FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2000

 

Aktionsforschung als Grundlage
der Pflegeelternausbildung

im Intensiv-Pädagogischen Programm (IPP)
der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie

von Gudrun und Kurt Eberhard (Sept. 00)

 

Die pädagogische Arbeit mit psychisch schwer geschädigten Kindern stellt hohe emotionale und intellektuelle Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher(*). Wir hatten schon während unserer früheren Berufstätigkeit im Heim immer wieder erlebt, daß professionell Ausgebildete - egal auf welcher Bildungsebene - gegenüber unausgebildeten Kolleginnen und Kollegen (z.B. Küchenfrauen, Hausmeister, Praktikantinnen) keine grundsätzlich höhere Sozialisationskompetenz aufweisen. Diese Erfahrung bestätigte sich durchgängig in unserem Pflegekinderprojekt (IPP), das wir 1980 aufgrund langjähriger empirischer Forschung als dezentralisiertes Heim für verwahrlosungsgefährdete Kinder begannen (vgl. Hartmann, 1977; Eberhard u. Eberhard, 1986). Gleichartige Eindrücke bieten sich uns auch immer wieder in der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Die internationale Effizienzforschung führte zu vergleichbaren Resultaten. Beispielsweise zeigte sich sogar in der Psychotherapie, daß Laientherapeuten im allgemeinen nicht schlechter abschneiden als professionelle (vgl. z.B. Grawe, 1994).

Die simple, in bestimmten politischen Kreisen populäre Schlußfolgerung, dann könne man doch auf teure Ausbildungen verzichten und auf ehrenamtliche oder jedenfalls niedrig bezahlte Sozialpädagogen rekurrieren, geht daran vorbei, daß die Konkurrenzfähigkeit der Laien im wesentlichen daraus resultiert, daß die zähe Sozialisationsresistenz der unbewahrten und verwahrlosten Kinder Laien und Fachleute gleichermaßen überfordert.

Es geht also nicht um Ausbildungsverzicht, sondern um gründliche Infragestellung der gegenwärtigen, für unsere Aufgaben unzulänglichen Ausbildungsangebote und um daraus folgende tiefgreifende Ausbildungsreformen. Durch den massiven Druck der täglich anfallenden Probleme blieb uns jedenfalls gar nichts anderes übrig, als schnellstens die herkömmlichen Konzepte der Wissens- und Theorievermittlung zu verlassen. Wie sich bald zeigte, ging das nicht ohne Rückgriff auf sehr grundsätzliche erkenntnistheoretische Erwägungen.

Wie in jeder problemorientierten sozialen Arbeit standen wir immer wieder neu vor
drei zentralen Fragestellungen:

1. die phänomenale Frage: "Was ist los, was ist geschehen?",

2. die kausale Frage: "Warum ist es geschehen, und was folgt daraus?",

3. die aktionale Frage: "Was ist zu lassen, und was ist zu tun?"

Die phänomenale Frage erfordert eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit zur unvoreingenommenen Beobachtung und eine möglichst differenzierte, weder durch vorwissenschaftliche noch durch wissenschaftliche Dogmen eingeengte Fähigkeit, das Beobachtete sprachlich einzuordnen und auszudrücken. Die gegenwärtigen Ausbildungsstätten bieten entweder wenig oder gar keine Beobachtungsübungen im sozialen Feld, und von einer gezielten Entwicklung der Sprachkultur kann ebenfalls kaum die Rede sein.

Die kausale Frage erheischt einen theorieübergreifenden Vorrat an Kausalhypothesen, darüber hinaus die kreative Entwicklung immer neuer problemzentrierter Erklärungsvermutungen, sowie die Bereitschaft, diese in der täglichen Praxis zu überprüfen und zu korrigieren. In den zur Zeit angebotenen sozialpädagogischen Ausbildungen wird nicht mit möglichst vielen konkurrierenden Hypothesen auf anliegende Praxisprobleme reagiert, sondern es werden umgekehrt wenige (oft nur die von den Dozenten bevorzugten) Theorien vorgegeben, bestenfalls durch Praxisbeispiele illustriert und (evtl.!) einer kritischen Diskussion unterzogen, die ihrerseits von der Gültigkeit anderer theoretischer Unterstellungen bzw. von persönlichen Erfahrungsverallgemeinerungen ausgeht. Sogar wertvolle theoretische Ansätze verkommen so zu dogmatischen Ideologien (vgl. das Schicksal der marxistischen Ökonomie, der Psychoanalyse, der Lerntheorie und z.Z. der systemischen Familientheorie).

Die aktionale Frage verlangt einerseits ein durch die vorgängigen Analysen vorbereitetes, nicht nur intellektuelles, sondern intuitiv einfühlendes Verstehen in die Problemsituation und andererseits eine geradezu dereistische Phantasie für die Produktion praktikabler Handlungshypothesen.

Solche Fähigkeiten lassen sich in den Vorlesungen und überfüllten Seminaren der von der Praxis abgeschiedenen Ausbildungsstätten keinesfalls entfalten!

Die Trennung von Theorie und Praxis, auch die anwendungsorientierte Dominanz der Theorie über die Praxis, mithin die Trennung von Ausbildung und Praxis und die Dominanz der Ausbilder über die Auszubildenden müssen also gegen alle schulmäßig organisierten sozialpädagogischen Ausbildungsgänge überwunden werden. Die wissenschaftstheoretische Grundlage für die geforderte antidogmatische Theorie-Praxis-Integration in der Ausbildung ist der Erkenntnisweg der Aktionsforschung.

Kurz definiert, ist die Aktionsforschung derjenige Erkenntnisweg, auf dem die im Wissenschaftsbetrieb übliche Trennung von Forschung und Praxis aufgehoben wird, auf dem die Beteiligten das gemeinsam erlebte und handelnd beeinflußte Geschehen im Rahmen kollektiver Reflexionen (sog. Diskurse) analysieren und zu problembezogenen phänomenalen, kausalen und aktionalen Hypothesen gelangen, die ihre Glaubwürdigkeit aus bestimmten kommunikationsoptimierenden und erkenntnisförderlichen Gesprächsformen (z.B. 'Herrschaftsfreiheit', 'Begründungspflicht', 'intellektuelle Offenheit', 'emotionale Akzeptierung') und aus der kritisch beobachteten Praxis beziehen.

In der Aktionsforschung sind die Erzieherinnen und Erzieher also nicht Sozialtechniker, die im weit entfernten Wissenschaftsbetrieb erzeugte Theorien mehr oder weniger gläubig anwenden, sondern Sozialforscher, die im gemeinsamen Diskurs eigene problembezogene phänomenale, kausale und aktionale Hypothesen entwickeln und in der Praxis erproben, um sie in erneuten Diskursen weiterzuentwickeln oder zu korrigieren. Dabei wird der ohnehin dubiose Allgemeingültigkeits- bzw. Objektivitätsanspruch der naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaft aufgegeben, der Geltungsanspruch jedoch, d.h. das Ziel wirklichkeitsentsprechender und praxisrelevanter Erkenntnis um so intensiver angestrebt.

Wenn wie bei uns die Klienten nicht nur erziehungs-, sondern auch therapiebedürftig sind und wenn die emotionalen Persönlichkeitsanteile der Erziehenden zum wichtigsten Medium ihrer Arbeit werden, dann muß der Aktionsforschungsdiskurs auch gegenseitige Selbstreflexion bis hin zu tiefenpsychologischen Verstehensprozessen und das dafür notwendige gruppentherapeutische Klima bieten.

Basale Erkenntnisform der Aktionsforschung ist die Hermeneutik, d.h. die Kunst und Lehre des Deutens und Verstehens. Die Hermeneutik ist auch sonst die wichtigste Grundlage sozialpädagogischer Erkenntnisbemühungen, allerdings meist in einer naiven, methodologisch unkontrollierten Form, die man als 'Hermeneutik des gesunden Menschenverstandes' bezeichnen könnte. Die meisten Sozialpädagogen hegen allerdings selbst ein halb bewußtes, aber sehr realistisches Mißtrauen gegenüber dieser Basis, was sich besonders zeigt, wenn man anfragt, ob sie sich von ihren Kollegen in ihren eigenen Problemen angemessen verstanden fühlen. Die Skepsis von innen und außen an der naiven Hermeneutik der Sozialarbeit/Sozialpädagogik hat beträchtlich zu ihrer viel beklagten Glaubwürdigkeitskrise beigetragen (vgl. Thiersch u. Rauschenbach, 1987).

Auch die in den verstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften praktizierte Hermeneutik hat erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme, weil sie weit davon entfernt ist, allgemein anerkannte Methoden und Gültigkeitskriterien bereitzustellen.

Ein Durchbruch zu einer geltungsorientierten Hermeneutik findet zur Zeit auf der Basis der semiotischen Abduktionslogik statt (vgl. Apel, Eco, Habermas). Im Gegensatz zur Deduktion (logische Ableitung von speziellen Aussagen aus allgemeinen theoretischen Sätzen) und zur Induktion (generalisierende Hinleitung von den Merkmalen einzelner Individuen zu allgemeinen theoretischen Sätzen) ist die Abduktion die zuordnende Schlußfolgerung einzelner Zeichen (z.B. beobachtbare Eigenschaften von Klienten) zu Begriffsklassen (z.B. diagnostischen Kategorien), also die Operation, die wir bei den großen und kleinen psychosozialen Diagnosen unseres Berufsalltages ständig vollziehen. Aus der Abduktionslogik lassen sich etliche hermeneutische Regeln ableiten, deren Beachtung die problematische Validität psychosozialer Hypothesen zuverlässig steigert.

Hermeneutische Regeln (Auszug):

  • Je höher die subjektive Abhängigkeit des Abduzierenden von der Richtigkeit der Abduktion, desto höher seine Wahrnehmungsaufmerksamkeit.
  • Je zahlreicher und intensiver die Kontakte zum Klienten bzw. allgemein zum Erkenntnisgegenstand, desto zahlreicher und vielfältiger die wahrgenommenen Zeichen.
  • Je häufiger und vielfältiger die beoachteten Zeichen, desto wahrscheinlicher die Repräsentanz aller wichtigen Eigenschaften in der Wahrnehmung des Beobachtenden.
  • Je einfacher und unzweideutiger die beobachteten Zeichen, desto höher ihre Objektivität und die Gültigkeitschance der auf ihnen beruhenden diagnostischen Aussagen.
  • Je reicher der Sprachschatz, desto mehr abduktive Zuordnungsmöglichkeiten.
  • Je größer die Vielfalt der abduzierten Hypothesen, desto geringer die Gefahr reduktionistischer, d.h. einseitig vereinfachender Diagnosen.
  • Je mehr Vorhersagen von bekannten auf noch unbekannte Zeichen, desto mehr Testmöglichkeiten für den diagnostischen Prozeß.
  • Je mehr mitwirkende Beobachter, desto mehr wahrgenommene Zeichen, sprachliche Kategorien, abduktive Hypothesen, empirische Überprüfungsmöglichkeiten und desto höher die Gültigkeitswahrscheinlichkeit der Abduktion.
     

Diese Regeln sind Regeln im zweifachen Sinne: sie beschreiben regelhafte Zusammenhänge und sollen als Leitlinien dienen. Sie gelten allgemein, also weitgehend unabhängig vom Erkenntnisgegenstand und unabhängig von der Aktionsforschung, können also auch vom einzelnen Beobachter angewendet werden. Die letzte Regel drängt allerdings zu kollektiven Abduktions-Diskursen.

Wir gelangten also aus erkenntnistheoretischen Erwägungen genauso zum Konzept der kommunikationsoptimierenden Aktionsforschung wie aus dem Druck der Praxis und aus der Kritik an den üblichen Ausbildungsformen. Das ist kein verwunderlicher Zufall, denn schließlich waren es unsere Praxis- und Ausbildungsprobleme und dort vor allen Dingen die Glaubwürdigkeitsansprüche von innen und außen, die uns schon sehr früh zu den erkenntnisphilosophischen Analysen genötigt hatten (vgl. Lit.-Verz.).

Einerseits bietet die Aktionsforschung die Chance, die Einseitigkeiten und Beschränktheiten individueller Erkenntnisprozesse zu überwinden, andererseits ist aber in der experimentellen Sozialpsychologie immer wieder nachgewiesen worden, daß die Gruppendynamik von der 'Leistung des Suchens und Findens' zur 'Leistung des Bestimmens' tendiert, d.h. Gruppen neigen dazu, die phänomenalen, kausalen und aktionalen Fragen im Sinne harmonisieren-der bzw. zeitsparender Konsense zu beantworten, die sich von der Realität weiter entfernen als die Summe der einzelnen Individualeinschätzungen. Das gilt besonders für die Wahrnehmung und Einschätzung schwer durchschaubarer, komplexer Situationen, wie man sie gerade in psychosozialen Problemfeldern regelmäßig vorfindet. Wir alle kennen solche Tendenzen aus informellen 'sozialpädagogischen Teegesprächen' ebenso wie aus formellen 'Helfer-Konferenzen' und Teamsitzungen.

Dieser Gefahr begegnet die Aktionsforschung mit kommunikationsoptimierenden, erkenntnisförderlichen Gesprächsregeln. Die empirische Forschung darüber, welche Regeln bzw. Gesprächsstile die Aussagevalidität steigern und ob sich welche herauskristallisieren, die in den verschiedenen Arbeitsgruppen mit ihren vielfältigen Aufgabenstellungen allgemeinere Geltung beanspruchen können, steht noch ganz am Anfang.

Nach unserer Erfahrung im IPP und in anderen Arbeitsgruppen haben die auf der folgenden Seite aufgeführten Regeln vermutlich relativ gute Aussicht auf projektübergreifende Bewährung.

Kommunikationsregeln für Aktionsforschungs-Diskurse (vorläufiger Katalog)

  • Alle dürfen und sollen ihre Meinung sagen
  • Meldet Euch für alle sichtbar, wenn mehrere sprechen wollen
  • Bemüht Euch um gegenseitige Akzeptierung
  • Vermeidet Be- und Abwertungen
  • Behandelt Euch und Eure Gedanken als gleichberechtigt
  • Hört einander zu und laßt einander ausreden
  • Unterbrechungen können beantragt und zurückgewiesen werden
  • Bleib beim angesprochenen Problem
  • Beschränk Dich auf das Dir Wesentliche
  • Ausführliche Begründungen bitte nur auf Nachfrage
  • Die Zahl Deiner Antworten sollte die Deiner Fragen nicht übersteigen
  • Geh auf Deine(n) Vorredner(in) ein
  • Nutzt, wenn möglich, die Begriffe Eurer Vorredner(innen)
  • Sucht den Wahrheitskern in scheinbar zweifelhaften Beiträgen
  • Versucht zu verstehen, statt recht zu behalten
  • Redet in Vermutungen statt in Behauptungen
  • Vermeidet Verallgemeinerungen, Theorien und Dogmen
  • Benutzt - falls erforderlich - Beispiele aus eigener Erfahrung
  • Beispiele taugen als Erläuterung nicht als Beweis
  • Beachtet die Signale der Körpersprache
  • Versucht, bei zähen Mißverständnissen zu dolmetschen
  • Mach Dich nicht ohne Auftrag zum Beschützer anderer Teilnehmer
  • Deine emotionalen Störungen haben Vorrang, wenn sie Deine weitere Mitarbeit  blockieren  
  • Benennt Eure Betroffenheit, aber benutzt sie nicht als Denkverbot
  • Baut Antipathien ab und Sympathien auf - Sympathien ermöglichen die Annahme  gegenseitiger Kritik
  • Vermeidet Konsense ohne kritische Diskussion
  • Konflikte nutzen statt scheuen
  • Nutzt den Erkenntnisweg der Dialektik
  • Seid gute Anwälte Eurer Qualitätsinteressen

Aus den beschriebenen Erfahrungen und Erwägungen resultiert, daß es widersinnig wäre, unsere Pflegeelternausbildung nach dem Modell sonst üblicher Ausbildungs- und Prüfungsordnungen zu organisieren. Es kann bei uns keinen vorgefertigten Themen- oder gar Fächerkatalog und kein curriculares Zeitraster im Rahmen hoch- bzw. fachschultypischer Lehrveranstaltungen geben, denn die Ausbildung ist integraler Teil gemeinsamer Praxis und Forschung, die ihrerseits im Sinne der Aktionsforschung ineinandergehen.

Als Lehrveranstaltungen im weiteren Sinne kann man die regelmäßigen Treffen der drei Pflegeelternkreise nennen, die aller vierzehn Tage bzw. alle drei Wochen freitags von 20.oo bis ca. 23.oo Uhr stattfinden. Jeder Arbeitskreis besteht aus den Pflegeelternpaaren bzw. alleinerziehenden Pflegemüttern und den beiden hier unterzeichnenden Projektleitern und umfaßt höchstens acht Personen. Wichtigster Inhalt der hochintensiven open-end-Sitzungen ist die Analyse der akuten Erziehungsprobleme und die bereits genannte gegenseitige Selbstreflexion i.S. tiefenpsychologisch orientierter Gruppensupervision.

Hier ist auch der Ort, wo unsere juristischen, sozialpädagogischen, psychologischen, psychotherapeutischen und erkenntnisphilosophischen Theorie-Kenntnisse als Denkmöglichkeiten an die jeweils aktuellen Praxisprobleme herangetragen werden. Zu unserem betont antidogmatischen Theorieverständnis gehört auch, daß wir kaum wissenschaftliche Texte eingeben, sondern viel aus belletristischer Literatur, aus Märchen, Mythen und Fabeln schöpfen. Ferner wurden wiederholt auftauchende Erziehungsprobleme und gemeinsam erprobte Lösungsangebote in Fabeln gefaßt, die sich auch in Gesprächen mit den Pflegekindern selbst gut bewährt haben (Eberhard und Hohmeyer, 1992).

Aus- und fortbildende Funktion haben aber auch die vielen kleinen und großen Beratungsgespräche, die wir mit den Erzieherinnen und diese untereinander führen. Die wichtigste Ausbildungsform ist natürlich die gemeinsame sozialpädgogische und sozialtherapeutische Praxis selbst.

Nach frühestens drei Jahren können sich die Erzieherinnen zum Abschlußexamen anmelden. Diese besteht aus der Anfertigung einer großen Hausarbeit über das Pflegekind und die an ihm geleistete Erziehungsarbeit sowie einer mündlichen Prüfung, in der die Kandidatin ihre Hausarbeit erläutert, verteidigt und zu darüberhinausgehenden Sachfragen Stellung nimmt.

Die Hausarbeit wird nach einer vorgegebenen Gliederung gestaltet (vgl. nachfolgendes Muster), die sich aus einem vom Bildungsministerium geförderten Forschungsprojekt unserer Arbeitsgemeinschaft ergeben hat, in dem die Bedeutung der historischen Methodologie für die sozialpädagogische Lebenslaufforschung untersucht wird. (Eberhard, 1994)

Gliederung zur Klienten-Darstellung

A. Betrifft:
(Pseudonym, Geschlecht und Alter des Pflegekindes)

B. Informationsquellen:

1. Bericht zu den Recherchen
2. Auflistung der Quellen
3. Diskussion der Quellen ('Quellenkritik')

C. Übersichtsdaten zur persönlichen und familiären Situation:
(vorgreifende Zusammenstellung aus möglichst objektiven Fakten)

D. Befunde und Berichte:
(incl. 'Geschehnisse', 'Erzählungen' und 'Geschichten')

1. Befunde und Berichte aus fremden Erhebungen
2. Befunde und Berichte aus eigenen Erhebungen
3. Befunde und Berichte aus eigener Betreuungsarbeit

E. Lebensgeschichte des Pflegekindes und seiner wichtigsten Bezugspersonen
(darstellende Chronik und nachvollziehende Geschichte - soweit recherchierbar)

1. Chronik und Geschichte der leiblichen Eltern
2. Chronik und Geschichte wichtiger anderer Bezugspersonen
3. Chronik und Geschichte des Pflegekindes

F. Psychosoziale Diagnose und Empfehlung:

I. Phänomenale Fragestellung:
Charakterisierung der Persönlichkeit und Problematik des Pflegekindes
(typische Erlebnis- und Verhaltensmuster und typische Reaktionsmuster der Umwelt)

II. Kausale Fragestellung:
Verstehende und erklärende Vermutungen zur Entstehung der Persönlichkeit und Problematik des Pflegekindes

III. Zusammenfassende Versuche zur Diagnose und Prognose:
(mit Hilfe wissenschaftlicher Fachliteratur, Mythen, Märchen, Fabeln und Romanen)

IV. Aktionale Fragestellung:
Begründete Anregungen zur Lösung der Problematik und Diskussion möglicher Alternativen

Erstens wegen der relativ hohen Prüfungsansprüche, zweitens weil die Erzieherinnen durch unsere Zusammenarbeit mit den Jugendämtern ihre sonderpädagogische Anerkennung bisher auch ohne unsere Abschlußprüfung erhielten und drittens weil sie auf die Teilnahme an den Aktionsforschungsgruppen großen Wert legen - so daß die dienstältesten nun schon mehr als zehn Jahre kontinuierlich daran mitwirken - , hat bisher erst eine Kollegin die Prüfung absolviert. Sie verließ Berlin und brauchte das Abschlußzertifikat, um in Westdeutschland eine angemessene berufliche Anstellung zu erhalten.

Da es in Berlin eine staatliche Pflegeelternschule gibt, die ihre Ausbildung ein Jahr später als wir begonnen und unabhängig von uns geplant hat, liegt ein Vergleich mit deren Programm nahe. Ein solcher Vergleich ist aber nur sehr beschränkt möglich, weil schon die Rahmenbedingungen gänzlich andere sind.

Wie wir entfernt sich die staatliche Pflegeelternschule deutlich von den Strukturen der sonstigen sozialpädagogischen Studiengänge an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten und kann als ein besonders nachahmenswertes Reformmodell gelten. Das Curriculum beginnt mit folgender Präambel:

Die Teilnehmer lernen voneinander und miteinander, sollen zunehmend fähiger werden, sich gegenseitig zu beraten. Es werden nicht schulmäßig und isoliert Kenntnisse vermittelt, sondern es wird ausgegangen von den Erfahrungen und Bedürfnissen der Teilnehmer. Ihre Lebenssituation, die sich im Verlauf der in drei Abschnitte gegliederten Lehrgangszeit jeweils verändert, bestimmt Inhalte und Methoden der Pflegeelternschule. (Pflegeelternschule, 1983, S.4)

Diese Grundsätze entsprechen genau unserer Programmatik, aber uns sind andere Ausgangsvoraussetzungen für deren Umsetzung gegeben. Wir stehen zu unseren Erzieherinnen nicht in einem Ausbildungsverhältnis, stehen ihnen also nicht als Dozenten gegenüber, sondern bilden mit ihnen eine Arbeitsgemeinschaft, in der wir für die Arbeit, für Erfolge und Mißerfolge gemeinsam verantwortlich sind. Wir kennen alle Pflegekinder und arbeiten auch selbst mit ihnen. Die Erzieherinnen kennen ebenfalls die anderen Pflegekinder und diese sich gegenseitig. Alle diese Beziehungen sind langfristig angelegt und ziehen sich nun schon über viele Jahre hin. Wir erleben uns als "dörfliche" Solidargemeinschaft, deren Beziehungen über die gemeinsamen Erziehungsaufgaben weit hinausgehen.

Während einschlägig ausgebildete Pflegeeltern von der staatlichen Pflegeelternschule dispensiert sind - obgleich sie darauf dringend angewiesen wären -, nehmen sie bei uns gleichberechtigt teil, sorgen zusätzlich für den Praxis-Theorie-Verbund und wirken dysfunktionalen Hierarchien zwischen uns und den Erzieherinnen von vornherein entgegen.

1985 haben wir mit systematischer Begleitforschung begonnen, d.h. die Pflegeeltern werden von Praktikanten in regelmäßigen Abständen mit Hilfe eines sehr ausführlichen und differenziert gegliederten Fragebogens interviewt. Die Ergebnisse führen u.a. zu graphisch dargestellten Entwicklungstrends in den verschiedenen Lebensbereichen. Die Mitwirkung der Erzieherinnen bei der Planung, Durchführung und Auswertung dieser Begleitforschung ist ein weiteres Element unserer aktionsforschungsorientierten Ausbildung.

Unabhängig von den durch die verschiedenen Rahmenbedingungen vorgegebenen Besonderheiten unterscheidet uns unsere grundsätzliche Skepsis gegenüber der Gültigkeit und praktischen Anwendbarkeit wissenschaftlicher Theorien. Wir reden nicht von notwendigem "psychologischen Wissen" (vgl. Pflegeelternschule, 1983, S.7), sondern von "denkanregenden wissenschaftlichen Hypothesen".

Prof. Hofstätter, einer der Sachkundigsten der deutschen Psychologie, erregte sich einmal in seiner Vorlesung: "Die Psychologie steht da, wo die Physik vor Galilei stand; wer damit in die Praxis geht, dem sollte man das Examen aberkennen!" Für diese Auffassung gibt es schwerwiegende wissenschaftstheoretische Argumente, die den hier gegebenen Rahmen aber weit überschreiten würden, stattdessen eine kleine Anekdote, in der wir unsere ernüchternden Erfahrungen mit psychologischen Theorien verdichtet haben:

In großer Sorge um ihren einnässenden Sohn ruft eine Mutter fünf Psychologen an sein feuchtes Bett.

Nach der Untersuchung von Mutter und Kind spricht der erste: "Die Wurzel des Übels ist ein Ödipus-Konflikt, das Einnässen eine auf die Mutter gerichtete Ejakulation."

Dagegen der zweite: "Nicht Liebe, sondern Haß bestimmt den Knaben; das Einnässen ist ein zielsicheres Mittel, der Mutter Ärger zu bereiten."

"Ach was", protestiert der dritte, "der Bursche läßt unter sich aus der Haltlosigkeit einer beginnenden Verwahrlosung."

"Aber meine Herren", mahnt der vierte, "wer sich mit warmer Feuchtigkeit umgibt, betreibt doch nur die Rückkehr in die Geborgenheit des Mutterleibes."

"Alles falsch", widerspricht der fünfte, "der Junge ist depressiv und weint durch die Blase."

Da sie sich nicht einigen konnten, wurden sie von der Mutter verabschiedet, die noch am selben Tage ein elektrisches Gerät kaufte, von dem sie in einer Illustrierten gelesen hatte. Das Gerät ließ jedesmal ein Glockenspiel ertönen, wenn der kleine Patient zu nässen begann. Er erhob sich sodann, entleerte sich am gewünschten Ort und war in weniger als einer Woche von seinem Übel befreit. In der darauffolgenden Woche hatte er einen üppigen Schnupfen - Symptomverschiebung!

Die untereinander konkurrierenden, empirisch meist unzulänglich überprüften psychologischen und sozialwissenschaftlichen Theorien stammen nicht aus unserem Problemfeld und können deshalb nur als vorsichtige Vermutungen an unsere Praxis herangetragen werden. Die Psychologen und Pädagogen haben hier u.E. mehr eine mäeutische als eine belehrende Funktion, d.h. die Aufgabe, die Erzieherinnen durch Herstellung des dafür notwendigen emotionalen Klimas bei der Entwicklung eigener problembezogener phänomenaler, kausaler und aktionaler Hypothesen sowie deren praktischer Überprüfung zu unterstützen. Diese Rolle scheinen aber auch die Kolleginnen der staatlichen Pflegeelternschule stärker wahrzunehmen, als es nach der nach unserem Geschmack zu apodiktischen Beschreibung der Kursinhalte (Pflegeelternschule, 1989, S.8 ff) den Anschein hat. Dafür sprechen mündliche Mitteilungen und das eindrucksvolle Zeugnis, das ihnen die Absolventinnen eines früheren Lehrganges ausstellten (Pflegeelternschule, 1983, S.15):

"In der Pflegeelternschule finde ich Verständnis und ein Stück Geborgenheit; daß auch bei ganz unterschiedlichen Meinungen niemand aus der Gruppe bloßgestellt oder gekränkt wird, ist oftmals der einfühlsamen und qualifizierten Gesprächsleitung zu verdanken."

Die oft beobachtete Tendenz, daß in sozialpädagogischen Gruppen, die auf das Verstehen und Bewältigen gemeinsamer Praxisprobleme angewiesen sind, die Kommunikationskultur der Aktionsforschung sich auch dann spontan durchsetzt, wenn es gar nicht explizit geplant war, haben wir in einem systematischen Arbeitsgruppenvergleich empirisch nachweisen können (vgl. Eberhard und Ottenbreit, 1993).

Bei unserer ersten Pflegeelterngruppe ging die Entwicklung der kommunikativen Praxis ebenfalls der erkenntnistheoretischen Reflexion voraus. Der autonome Trend zu erkenntnisförderlichen Kommunikationsformen in 'verständigungsorientierten Diskursen' und umgekehrt die konstruktiven Rückwirkungen der 'kontrafaktischen Ideale' der 'idealen Sprechsituation' auf den tatsächlichen Kommunikationsstil entsprechen genau den Prognosen der 'Theorie des kommunikativen Handelns' (vgl. Habermas, 1981).

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(*) Zur Terminologie: Da in der Erziehungsarbeit allgemein und auch bei uns die Frauen in der Überzahl sind, schreiben wir im folgenden nur von 'Erzieherinnen'. Gegenüber den Jugendämtern gelten sie als Pflegemütter, mit uns haben sie einen Vertrag als Erzieherin, das soll nicht nur einer gerechteren Entlohnung, sondern zugleich ihrer Professionalisierung dienen.

L i t e r a t u r :
Apel, K. O.: Der Denkweg von Charles S. Peirce; Frankfurt/M. 1975
Eco, U. u. Sebeok, T.A. (Hrg.): Der Zirkel oder im Zeichen der Drei; München 1985
Eberhard, G. u. Eberhard, K.:
Das Intensivpädagogische Programm, ein dezentralisiertes Heim für verwahrlosungsgefährdete Pflegekinder. In: Pflegekinder Heft 2, 1986, S. 32-34
Eberhard, K.:
Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1987
Eberhard, K.: Eine erkenntnistheoretische Antwort auf die Glaubwürdigkeitskrise der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. In Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 1990, S. 3-18
Eberhard, K. u. Hohmeyer, I.:
Fabeln statt Pillen - sozialpädagogische Allegorien für Eltern und Erzieher. Berlin 1992
Eberhard, K. u. Ottenbreit. L.: Aktionsforschung in der sozialen Praxis. In Ribbeck, 1993, S. 32-34
Eberhard, K.: Erkenntnistheoretische Grundlagen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Hrg.: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Berlin 1994
Grawe, K. u. a.: Psychotherapie im Wandel. Göttingen 1994
Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981
Hartmann, K.: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung (2. Aufl.), Heidelberg 1977
Senator für Schulwesen, Jugend und Sport (Hrg.): Pflegeelternschule Berlin. Berlin 1983
Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie (Hrg.): Pflegeelternschule. Berlin 1989
Thiersch, H. u. Rauschenbach, T.: Sozialpädagogik/Sozialarbeit: Theorie und Entwicklung. In: Eyferth u.a.: Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied 1987

In: Neue Praxis H.2, 1996

 

 

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