollte, auch geschehen muß, wobei wir gucken müssen, wie es gehen kann, aber eigentlich ist es ein Veränderungsimpuls. Sie sagen ja ganz richtig: so wie die Situation ist, ist sie ausweglos. Sie fühlen sich wie so ein Hamster im Rad oder wie jemand in einer Zwickmühle, und aus ihrer Seele kommt: "Dieses Leben muß aufhören". Das ist gesund, das ist richtig. Der Schritt aber: "Ich sollte mich töten", den halte ich für ein Mißverständnis, da müßten wir daran arbeiten, ob es nicht möglich ist, die Situation anderweitig zu beeinflussen." Dieses Vorgehen entstammt der Tradition der Hypnotherapie: Damit nehme ich erst mal die Suizidalität als solche ernst und sage dem Patienten, daß seine Situation, so wie er sie schildert, aussichtslos ist, ich rede das nicht weg. Dann müssen weitere Therapiestrategien angewandt werden. Wichtig an Ihrer Frage ist mir Ihr Hinweis, daß dieses Gefühl des unentrinnbaren Schocks oft mit Suizidalität verbunden ist.

Zur Frage nach der akuten posttraumatischen Situation: Ich bin vor kurzem bei einer Tagung gewesen, auf der verschiedene Reaktionsmöglichkeiten bei Notarzteinsätzen miteinander verglichen wurden. Eine Notarztgruppe ist so vorgegangen, daß sie versucht hat, so schnell wie möglich Analgesie, also Schmerzfreiheit herzustellen, unter Einsatz auch von Opiaten; oder man hat versucht hat, mit höheren Dosen an Benzodiazepinen zu arbeiten. Dabei hat sich ergeben, daß anschließend die Entwicklung von posttraumatischen Zuständen nach Verkehrsunfällen deutlich niedriger war. Das bedeutet, daß es in der akuten Situation gut ist, das medizinisch Mögliche zu tun, um diese Situation zu unterbrechen.

Das ist etwas, was ich inzwischen bei uns auf der Station mache, nach dem Motto "Ganz oder gar nicht". Ich habe keine Schwierigkeiten damit, einer Patientin 4 mg Rohypnol und 240 mg Truxal zu geben, was im Suchtbereich sicherlich etwas schwerer fallen würde. Wenn der Zustand so ist, daß jemand die Wände hochgeht und nicht mehr rauskommt, dann muß das unterbrochen werden. Kann man den Hintergrund nicht aufarbeiten, dann ist man ständig am Nachfüttern mit hoher Medikation, das ist sicher schlecht. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Aber ich vertrete die Position, daß ich ein unterdosiertes Medikament auch weglassen kann. Da hätte ich nur die Nebenwirkungen, aber nicht die Hauptwirkung. Entweder ich erreiche eine Wirkung oder nicht. Es ist aber schwer, bei echten posttraumatischen Zuständen medikamentös wirksam zu sein. Im allgemeinen müssen Sie an die Obergrenze dessen gehen, was Sie sonst geben; denn es ist auch ein medizinischer Befund, daß die Medikamente in solchen Situationen nicht so richtig wirken. Die Erfahrung ist: wenn es gelingt, die posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln, dann geht die Medikation nach unten. Wir haben oft Leute, die mit hoher Medikation zu uns kommen und dann zum Schluß noch so 15 mg Atosil bei Bedarf haben.

Es geht um die Frage: Wenn man verbal nicht hilfreich sein kann, aber auch Berührung als bedrohlich erlebt wird, was soll man denn dann machen? Welche Möglichkeiten hat man da? Ich nehme das als Stichwort für die Frage der therapeutischen Vorgehensweise. Dabei muß man zwischen den Notfallreaktionen und den allgemeinen Therapiestrategien unterscheiden. Ich will die Notfallreaktionen, also die Kriseninterventionsmöglichkeiten in meine Überlegungen zur gesamttherapeutischen Vorgehensweise einbauen.

Anfang der 80er/90er Jahre gab es recht bald Forscher in den USA, die meinten: die schweren Persönlichkeitsstörungen in Psychiatrien, gerade die Borderline-Persönlichkeitsstörungen, das sind doch eigentlich alles chronifizierte posttraumatische Belastungsstörungen. Es hat sich inzwischen statistisch hochgradig erwiesen, daß bei den schweren Persönlichkeitsstörungen massive Traumatisierungen in 50 bis 80 % eine Rolle spielen. Das hängt nun sicher auch davon ab, wie man die Störungen definiert und welche Kriterien man anlegt, aber der Anteil ist jedenfalls sehr viel höher als die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung, die nach den neuesten Studien des Kriminologischen Instituts in Hannover bei den schweren Traumatisierungen bei 0,8 % in der Gesamtbevölkerung liegt. 0,7% bis 0,8% der Frauen sind in der Familie bis zum 16. Lebensjahr schwerer sexueller Gewalt ausgesetzt; bei den Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten und Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie schwerer Suchtentwicklung liegen die Zahlen irgendwo bei 80 bis 85%!

Es gibt einen langen Streit darüber, welche Rolle das nun spielt. Ist das nun die Ursache, oder gibt es eine prämorbide Persönlichkeit, bei der die Traumatisierungen stärker wirken? Dieser Streit ist noch im Gange, und den finde ich auch ausgesprochen spannend und interessant.

Was wir seit einigen Jahren versuchen, ist zu sagen: Wir tun mal so, als ob das Trauma das Wichtigste wäre. Wir stellen es therapeuisch in den Mittelpunkt. Es ist also sozusagen ein Experiment dahingehend zu sagen: Wir verändern das Gewicht. Wir sagen einfach: Die Traumatisierung ist das Wesentliche, die behandeln wir zuerst.

Welche Tradition gibt es in der Behandlung von Traumata? Seit Janet und seit den ersten Arbeiten zur Behandlung von Kriegsneurosen taucht immer wieder die Idee auf, das Trauma müsse noch einmal durchlebt und dabei abreagiert werden; danach sei es nicht mehr innerseelisch schädlich, dann kann jemand nicht mehr getriggert werden. Das hat zu ersten Versuchen geführt, die darin bestanden zu sagen: So schnell wie möglich, so heftig wie möglich, so intensiv wie möglich, alles raus, wiedererleben, wiedererleben, wiedererleben, durch! Das war der Katharsisgedanke, der Reinigungsgedanke. Das ist oft in Selbsthilfegruppen versucht worden, aber auch mit der Methode des Flooding, der Reizüberflutung, jedenfalls bei den Anfangsversuchen mit der Reizüberflutung, heute macht man das auch anders. Das hilft bei etwa der Hälfte, die andere Hälfte wird immer kränker.

Bald hat man angefangen zu sagen: Intrusionen und Flashbacks überfordern und überlasten den Betroffenen. Wenn wir also bewußt intrusive Zustände herstellen, wenn wir bewußt jemanden in die traumatische Situation hineinführen, wieso sollte das dann anders sein? Intrusionen und Flashbacks sind immer wieder Retraumatisierungen, man hat das Gefühl, man hat die Sache nicht unter Kontrolle, und bei dieser Art von Psychotherapie tun wir genau das Gleiche! Es muß also anders gehen. Daraus hat sich dann aus der Hypnotherapie eine Tradition entwickelt, hauptsächlich bei den Holländern, die darin besteht zu sagen: Wir müssen die Traumaexposition vorbereiten. Diese Vorbereitung besteht darin, daß gesagt wird: Die Copingstrategien der Patienten sind gut, etwas besseres fällt mir als Therapeut auch nicht ein als eben das, was der Patientin eingefallen ist (Ich spreche überwiegend von Patientinnen, weil wir in Göttingen auf der Station nur mit Frauen arbeiten.) Wir machen das, was die Patientin selbst entwickelt hat, wir trainieren sie aber, das noch besser zu machen.

Was macht die Patientin? Jede gute Borderline-Patientin spaltet in "nur gut" und "nur böse". Eine solche Aufspaltung der Welt in "nur gut" und "nur böse" ist das Beste, was nach einer Traumatisierung gemacht werden kann! Das spielt in allen Märchen eine Rolle: Die Mutter stirbt, die Stiefmutter kommt, und es gibt eine frühere nur gute und eine spätere nur schlechte Welt. Das ist in allen Mythen der Fall, da gibt es die nur Guten und die nur Bösen. Das schafft Ordnung in den Affekten, das ist etwas, was wir offenkundig nach schlimmen Lebenserfahrungen brauchen, eine nur gute und eine nur schlechte Welt. Das Dilemma, in dem wir gegenwärtig stecken, ist, daß wir glauben, die äußere Welt, die real existierenden Menschen könnten diesem Schema irgendwie entsprechen - und das ist nun etwas, was leider nicht stimmt. Menschen sind immer "teils-teils", widersprüchlich, gegensätzlich, haben ihre eigenen Interessen, sind nie "nur gut". Wenn wir dann sagen: "Dann sind sie eben nur schlecht", dann sind die Beziehungen zu Ende und man hat überhaupt keine leidlich guten zwischenmenschlichen Beziehungen mehr.

Das bedeutet: Die Therapiestrategie, die wir von den Holländern übernommen und etwas weiterentwickelt haben, beinhaltet: Entwickeln Sie eine Borderline-Struktur, aber bitte in sich und nicht in den zwischenmenschlichen Beziehungen! Das bedeutet: Wir legen keinen Wert darauf, daß diese Mechanismen in der therapeutischen Beziehung an uns abgehandelt werden, und wir legen schon gar keinen Wert darauf, daß sich in der therapeutischen Beziehung irgendetwas von dem Trauma reinszeniert. Ich möchte vielmehr, daß das innerseelisch abläuft. Mein Ziel ist es, daß das Gehirn seine Sachen wieder verträumen kann, und dabei unterstütze ich die Patientin.

Erster Schritt: Spaltung. Was hat die Patientin? Die Patientin hat schlechte Bilder, Intrusionen. Was braucht sie? Gute Bilder, ganz einfach, ganz platt, ganz vordergründig. Traumazentrierte Psychotherapie ist ausgesprochen simpel, ausgesprochen oberflächlich. Die Patientin braucht gute Bilder. Die Patientin sagt: "Solche Bilder kann ich mir nicht vorstellen". Das glaube ich dann erst mal wiederum nicht; daß sich jemand für 3 bis 5 Minuten nicht vorstellen kann, es sei schön, das nehme ich ihr nicht ab. Da halte ich dagegen und sage:" Es kann sein, daß das zunächst mal nur eine Minute geht oder 2 Minuten, aber daß Sie eine Vorstellung entwickeln können von "nur schön", das erwarte ich von Ihnen, das geht, das kann man auch. D. h. nicht, daß damit alles Schlechte weg ist, sondern es heißt: für 5 Minuten möchte ich, daß Sie Urlaub machen, Urlaub von der Gegenwart, von der Wirklichkeit - wie bei der progressiven Muskelrelaxation oder beim autogenen Training -, und in eine nur gute Welt gehen." In dieser nur guten Welt soll folgendes vorkommen, was in der Borderline-Struktur auch vorkommt: Es soll einen Ort geben, der nur gut und nur sicher ist. "An diesem Ort sind Sie ganz alleine, kein anderes menschliches Wesen ist da". Die Vorstellungswelt soll immer märchenhaft sein, immer unrealistisch, immer weg von menschlichen Vorstellungen. Es soll dort auch keinen guten Menschen aus der Vergangenheit geben. Wenn das z.B. Opa wäre, dann könnte bei einem Familientreffen jemand sagen: "Ach der Großvater in seiner Jugend, wenn Ihr wüßtet, wie der damals...", und schon ist eine nur gute Gestalt schlecht geworden. Das ist nicht sinnvoll. Die Vorstellungen sollen märchenhaft, mythisch sein. Es erscheint uns wichtig, daß diese Erwartungen nicht an reale Menschen gerichtet werden, wir werden dann immer enttäuscht. Also ein nur guter sicherer Ort, wo man sich alleine völlig sicher und geborgen fühlt. Wenn eine Patientin sagt: "Immer wenn ich an meinem sicheren Ort bin, fängt es an zu regnen.", dann sage ich: "Fühlen Sie sich damit wohl? Es kann ja sein, daß das ein schöner warmer Regen ist." " Nein", meint die Patientin, "es ist immer so kalt." "Gut", sage ich, "dann stellen Sie sich bitte vor, daß es nicht regnet." Es geht mir nicht um Material, es geht mir nicht darum, daß irgendwie etwas dynamisch verstanden wird. Ich frage mich also nicht: "Wie kann es denn sein, daß da immer Regen kommt?", sondern ich sage: "Bitte trainieren Sie sich in nur schönen Bildern!", nichts anderes.

Das zweite ist: Innere Helfer, d.h. Gestalten für Mut, für Stärke, für Weisheit. Das können Tiere sein, das können Feen sein, das können Zauberer sein, das können Heilige sein, das können Steine sein, wie auch immer, aber wiederum keine Menschen.

Und dann ein innerer Tresor, in den schlimme Erfahrungen und Bilder weggepackt und eingeschlossen werden können. Manchmal muß man das mehrfach täglich tun, es ist aktive innere Verdrängung, ein aktives Bei-Seite-packen, um nicht zu viel in Flashbacks und Intrusionen hineinzukommen.

Die Patientin sagt: "Schöne Bilder helfen mir nicht." Dann sage ich: "Sie haben mir gerade lang und breit erläutert, daß Sie irgendwelche schlimmen Bilder von Sachen, die 15 Jahre zurückliegen, völlig aus der Bahn werfen können, daß Sie dann die Symptome kriegen und es Ihnen schlecht geht. Schlechte Bilder wirken bei Ihnen, ich bin sicher, gute wirken auch. Außerdem gibt es einen ganzen Industriezweig, der fest davon überzeugt ist, daß gute Bilder wirken, das ist die Werbung; die geben Millionen dafür aus, daß Sie schöne Bilder vor Augen haben und dann Marlboro rauchen oder Camel-Schuhe tragen. Das bedeutet, gute Bilder sind wirksam. Davon bin ich überzeugt, und ich möchte, daß Sie sich darin trainieren, gute Welten aufzusuchen. Lernen Sie zu derealisieren, lernen Sie zu dissoziieren, trainieren Sie sich in den Fähigkeiten, die Sie sowieso schon haben!"

Für uns ist es inzwischen fast ein Differenzialdiagnostikum, ob jemand mit diesen Techniken gut umgehen kann oder nicht. Wenn ja, ist es meistens jemand, der/dem Dissoziativität vertraut ist, die/der wirklich eine dissoziative Störung hat. Wenn nein, ist es häufig kein postraumatischer Belastungszustand mit Dissoziativität, sondern Resultat einer Entwicklungspathologie mit neurotischen Mechanismen. Diese Patientengruppe sagt: "Das ist nichts für mich, das kann ich nicht, das will ich nicht, das hilft mir nicht, das ist nicht mein Weg!", und sie haben auch recht. Ich stelle Ihnen hier keine Therapiestrategie vor, die nun bei jedem und allen nützt, sondern die für eine Untergruppe schwerer Persönlichkeitsstörungen entwickelt worden ist. Da ist sie sehr wirksam, aber nicht bei jedem und allen.

Das gleiche gilt im Umgang mit Depersonalisation und Körperflashbacks. Hier sind körpertherapeutische Anwendungen gut, wobei sich für uns am meisten Qui Gong und Feldenkrais bewährt haben. Warum? Qui Gong bedeutet ähnlich wie Tai Chi achtsame Wahrnehmung des Körpers mit Atmung, Bewegung, Muskulatur, Haut, Erdung und so weiter, und es geht dabei nicht darum festzustellen, wie ich mich fühle, sondern es geht darum, daß ich mich darauf konzentriere, die Brokatübungen zu machen und dabei Luft zu holen und fest zu stehen. Niemand muß an Qui Gong glauben, das ist nicht erforderlich, es reicht völlig aus, wenn man die Übungen macht. Jeder Tag auf Station beginnt mit Qui Gong-Übungen, um ein Gegenkörpergefühl aufzubauen. Außerdem hat Qui Gong und Feldenkrais nichts zu tun mit Aerobic, mit Claudia Schiffer oder Cindy Crawford oder mit aggressiver Sexualität, es ist vielmehr eine relativ triggerarme bis triggerfreie Form der Körpertherapie. Feldenkrais hat ebenso wenig etwas zu tun mit Spüren, mit Fühlen, sondern es geht darum: "Warum halten Sie das linke Knie immer etwas anders als das rechte" und "Versuchen Sie doch mal, wie das ist, wenn die Füße so richtig platt auf dem Boden stehen" oder "Wenn Sie den Kopf nicht so halten, sondern vielleicht so, wie wirkt sich das denn auf die Wirbelsäule aus". Sehr funktionell also. Das wird von den Patientinnen oft gut angenommen; es sind beides Verfahren, die sich bei uns sehr gut bewährt haben. Ich weiß von anderen Kliniken, die mit KBT, also Konzentrativer Bewegungstherapie gute Erfahrungen gemacht haben, mit den Abgrenzübungen bitte, nicht mit den mobilisierenden! Es geht nicht darum zu mobilisieren, sondern es geht darum, eine nur gute Welt aufzubauen, die die Patientin vorübergehend aufsuchen kann, um sich selber aus dissoziativen Zuständen heraus zu bringen.

Das zweite, womit wir die Patientinnen unterstützen, um aus dissoziativen Zuständen heraus zu kommen, ist, daß wir mit den Patientinnen die Bildschirmrücklauftechnik eintrainieren. Wenn eine Patientin vor mir steht, den Kopf gegen die Wand schlägt und nicht sagen kann, was Sache ist, sondern ich den Eindruck habe, daß sie im falschen Film ist, dann würde ich versuchen, sie anzusprechen und zu sagen: "Ich habe den Eindruck, bei Ihnen läuft ein Film ab." Meistens kommt dann irgendein Signal, daß das stimmt. "Lassen Sie diesen Film bitte hier auf meiner Handfläche ablaufen, hier ist die Leinwand, schauen Sie! Kopf hoch, nicht nach unten schauen, hier ist die Leinwand, lassen Sie den Film ablaufen! Sie haben eine Fernbedienung in der Hand und Sie drücken auf die Stoptaste, jetzt! Der Film hält an, bitte Film anhalten, auf Standbild. Jetzt schauen Sie sich das Standbild erst mal an. Machen Sie das Bild größer, machen Sie es kleiner, verändern Sie das Bild! Sie können auf das Bild Einfluß nehmen. Nicht weiterlaufen lassen, nicht nach unten schauen, ja nicht dieser Tunnelblick, Kopf hoch! Und jetzt schalten Sie, wenn das Bild so ist, daß Sie es ertragen können, auf den Rückwärtslaufknopf und lassen den Film zurücklaufen und schauen dabei den Film ganz genau an. Drücken Sie auf Rückwärtslauf jetzt - und den Film zurücklaufen lassen, Kopf oben lassen, ganz genau hinschauen, der Film bekommt dabei so etwas Abgehacktes. Schauen Sie sich die Szene ganz genau an, lassen Sie sie zurücklaufen, weiter zurücklaufen, bis zum Anfang, ganz zurücklaufen, nicht irgendwo zwischendurch aufhören und noch weiter bis zum Anfang und abschalten - jetzt! Jetzt packen Sie dieses Video bitte in einen inneren Tresor beiseite" und dann kommt ein Ortswechsel, Lagewechsel, Themenwechsel: "Was meinen Sie, sollen wir nicht mal aus dem Zimmer rausgehen, ein bißchen an die frische Luft?", die klassische Intervention der Nachtschwester: "Wollen wir mal eine rauchen?" Also Ortswechsel, Themenwechsel, Lagewechsel, andere Umgebung! Nicht über den Inhalt sprechen, höchstens noch sagen: "Ich habe den Eindruck, da ist irgendetwas abgelaufen, worüber noch mal gesprochen werden sollte, aber nicht heute Nacht um 02.00 Uhr. Das wäre unfunktional und schlecht, das will auch vorbereitet sein, dem werden wir uns noch widmen. Bitte packen Sie das jetzt mal weg."

Die Schwestern bei uns haben eine Liste der Themen, auf die die Patienten ansprechen. Eine Patientin z.B. war Borussia-Dortmund-Fan. In der Zeit, in der sie bei uns in Behandlung war, wußten die Schwestern immer alle sehr gut über den aktuellen Tabellenstand, über die Form von Andi Möller, über den Einsatz von Möller in der Nationalmannschaft und so was Bescheid. Wenn man die Patientin aus der Dissoziation herausgeholt hatte und dann mit ihr über Borussia sprach, dann war die erst mal eine ¼ bis ½ Stunde beschäftigt. Dabei konnte man dann einen Tee trinken, eine Zigarette rauchen, konnte sich unterhalten, konnte dann fragen, wie ist es, "Wollen sie wieder auf Ihr Zimmer gehen, meinen Sie, Sie können jetzt noch mal versuchen zu schlafen, oder wollen Sie einfach sich ein Bett auf dem Flur machen, damit ich Sie so etwas im Blick habe?" "Ja, ich glaube, ich mache mir mal ein Flurbett, dann haben Sie mich mehr im Blick und dann ist das besser so."

Es gibt noch eine weitere Technik, wieder aus der Hypnotherapie, die man anwenden kann, wenn jemand sehr in seiner Welt drin ist: Man versucht erst mal mit Pacing und Leading die oft stereotype Bewegung der Patientin aufzunehmen. Ich knalle natürlich nicht mit dem Kopf gegen die Wand, das mache ich nicht, aber ich nehme oft die Bewegung auf. Das ist extrem irritierend, wenn ich dopple. Wenn ich mich dann "eingepacet" habe, praktisch eingeschwungen in diese stereotype Bewegung, dann verordne ich die Bewegung, indem ich sage: "Nein, bleiben Sie bitte bei Ihrer Bewegung, das ist sehr beruhigend, bleiben Sie dabei, das ist sehr gut. Menschen, die sich beruhigen wollen, schaukeln häufig so - und ganz bewußt schaukeln und dabei tief Luft holen! Ja, ich merke wie Sie ganz schnell und ganz tief atmen, und atmen Sie ganz bewußt ganz schnell und ganz tief!" Die Patientin atmet natürlich ganz schnell und ganz oberflächlich, aber ich sage: "Sie atmen ganz schnell und ganz tief und immer schneller und tiefer atmen", besonders tiefer atmen, das geht natürlich nicht. Und dann komme ich langsam in Beziehung und in Kontakt und hole sie raus.

Herausholen können wir mit diesen Dissoziationsstopptechniken diejenigen, die das wollen. Wenn eine Patientin damit einen Machtkampf macht, dann gewinnt die den immer, dann können Sie nur noch zusehen, daß sie nicht die anderen zu sehr triggert.

Auf der Station waren anfangs 11 Frauen, jetzt sind es 18 Frauen, die selbstverletzendes Verhalten zeigen, alle mit komplexen chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörungen, nicht alle mit Zustand nach Mißbrauch. Wir haben auch eine Patientin mit Kiefer-Gaumen-Spalte gehabt, die als Kind viele Schmerzen hatte, acht OPs mitmachte und dadurch ein ganz gestörtes Körperempfinden entwickelt hat. Die Gleichung "Selbstverletzung gleich Mißbrauch", diese Gleichung ist zu einfach; natürlich spielt Mißbrauch oft (ca.2/3) eine Rolle, aber immer muß diese Gleichung nicht stimmen.

Teil 1 der Behandlung ist eine jeweils 14tägige Stabilisierungsphase, in der diese Stabilisierungsübungen schon mal mitgegeben werden, und in der wir überprüfen, ob die Patientin überhaupt eine dissoziative Störung hat. Es gibt ja auch selbstverletzende Verhaltensweisen bei schweren Depressionen oder bei schwerer Entwicklungspathologie, und da ist das Vorgehen nicht gut. Das trifft etwa bei einem Viertel der Patientinnen zu, denen wir dann sagen, daß es keinen Zweck hat. Oder suchtmittelabhängigen Patientinnen sagen wir: "Wissen Sie, Ihre Suchtproblematik ist so sehr im Vordergrund, daß wir damit nicht gut arbeiten können."

Im norddeutschen Raum verweisen wir dann in eine Suchteinrichtung nur für Frauen bei uns in der Nähe, hier habe ich im Prospekt gelesen, daß es reine Frauengruppen gibt und das ist hilfreich. Warum nur Frauen? Einfach deshalb, weil dann ein Großteil der Trigger wegfällt: nämlich Männer. Als Oberarzt bin ich präsent, wir haben auch einen Pfleger, das ist von denen auch so akzeptiert, aber ansonsten ist das bei uns eine ziemlich männerfreie Zone, und das ist auch zu merken: Wenn ich durch die Station gehe, dann verändern viele Frauen spontan ihre Körperhaltung. Das merken die selber wahrscheinlich gar nicht. Wenn kein Mann da ist, dann verhalten sie sich anders.

Als männlicher Therapeut, wie es mir damit geht? Gut, die Auseinandersetzung mit den potentiellen Täterseiten, das hat Herr Biermann ja schon gesagt, ist etwas, was so in den letzten 4 bis 5 Jahren ziemlich wichtig war. Es ist auch so, daß es wenig Patientinnen gibt, die von mir in Einzeltherapie behandelt werden möchten, aber ein paar wenige gibt es. Die fühlen sich von dem Täter - zu 90 % sind Männer die Täter - paradoxerweise ja manchmal noch besser verstanden als von der sie nicht schützenden Mutterinstanz; darüber muß man reden, aber die wollen von einem Mann behandelt werden, und das ist dann auch möglich. Aber von den 18 Patientinnen bei uns behandle ich auch auf Grund meiner Funktion im allgemeinen höchstens zwei. Die anderen Patientinnen werden von Therapeutinnen behandelt.

Wenn die Patientinnen nach den 14 Tagen Diagnostik stabilisiert sind, gehen sie noch mal ein paar Wochen nach Hause, bis ein Therapieplatz frei wird, und dann kommen sie für vier Monate zur Traumaexposition.

Die Traumaexposition ist an sich technisch simpel, möchte ich fast sagen: Alle 14 Tage bis drei Wochen, manchmal jede Woche, findet eine Traumaexposition statt, aber mit einer bestimmten Technik. Diese Traumaexposition hat einmal zum Ziel, eine Synthese herzustellen; Wort, Bild, Affekt und Körpersensation sollen wieder gestaltähnlich ganzhaft erlebt werden. Zum andern soll die Dissoziation, die Aufspaltung, die im Trauma überlebensnotwendig war, aufgehoben werden, sie soll rückgängig gemacht werden und zwar so, daß die Patientin das aushält.

Es kommt nicht darauf an, daß möglichst viel passiert, möglichst viel Abreaktion, möglichst viel Ausrasten, möglichst viel Kontrollverlust geschieht, sondern, daß die Szene ablaufen kann mit begleitenden Gefühlen, mit begleitenden Körpersensationen und Bildern und zwar in einer Form, daß die Patientin das noch gerade eben aushalten kann. Das ist die Schwierigkeit. Die Schwierigkeit besteht darin, daß natürlich auf der einen Seite des Poles die Berichte stehen, die Sie auch alle kennen: Da kann jemand über alle Scheußlichkeiten seines Lebens völlig affektisoliert reden und erzählen, Ihnen wird immer mulmiger, weil Sie die dazukommenden Affekte irgendwie spüren, oder aber jemand ist so in seinen Affekten drin, daß er kein Wort mehr heraus bekommt. Die verschiedenen Traumaexpositionstechniken versuchen, diese Situation so herbei zu führen, daß es zu einer Synthese kommt.

Eine Methode, die aus der Hypnotherapie kommt, ist eine Technik, die so ähnlich ist wie die Rücklauftechnik, nämlich die Bildschirmtechnik: Da sitzt man zusammen vor einem imaginären Bildschirm, läßt die traumatische Szene ablaufen, sieht den Kinofilm und drückt auf Standbild: Betrachten und beschreiben und Abstand herstellen und fühlen und Gefühle zulassen und wieder auf Abstand gehen und mal abschalten und wieder einschalten und weiterlaufen lassen, ganz langsam. Manchmal wird richtig in Zeitlupentempo versucht, die traumatische Erfahrung bildlich darzustellen, die Gefühle zuzulassen, wieder ins Bild zu gehen und Assoziation, Antiszene und Dissoziation gesteuert einzusetzen, um das Ganze erlebbar zu machen. Das ist eine hochwirksame Technik, die Ihnen aber sehr nahe geht als TherapeutIn, und zwar deshalb, weil die ganzen Affekte dicht im Raum stehen. Das ist also sehr belastend, aber sehr wirksam.

Das ist die Technik, mit der überwiegend im Zentrum für Folteropfer in Berlin gearbeitet wird. Ein sehr Prominenter hat ganz offenkundig mit dieser Technik auch gearbeitet, nämlich Reemtsma; einige von Ihnen kennen vielleicht sein Buch "Im Keller". Reemtsma hat in Abgrenzung von und Annäherung an seine Erfahrung als Geisel offenkundig die Bildschirmtechnik mit angewendet, um sich das Ganze genau zu betrachten, aber trotzdem Abstand herzustellen. Er spricht von "dem da" im Keller und von sich selbst als jemand, der davor und danach war, um das traumatische Ereignis integrieren zu können, aber nicht das Trauma sein ganzes Leben verändern zu lassen; das ist ein Beispiel für Bildschirmtechnik.

Eine weitere Methode kommt aus der Verhaltenstherapie und stellt eine neue Art von Reizüberflutung dar. Dabei läßt man das Ereignis wieder und wieder ablaufen, bis man sich sozusagen habituiert hat, bis man sich daran gewöhnt hat. Auch das dosiert, auch das so, daß man nicht dekompensiert, daß man nicht ausrastet, daß man es gerade noch ertragen kann.

Es geht immer darum zu integrieren, die Zeit der Katharsis, des Loswerdens durch rauslassen, diese Zeit ist Geschichte. Es geht vielmehr darum, daß man seiner Geschichte gewachsen ist; man wird traumatische Erfahrungen nicht los. Traumaexposition ist dann erfolgreich gewesen, wenn aus einer Intrusion und einem Flash-back eine Erinnerung geworden ist. Dann hat diese Technik ihr Ziel erreicht, mehr ist damit nicht erreichbar. Es wird auch nachher bei den Therapieergebnissen deutlich, daß keine Psychotherapie erreichen kann, daß alles wieder in Ordnung ist. Vielmehr geht es nur darum, aus den Intrusionen und Flash-backs Erinnerungen zu machen, Erinnerungen, an die man sich gefühlshaft erinnern kann ohne auszurasten, ohne sich betrinken zu müssen, ohne irgendwelche Drogen nehmen zu müssen, über die man mit einem Therapeuten oder sehr nahen Angehörigen vertraulich sprechen kann, wo man vielleicht etwas weint, wo man dann tief Luft holt, auf den Balkon geht und sagt: "So, die Gegenwart geht weiter". Das ist das Ziel der Therapie.

Die dritte Technik ist so ziemlich das unseriöseste, was man sich vorstellen kann, das ist nämlich EMDR: Eye-Movement-Desensitization and Reprocessing (Augenbewegung - Desensibilisierung und Neuverarbeitung). Ich arbeite fast nur noch mit dieser Technik. Das ist eine Technik, die Francine Ende der 80er Jahre durch Zufall entdeckt hat. Shapiro schreibt selber, daß sie damals in Schwierigkeiten war. Sie hatte eine Krebskrankheit überlebt, hat sich in dieser Zeit mit Psychologie und Copingsstrategien und ähnlichem beschäftigt, ist Psychologin geworden, und eines Tages hatte sie irgendwie Beziehungsstreß oder Sorgen und ging durch den Park, setzte sich auf eine Bank und merkte plötzlich, daß es ihr besser ging. Der Kopf war freier, und sie fragte sich: "Wie kommt das denn?" Das ist nun eine der wesentlichsten Fragen überhaupt: "Warum geht es mir eigentlich gut?" Die meisten Menschen überlegen sich ja nur, warum es ihnen schlecht geht; und wenn es ihnen gut geht, denken sie nicht groß darüber nach, das ist sicher unfunktional. Die Frage: "Warum geht es mir eigentlich gut?" ist oft sehr viel hilfreicher als das ständige Grübeln, warum es mir nun schlecht geht und welche Ursachen in der Ehe meiner Großeltern dafür zuständig sind, daß ich heute das Wetter irgendwie nicht toll finde. Shapiro fragte sich also: "Warum geht es mir eigentlich gut?" und sie stellte dann fest, daß sie vorher die Augen schnell hin und her bewegt hatte. Das tat ihr gut, der Kopf wurde dadurch freier.

Was genau macht man? Man fordert die Patientin auf, erst mal das Bild herzustellen: Die Zebrastreifen, die genaue Situation: "Was war da besonders belastend für Sie?" "Ja eigentlich gar nicht, daß ich angefahren wurde, sondern daß das so lange dauerte, bis der Notarztwagen kam." "Aha, was sehen Sie da für ein Bild?" " Ja ich lieg’ da auf dem Boden und warte und warte und warte und der kommt nicht." "Gut, was gibt es in Ihrem Inneren, Verhaltenstherapeuten sagen: für negative Kognitionen, Psychoanalytiker: für Über-Ich-Anteile, was gibt es in Ihnen so an kritischen Stimmen oder an Stimmen, die Sie verurteilen? Manche denken, da bin ich ja selber schuld, oder ich bin doch ein Döspaddel oder geschieht mir recht oder der arme Autofahrer, jetzt bin ich der Anlaß gewesen, daß er sich Schuldgefühle macht. Bin ja selber schuld, hätte ja aufpassen können." Ich frage dann weiter: "Was für ein positiver Gedanke würde zu der Situation gehören, wenn Sie vernünftig darüber reden?" "Ja, das war sein Fehler, ich habe schon aufgepasst, der ist viel zu schnell gefahren und war wohl in Gedanken ganz woanders, und mit mir, das ist in Ordnung, also ich habe richtig gehandelt." In einem positiven Gedanken kommt kein "nicht" vor, das Gehirn denkt nicht "nicht"; das klassische Beispiel ist, wenn ich Sie bitte, in der Mittagspause nicht an einen lila Elefanten zu denken, denken Sie bitte nicht an einen lila Elefanten, denken Sie nicht an einen lila Elefanten, also das geht nicht. Deshalb müssen die Formulierungen so sein, daß sie kein "nicht" enthalten, sondern nur positive Kognition.

"Welcher Affekt ist dabei? Was fühlen Sie?" "Todesangst, Panik." "Wie stark ist dieses Gefühl? 10 wäre unerträglich, 0 wäre: macht mir nichts aus?" "Ja ist so bei 8 zur Zeit." "Wo spüren Sie den Affekt im Körper?" Es ist immer besonders wichtig, die Affekte mit den Körpersensationen zu verbinden. "Ja, das ist so ein Druck im Bauch und im Hals, das spür’ ich ganz gut." "Gehen Sie in die Situation hinein, stellen Sie sich das Bild vor, lassen Sie den Gedanken zu: Selber schuld! Spüren Sie die Todesangst und spüren Sie ihre Körpergefühle und schauen Sie auf meine Hand!" Dann bewege ich die Hand hin und her, und die PatientInnen bewegen die Augen hin und her, 24 mal, 25 mal, dann bekommt man auch so ein Gefühl dafür, wann der Blick anfängt zu flackern, wann es ruckelt, wann es hakt, wann es nicht mehr so flüssig geht und dann. "Gut, Augen zu, tief Luft holen, Bild zurücktreten lassen, wieder Augen aufmachen, was passiert?"

Dann laufen in der Patientin traumähnliche, schwer vorhersagbare Prozesse ab, mit denen ich nie gerechnet hätte. Nach mehreren Sets nach diesem Muster sind die Leute im allgemeinen bei etwas gelandet, was die Sache gut macht: "Also ich seh’ jetzt einfach nur noch mich als kleinen Jungen auf einem Dreirad immer die Straße auf und ab fahren und fühle mich ganz toll dabei." "Bleiben Sie dabei", das verstärke ich noch einmal mit Augenbewegungen, "und gehen Sie jetzt noch einmal zurück in die Szene, wie hat sich das verändert?" "Ja, irgendwie ist das Bild blasser geworden, die Todesangst ist nur noch beim Wert 5, die spür’ ich nicht mehr im Bauch, sondern mehr so im Hals."

Nach einer erneuten Sequenz, in der ich das Ganze durcharbeite, ist es im allgemeinen so, daß bei Monotraumata oft schon in zwei, drei Sitzungen die Symptomatik sehr zurückgegangen und fast weg ist. Ich habe eine Patientin behandelt, die hatte einen Tumor im Bereich der Nackenwirbelsäule, war operiert worden und hatte hinterher aufgrund des Ödems einen hohen Querschnitt, wußte nicht, ob sie sich wieder bewegen konnte; hat sich wieder stabilisiert, ist nach draußen gekommen, hat gut weiter gelebt, mußte jetzt wieder in die Klinik, weil sie ein Rezidiv hat und die hatte eine solche Angst vor der Situation des Querschnittes, daß Sie nicht in die Klinik gehen konnte, um sich operieren zu lassen. Dann hätte sie aber natürlich erst recht einen hohen Querschnitt bekommen oder wäre an ihrem Tumor gestorben; das bedeutete, sie mußte in die Klinik. Bei dieser Frau hat eine Sitzung ausgereicht, um diesen Zustand der völligen Hilflosigkeit durchzuarbeiten, durchzuprozessieren, so daß sie in die Klinik gehen konnte und jetzt weiterstudiert.

Bei solchen Monotraumata reicht oft eine Sitzung. Bei den vielfach Traumatisierten müssen Sie sich auf einen Prozeß einstellen, der länger dauert. Es sind ja mehrere Traumatisierungen, und wir machen im Durchschnitt so 10 Traumasitzungen in dieser Zeit. Man muß richtig eine Karte aufstellen, mit den frühen Traumatisierungen beginnen, weiterschreiten zu den späteren. Da ist es auch nicht so, daß hinterher alles wieder gut ist. Oft ist es so, daß die Patientinnen hinterher Intrusionen an andere Erfahrungen haben, daß sich die Bilder zwar verändert haben, daß dafür aber neue Bilder kommen.

Dieses Verfahren ist alles andere als indifferent. Das sage ich den Patienten auch vorher; denn durch die Traumaarbeit, gerade mit EMDR, sind Amnesien oft schlagartig aufgehoben: Sachen, die über Jahre und Jahrzehnte nicht erinnert wurden, stehen plötzlich ganz kalt vor Augen, ganze Lebensabschnitte zwischen 8 und 12 sind plötzlich da, und das ist dann nicht mehr rückgängig zu machen! Es kann sein, daß die Aufteilung der Familienmitglieder: "Mutter hat nichts gewußt" oder: "Oma war immer eine sichere Zuflucht", daß die plötzlich weg ist, weil der Patientin Bilder vor Augen stehen, daß die Mutter sich das Ganze ansieht und eine Weinflasche in der Hand hat und eine Zigarette raucht und dreckig lacht.

Diese Bilder müssen nicht wahr sein! Was in Traumaexpositionen hoch kommt, ist nicht immer wahr im juristischen Sinne! Es ist bis heute nicht klar auseinander zu halten, was nun reale Erinnerungen sind und was Verarbeitung, das macht die juristische Arbeit sehr schwer. Wenn Sie verstanden haben, daß Traumaarbeit immer das Verträumen von traumatischen Erfahrungen beinhaltet, dann können Sie sich denken, daß es gut ist, wenn jemand die traumatische Szene verändert, daß es dafür aber die Gerichtsaussage schwächt. Also: Was in Traumaarbeit hochkommt, ist seelisch richtig, und viele Patienten haben auch ein gutes Gespür, was wohl so gewesen ist und wo sie vielleicht besser etwas mißtrauisch sind, was vielleicht eine Traumverarbeitung ist. Aber es kann den Blick radikal und schnell verändern.

Das bedeutet auch, daß Traumaexposition nicht gemacht werden darf, wenn es irgendwelche Täterkontakte gibt, und auch nicht, wenn die Leute in mißbrauchenden Beziehungen leben; denn dann brauchen die ihre Dissoziationsfähigkeit. Die müssen Abstand halten können, die müssen aus dem Körper raus gehen können, die müssen in der Lage sein wegzudenken, und diese Fähigkeit wird durch diese Art der Traumatherapie massiv geschwächt. Die Dissoziationsfähigkeit wird bearbeitet, steht dann aber auch nicht mehr zur Verfügung. Dieses therapeutische Vorgehen ist hochwirksam, es ist geeignet, Intrusionen und Flash-backs zu Erinnerungen umzuwandeln, mit allen Konsequenzen, die daraus erwachsen: möglicherweise mit Problemen mit nahen Bezugspersonen oder mit Erinnerungen, die man vielleicht gerne wieder los werden und ganz schnell verdrängt möchte - und das geht dann nicht.

Wir haben jetzt noch 5 Minuten zu Fragen zum therapeutischen Vorgehen:

Die Behandlung ist, wie gesagt sehr simpel, das beinhaltet aber auch, daß das, was wir auf Station machen, keine abgeschlossene Psychotherapie ist. Wenn jemand sagt: "Ja, ich habe aber auch noch so viel Schwierigkeiten mit meinem Schulden.", dann hat die Sozialarbeiterin die Aufgabe, die Schuldnerberatung am Wohnort ausfindig zu machen und mit der Patientin irgendeinen Modus zu finden, so daß die äußere Realität sie nicht dabei stört, ihre Traumata aufzuarbeiten. Das ist eine Überforderung: Nach außen die Abwehr hoch zu fahren und gleichzeitig nach innen die Abwehr runter zu fahren, das widerspricht sich. Ich kann nicht mit einer Patientin Montag eine Traumaexposition, machen und Dienstag oder Donnerstag hat die ein Vorstellungsgespräch, das geht nicht.

Die ambulante Arbeit, wie sie von Frau Huber beispielsweise bei sehr stark traumatisierten Dissoziativen durchgeführt wird, und die Traumaexpositionsarbeit, wie ich sie hier dargestellt habe, ist ambulant gut durchführbar und machbar, wenn Sie es schaffen, so etwas ähnliches wie eine häusliche Station nach der Traumaexposition herzustellen, daran hängt alles. Das bedeutet: Die Traumaexpositionen liegen günstigerweise am Nachmittag, man braucht meistens 1 ½ Stunden, und wenn der Prozeß nicht so richtig abgeschlossen werden kann, dann muß man meistens noch Zeit anhängen. Man kann dann nicht sagen: "Also jetzt ist unsere Zeit zu Ende und egal wie es Ihnen geht, wir können dann in drei Wochen weiterarbeiten, ich mache gerade Urlaub." Der Prozeß muß abgeschlossen sein. Die Patientin kann anschließend auch nicht alleine Auto fahren. Die Patientinnen sind hinterher an der Grenze zur Bettlägrigkeit, die liegen oft im Bett und sind vergrippt und krank. Sie können den Zustand einer Patientin nach Traumaexpositionen sehr gut vergleichen mit dem Zustand einer Patientin mitten im Entzug, das ist ganz ähnlich: dünnhäutig, reizbar, latent aggressiv, grübeln, alle Gedanken gehen durcheinander. Es muß zu Hause ein bestimmtes Ambiente sein: vielleicht kann die Patientin bei einer Freundin übernachten, die sie unterstützt und sie ein bißchen betüdelt, Tee kocht, irgendwelche Videos sehen, die ablenken, spazieren gehen, Beine hochlegen. Es geht nicht, daß eine Mutter von zwei Kindern Traumaexposition macht und abends dann die Kinder versorgt, die sowieso schon aufgeregt sind. Ansonsten ist das gut ambulant durchführbar.

Das alles herzustellen ist aber oft gar nicht so einfach; denn Menschen mit posttraumatischen Zuständen tendieren dazu, in ihren Beziehungen die Traumatisierungen zu wiederholen, und deshalb erfordert das oft viel Arbeit. Aber ansonsten sind diese Vorgehensweisen auch ambulant durchführbar; in den USA werden sie sowieso nur ambulant durchgeführt, was ich an der Grenze des Vertretbaren ansehe; aber das amerikanische Gesundheitssystem ist sowieso nicht vorbildlich.

Die Frage der salutogenetischen Faktoren ist natürlich in der Prävention und in der Behandlung ausgesprochen wichtig. Ich kann allgemein etwas zu salutogenetischen Faktoren bei Traumatisierungen sagen. Das eine ist die Frage, ob man in der Zeit danach nahe Bezugspersonen hat, also eine Gruppe, die einen auffängt, in der dieses drüber Reden, sich Ablenken, sich sicher Fühlen, träumen Können möglich ist. Zum zweiten ist es natürlich so, daß Menschen, die im Leben an sich relativ sicher sind, davon nicht so aus der Bahn geworfen werden, aber hier muß man auch unterscheiden: Es gibt eine Untersuchung bei älteren Menschen, die eine lebensbedrohliche Erkrankung bekamen. Unter ihnen gab es zwei Gruppen, die besonders verletzlich waren: Einmal die sogenannten Verwöhnten, die noch nie im Leben so richtig mal in Lebensgefahr waren oder denen es auch mal wirklich schlecht ging und eine zweite Gruppe, die hingegen wieder zu viel von diesen Dingen erlebt hatten. Diese beiden Gruppen waren am verletzlichsten, also diejenigen, für die eigentlich Lebensgefahr und Trauma gar nicht vorkommt, die das in ihrem inneren Schema gar nicht so haben, und diejenigen, für die das ganze Leben ein einziges Trauma ist. Diese beiden Gruppen sind am verletzlichsten.

Der wichtigste salutogenetische Faktor ist Religiösität im weitesten Sinne, d. h. Menschen, die - egal was passiert - einen Lebenssinn aufrechterhalten können, werden mit Traumata viel besser fertig als Menschen, die kein Konzept haben für Traumatisierung. Das ist z.B. der Fall gewesen in den Konzentrationslagern: Diejenigen, die als Zeugen Jehovas oder als Christen interniert waren oder auch aus politischen Gründen und für die dieser Aufenthalt irgendeinen Sinn machte, die untergebracht waren, weil sie Feinde und Gegner des Systems waren, diese Menschen haben diese Situation viel besser verkraftet und überstanden als Menschen, die plötzlich verfehmt und Außenseiter waren, völlig willkürlich, und für die diese Situation einfach der reine Terror war. Menschen, die irgendein Konzept haben, ein seelisches Konzept, bei dem Sinnfragen gestellt werden können und das ihnen dann eine aktive Sinngebung in Bezug auf ein schlimmes Ereignis ermöglicht, die haben es im allgemeinen leichter, das zu integrieren.

Ergebnisse

Ich bin gefragt worden, wo denn genau der Unterschied zwischen der Kernberg’schen Position bzw. der üblichen psychoanalytischen Position und dem liegt, was ich hier dargestellt habe. Ich gehe erst mal darauf ein, weil das auch eine Kontroverse über den Wert der therapeutischen Beziehung und die Art der therapeutischen Beziehung ist. Psychoanalytisch orientierte Traumatherapeuten vertreten die Auffassung, daß das, was ich auf der imaginären Ebene ablaufen lassen will, daß das in die therapeutische Beziehung gehört. Die psychoanalytische Vorgehensweise hat sich ja so entwickelt, daß Sigmund Freud durch die Talking-Cure, die Rede-Kur die Übertragung entdeckte, und dann eine Möglichkeit fand, daß sich Symptome in Beziehungsstörungen verwandeln. Der beziehungszentrierte psychoanalytische Weg besteht darin, daß sich bei einem Menschen mit Symptomen, der zum Therapeuten kommt, durch die spezifische Art des therapeutischen Vorgehens die Symptomatik in eine Beziehungsstörung zum Therapeuten verwandelt, und diese Beziehungsstörung wird dann vernünftig betrachtet. Durch die Deutung und durch die Aufhebung der Beziehungsstörung, die sich wiederholt hat, nehmen die Symptome ab und geben sich anschließend. Das ist der Weg der Neurosenbehandlung in der Psychoanalyse, und dieser Weg ist erfolgreich.

Das hat dazu geführt, daß die Psychoanalyse versucht hat, nicht nur Neurosen so zu behandeln, sondern auch andere Störungen (Das ist für Sie in diesem Feld wahrscheinlich kein solches theoretisches Problem, weil sehr wenige Suchttherapeuten vertreten, die Sucht muß in der therapeutischen Beziehung zur süchtigen Beziehung werden, um dann aufgelöst zu werden.). Man hat das versucht bei psychosomatischen Störungen, man hat das versucht bei psychiatrischen Störungen (die Übertragungspsychose, die allergische Objektbeziehung, die süchtige Objektbeziehung), und es hat sich gezeigt, daß bei Störungsbildern, die nicht Neurosen sind, die Wirksamkeit dieses Vorgehens begrenzt ist. Darum ist das etwas, was wahrscheinlich für viele von Ihnen gar nicht so ein Problem ist, weil Sie nicht versuchen, die Sucht in die Beziehung zu holen, weil Sie nicht versuchen, die Beziehung anzubieten, damit sich Süchtigkeit innerhalb der therapeutischen Beziehung entwickelt.

Das ist nach meiner Überzeugung etwas, was für die posttraumatische Störung auch gilt. Meine Überzeugung ist: Die traumatische Beziehung sollte sich nicht in der therapeutischen Beziehung wiederholen. Und das therapeutische Vorgehen ist ganz darauf abgestimmt, diese Vorgehensweise zu verhindern. Das bedeutet: Letzte Woche, eine Patientin sitzt mir gegenüber: "Ja, nächste Woche sind Sie wieder weg, da hab’ ich wieder nichts von Ihnen, ich fühl’ mich wieder genauso allein gelassen und sitzen gelassen und mitten in den größten Schwierigkeiten, wie ich das schon immer kenne." Meine Antwort in freundlichem Ton: "Frau Sowieso, ich bin nicht dazu da, daß ich das abkriege, was mit Ihrer Kindheit zu tun hat. Sie wußten von vornherein, wie meine Termingestaltung in den nächsten Wochen aussieht. Sie haben gesagt, Sie wollen zu mir in Behandlung kommen, und wir arbeiten zusammen. Ich bin nicht Ihre Mutti und ich bin auch nicht Ihr Vater, und es stimmt, daß Sie als Kind viel zu viel allein gelassen wurden. Aber wir haben dann Termine und dann Termine, die Arbeit geht weiter. Das sind Gefühle, die durch die Traumatherapie mobilisiert, getriggert worden sind, und um die Sie sich in der inneren Arbeit mit Ihrem inneren Kind kümmern müssen, aber bitte handeln Sie die nicht an meiner Person ab." Oder eine Patientin meint: "Ich bin so schlecht behandelt worden, jetzt muß ich mal meine ganze Wut raus lassen." Klare Antwort: "Bitte nicht hier auf Station. Die Mitpatientinnen und auch wir sind nicht dazu da, daß Sie an denen das auslassen, was Ihnen in der Kindheit angetan wurde und da praktisch an fremden Leuten Rache nehmen. Das ist nicht unsere Strategie, das ist nicht unsere Vorgehensweise. Wir können darüber gerne sprechen, wie Sie das innerlich bewältigen, da gibt es die Therapievorgehensweise der Arbeit mit dem inneren Kind."

Wir arbeiten sehr viel mit imaginativen Strategien. Wir legen keinen Wert darauf, daß Wiedergutmachung, Rache, Aggression archaischer Art, Täter- Opferkonstellationen, Re-Traumatisierungen in der Therapie geschehen. Die geschehen selbstverständlich, natürlich gibt es Übertragungen, natürlich gibt es Wahrnehmungsverzerrung, aber so bald wir das bemerken, weisen wir freundlich, aber bestimmt darauf hin, daß das in die nächste Traumasitzung gehört und nicht in die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir haben auf Station keine konfliktzentrierte Gruppe. Das sind Einzeltherapien, die laufen. Als Gruppen haben wir Qui-Gong, haben wir Tagesausklang mit Imaginationen und so was, aber wir haben keine konfliktzentrierte Gruppe.

Wir haben auch nicht das Ziel, daß sich die Probleme an uns inszenieren und an uns wiederholen, das ist nicht unsere therapeutische Strategie. Das erwünschte Stationsklima ist so ein bißchen Schweizer Sanatorium. Das haben wir gerne. Leute spielen Mühle, sehen fern, buddeln im Garten mal wieder zum fünften Mal irgendein Blumenbeet um, es wird überlegt, welches Video man heute Abend zusammen guckt, einige gehen in die Stadt.

Das ist die erwünschte Atmosphäre, und wenn mir eine Patientin sagt: "Meine Mitpatientin erinnert mich so sehr an meine Schwester.", dann sagen wir: "Das ist nicht Ihre Schwester, aber gut, daß Sie es sagen. Ist das denn so störend, so behindernd, daß Sie das daran hindert, das zu tun, weshalb Sie hergekommen sind, nämlich Ihre früheren Erfahrungen aufzuarbeiten?"

Das schließt an die Frage an, die Sie mir beim Mittagessen gestellt haben. Wie ist das denn hinterher mit üblicher Psychotherapie? Brauchen einige hinterher übliche Psychotherapie? Meine Antwort war: "Alle". Alle brauchen hinterher eine psychotherapeutische Behandlung irgendeiner etablierten Art. Eine gute kognitive Verhaltenstherapie oder eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, auch mit katathymem Bilderleben oder Psychodrama oder Gestalt. Schwer Traumatisierten empfehle ich keine Analyse.

Im Anschluß an eine erfolgreiche Traumabehandlung sind die PatientInnen im allgemeinen in der Lage, mit üblicher Psychotherapie besser umzugehen und mit ihr arbeiten zu können. Wenn Sie einen Patienten haben, der noch getriggert werden kann, dann brauchen Sie bloß die falsche Krawatte zu tragen, zur falschen Zeit Urlaub zu machen oder sich zu erkälten, und er wird suizidal. Das ist etwas, was möglichst nicht mehr passieren soll, nämlich daß ein Patient durch jede Kleinigkeit, eine Veränderung des Therapeuten oder der Therapeutin getriggert werden kann und in völlig unrealistische Zustände rutscht. Dann würde ich sagen: da ist irgendeine Information noch nicht soweit integriert, wie es erforderlich ist für die üblichen therapeutischen Vorgehensweisen. Alle brauchen hinterher ambulante Psychotherapie, um ihre Beziehungsstörungen, ihre aggressiven Hemmungen, ihre Schwierigkeiten im sozialen Leben und so etwas aufzuarbeiten. Die Traumatherapie ist eine Vorbereitung für eine übliche Therapie.

Traumatherapie ist etwas für Patientinnen, die relativ gut wissen, daß sie traumatisiert worden sind, wenigstens in Umrissen, nicht aber für diejenigen, bei denen der Therapeut nicht weiterkommt und sagt: "Naja, da muß doch was mit einem Trauma sein."

Man kann insgesamt sagen, es bewegt sich was, und das ist auch statistisch signifikant. Was ganz schön ist, daß sich die Symptombelastung verbessert: In der Symptomcheckliste, der SCL- 90-R, zeigt sich überall eine Verbesserung der Symptome schon bei der Entlassung. Besonders zwischenmenschlich sind diese PatientInnen etwas dickfälliger, die Depressionen werden weniger, ebenso paranoide Vorstellungen und Psychotizismus, also das, was ich heute natürlich lieber als Dissoziativität sehen würde, all das wird deutlich weniger, auch der Gesamtscore nimmt ab. Das ist ein klares Ergebnis und das, wie gesagt, bei einer Gruppe, die sehr hoch belastet ist! Da sieht man deutlich, daß die Symptombelastung sehr ausgeprägt ist. Beim Borderline-Persönlichkeitsinventar BPI zeigt sich, daß es sich phänomenologisch tatsächlich um Boderline-Persönlichkeitsstörungen handelt. Der Cut - 20 wird eigentlich von allen bei uns überschritten. Es sind von der Phänomenologie her Borderline-Patientinnen, die wir behandeln, und auch hier zeigt sich, daß wir die primitiven Abwehrmechanismen, die primitive Idealisierung oder die primitve Abwertung, nach Innen verlagern können und nicht mehr im zwischenmenschlichen Bereich haben. Es zeigt sich, daß sich dort Veränderungen ergeben.

Andere Veränderungen ergeben sich nicht so schnell. Angst vor Nähe z. B.: Die Patientinnen sind dann nicht plötzlich Leute, die nichts lieber haben, als daß man sie alle Nase lang kräftig in den Arm nimmt, sondern die anderen Parameter bleiben länger erhalten. Oft sind noch kurze Kriseninterventionen erforderlich. Wir haben auch ca. 20% Patientinnen, denen wir nicht haben helfen können, die hinterher weiter zwischen Psychiatrie-Notaufnahme, mittelfristigen Behandlungen und draußen hin und her gependelt sind. Daß hinterher keine stationäre Behandlung mehr nötig ist, das erreichen wir bei etwa 2/3 unserer Patientinnen.

Das ist für eine Gruppe von schwergestörten sogenannten "Borderline-Patientinnen" nicht schlecht.

Tonbandabschrift des Further Fortbildungstages "Schwere Traumatisierungen - wie bewältigen?" vom 07. Oktober 1998

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