FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2005

 

Das Programm „Mutter und Kind":

Hilfe für alleinerziehende Mütter/Väter

 

Von Helma Hassenstein

 

Eine besondere Form der Hilfe für allein erziehende Mütter bzw. Väter und ihr Kind gewährt das Land Baden-Württemberg mit dem Programm „Mutter und Kind", das an dieser Stelle kurz exemplarisch vorgestellt werden soll. Aufgrund seines Erfolges könnte es als Modell auch in anderen Bundesländern Anwendung finden.
Das Programm „Mutter und Kind" bietet allein erziehenden Müttern/Vätern:
1. materielle Hilfe: Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) für drei Jahre und, im Anschluss an das zweijährige Bundeserziehungsgeld, zusätzlich ein Erziehungszuschlag in gleicher Höhe bis zum Ende des dritten Lebensjahres des Kindes;
2. sozialpädagogische Hilfe: Gesellige Gruppentreffen der allein erziehenden Mütter und Väter und ihrer Kinder mit Spielen, pädagogischen Gesprächen und - wenn gewünscht - Einzelberatung durch die Gruppenbetreuerin.

Die Mutter oder der Vater verzichtet auf ganztägige außerhäusliche Erwerbstätigkeit. Sie betreuen ihr Kind in dessen ersten drei Lebensjahren stattdessen selbst. Die staatlichen Geldmittel werden also direkt der Mutter bzw. dem Vater und dem Kind gegeben, statt damit Institutionen der Fremdbetreuung des Kindes zu finanzieren.

Materielle Sicherung. Die allein erziehenden Mütter und Väter empfangen die in der Bundesrepublik durch Rechtsanspruch gesicherten finanziellen Hilfen („Sozialhilfe"-Regelsätze sowie den Mehrbedarfszuschlag für allein erziehende Mütter/Väter und ihr Kind, Mietzahlung, Beihilfen für Bekleidung, für Heizkosten und bei besonderen Belastungen, Beiträge zur Kranken- und Sozialversicherung), dazu aus Landesmitteln einen „Erziehungszuschlag".

Durchführung des Programms. In regelmäßigen Abständen treffen sich die Mütter oder Väter und ihre Kinder mit den Betreuerinnen zu gemeinsamen Veranstaltungen von jeweils etwa zwei Stunden Dauer an Nachmittagen. Weiterhin finden etwa im Abstand von drei Monaten Wochenendfreizeiten statt. Während der Zusammenkünfte werden allgemeine Fragen der Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes, der Ernährung, der Betreuung und Erziehung besprochen. Ferner wird beispielsweise Mutter-Kind-Turnen angeboten, es wird musiziert und gesungen. Finger- und Kreisspiele und Kinderverse werden gelernt, Kasperle-Theater gespielt, die jahreszeitlichen Feste gefeiert usw.

Besonders angesprochen werden Probleme, die speziell mit der Betreuung eines Kindes durch einen allein erziehenden Elternteil zu tun haben, beispielsweise:
-  Erziehung zur Selbständigkeit, z. B. Allein-Essen, selbständiges An- und Ausziehen (um Überbehütung zu vermeiden);
- gemeinsame Besuche bei Großeltern, Verwandten, Freunden mit Kindern (um die Isolation und eine Fixierung von Mutter und Kind aufeinander zu vermeiden);
- Aufbau einer Beziehung zum Kind auf breiter Basis: gemeinsame Tätigkeit von Mutter/Vater und Kind, Besuch auf dem Spielplatz und im Schwimmbad, Balancieren, Klettern, Gespräche, Bilderbücher-Anschauen, Vorlesen, gemeinsames Einkaufen, Zoo-Besuche, also vielfältige Anregungen für das Kind („Stimulation").

Da alle allein erziehenden Elternteile in ähnlicher Lebenslage sind, bilden sich bei den Treffen vielfach engere Bekanntschaften und Freundschaften zwischen den Erziehenden und nach und nach auch zwischen den Kindern. Dies wirkt Gefühlen des Verlassenseins, der Einsamkeit und der sozialen Isolation entgegen. Das häufige Zusammensein der Kinder miteinander in Gegenwart ihrer Mütter oder Väter fördert auch die Fähigkeit der Kinder, zunehmend länger in einer Kindergruppe zu sein. Neben dem Beobachten und Nachahmen des Einzelspiels entwickelt sich nach und nach auch das spontane Spielen mehrerer Kinder miteinander. Das erleichtert später den Übergang in den Kindergarten. Die Gruppentreffen sind das soziale Kernstück des Programms „Mutter und Kind" und daher für die Teilnehmerinnen verbindlich.

Kontaktbesuche. Einen weiteren Bestandteil des Programms „Mutter und Kind" bilden von Beginn an regelmäßige Kontaktbesuche der Betreuerinnen bei den Müttern bzw. Vätern mit Gelegenheit zum Gespräch über persönliche Fragen wie Wohnungssuche, Beziehungsprobleme mit den Eltern oder mit Partnern, Berufsfragen, rechtliche Fragen, Sorgen hinsichtlich der Gesundheit des Kindes. Wichtig sind auch Gespräche über Arbeitsplatzsuche und Weiterbildung. (Dieser Teil des Programms „Mutter und Kind" entspricht als Hilfsangebot auch dem Recht auf Beratung, das von dem neuen Schwangeren- und Familienhilfegesetz vorgesehen ist.) Die Kontaktbesuche im vertrauten Bereich der eigenen Wohnung werden von den allein erziehenden Eltern nicht als unangenehme Kontrolle empfunden, sondern vielmehr als Möglichkeit, sich auszusprechen und Information über Fragen zu erhalten, die sie bedrängen. Sie stellen - zusammen mit den Gruppentreffen - für viele Frauen und Männer ein zusätzliches soziales Netzwerk dar.

Unterstützung in Einzelfällen. Mitunter setzen sich die Betreuerinnen auch unmittelbar für Kind und Mutter/Vater ein, beispielsweise durch die Vorsprache bei Behörden oder durch die Aufnahme der Verbindung zu Ärzten.
Das Programm „Mutter und Kind" ist seit seiner Einführung im Jahre 1975 auf Mütter bzw. Väter zugeschnitten, die ihr Kind gern selbst betreuen möchten, dies auch selbständig oder mit gewisser Unterstützung zu leisten vermögen und die bereit sind, mit den Betreuerinnen zu kooperieren. Sie sollten einen Beruf erlernt haben bzw. sich als Auszubildende bewähren. Für Mütter und Väter, die spezielle Probleme in ihrer Lebenssituation haben, sind um der Kinder willen andere Hilfen notwendig.
Die Ausgestaltung und Betreuung der Mutter-Kind-Gruppen wird zum Teil von den Stadt- und Landkreisen mit ihren zuständigen Jugend- und Sozialämtern wahrgenommen, zum Teil von freien Trägern wie Institutionen der katholischen oder evangelischen Kirche, vom Roten Kreuz, der Arbeiterwohlfahrt (AWO) oder anderen sozial engagierten Verbänden.

Zusammenfassung. Das Programm „Mutter und Kind" gewährt der allein erziehenden Mutter bzw. dem allein erziehenden Vater und dem Kind drei Jahre, um miteinander eine sichere Mutter/Vater-Kind-Bindung aufzubauen. Statt dass der Staat seine Geldmittel für Institutionen der Fremdbetreuung wie Krippen oder Tagesmütter einsetzt, bietet er hier die Mittel direkt den in Not befindlichen allein erziehenden Eltern und ihrem Kind an. Damit erhält die Mutter bzw. der Vater eine echte Wahlmöglichkeit zwischen den Alternativen:
-  außerhäusliche Ausbildungs- oder Erwerbstätigkeit, kombiniert mit Fremdbetreuung des Kindes, oder
-  eigene Übernahme der Betreuung und Erziehung des Kindes von Geburt an bis zur Kindergartenreife, kombiniert mit materieller Sicherung, sozialpädagogischer Betreuung und der Unterbrechung der Ausbildung bzw. der Berufstätigkeit. Bei der Suche bzw. Sicherung eines Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatzes nach dieser Unterbrechung leisten die Betreuerinnen und das Arbeitsamt, soweit gewünscht, Unterstützung. Hierbei spielt die Weiterbeschäftigungsgarantie nach dem Erziehungsurlaub eine wichtige Rolle.

Den Kindern ermöglicht das Programm „Mutter und Kind":
-
den Aufbau und das Erhaltenbleiben (die Konstanz) der sicheren Bindung an die leibliche Mutter bzw. den Vater; Erfahrung von Liebe, Geborgenheit und Kontinuität auch in Familien mit nur einem Elternteil (Urvertrauen);
- das Gefühl, ein geliebtes, geschätztes, an erster Stelle der Werteskala der Mutter bzw. des Vaters stehendes Familienmitglied zu sein (Basis des Selbstwertgefühls);
-  intensive, vielfältige Partnerschaft (Interaktion) mit der Mutter oder dem Vater in den ersten drei Lebensjahren (Spielen, Spracherwerb, Gewinn von Selbständigkeit und sozialem Verhalten, erste Wertvorstellungen).

Das Programm „Mutter und Kind" entlastet Kinder von:
-
täglicher Fremdbetreuung in Tagespflege;
- Wechsel der Tagespflegestellen, d. h. Verluste wichtiger, manchmal der wichtigsten Bezugspersonen, z. B. wegen Kündigung, Umzug oder unüberwindbarer Differenzen zwischen den Erwachsenen;
- Konflikten und Orientierungsschwierigkeiten wegen unterschiedlicher Betreuungs- und Erziehungsmethoden und -ziele von Mutter/Vater und Tagesmutter;
- Gefühlen des Zurückgesetztseins hinter Kindern der Tagesmutter (Eifersucht);
- Belastungen durch Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Mutter/Vater und Tagesmutter;
- zu geringer individueller Zuwendung und Ansprache infolge zu geringer Anzahl von Betreuerinnen in Krippen und Krabbelstuben;
- allgemeiner Unruhe und Stress in diesen Institutionen;
- einem erhöhten Krankenstand in Krippe und Krabbelstube.

Den Müttern/Vätern ermöglicht das Programm „Mutter und Kind":
-
den zur leiblichen Elternschaft gehörenden seelischgeistigen Anteil und damit die sichere Bindung des Kindes vorrangig an die Mutter bzw. den Vater anstatt etwa an die Tagesmutter;
-  das Miterleben der Entwicklung des Kindes; einfühlsame Abstimmung mit ihm durch das Kennenlernen seiner Wesensart;
- Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen, zusammen mit dem Kind, zu Verwandten und zu befreundeten Familien mit Kindern;
- die Erziehung des Kindes nach den eigenen Vorstellungen, Werten und Idealen;
- den Gewinn an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl durch die Übernahme und Bewältigung der Erziehungsaufgaben und Haushaltsführung;
- Gewinn an Selbstachtung durch die Zugehörigkeit zum Programm Mutter und Kind: Das ist ein anderer Status, als lediglich Empfänger von Sozialhilfe zu sein.

Das Programm „Mutter und Kind" entlastet Mütter/ Väter von:
-
der Dreifachbelastung durch die Betreuung des Kindes, die Berufstätigkeit und die Hausarbeit;
- der Abhängigkeit von einer Pflegemutter aus Sorge vor der Kündigung des Betreuungsverhältnisses und vor dem damit verbundenen Bezugspersonenverlust und -Wechsel für das Kind;
- dem Hinnehmen etwaiger, nicht von der Mutter/dem Vater gutgeheißener Erziehungsmethoden der Pflegemutter, womöglich nur mühsame Kompromissfindung; die Sorge um das Wohlergehen des Kindes während täglicher langer Trennungszeiten.

Wiederaufnahme der Berufstätigkeit der Mutter/des Vaters nach Ablauf des Programms „Mutter und Kind". Es gehört ausdrücklich zu den Ausführungsrichtlinien des Programms „Mutter und Kind", dass die Teilnehmerinnen darauf aufmerksam gemacht und darin beraten und unterstützt werden, zu gegebener Zeit ihre Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Für Mütter oder Väter, die schon vor ihrem Erziehungsurlaub berufstätig waren, besteht eine Weiterbeschäftigungsgarantie. Im Jahre 1995 haben - um ein Beispiel zu nennen - 75 Prozent der entsprechend berechtigten Mütter bzw. Väter diese Möglichkeit wahrgenommen. Dies widerlegte auch die vereinzelt geäußerte Befürchtung, dass durch das Programm „Mutter und Kind" „Sozialhilfe-Karrieren" angebahnt würden. Als schwieriger erwies sich die Arbeitsplatz-Suche für Mütter, die beim Eintritt der Schwangerschaft noch keine Berufsausbildung begonnen hatten. Gegebenenfalls mussten sie entsprechend ihrem Status als ungelernte Hilfskräfte arbeiten. Allgemein ist es wichtig, den allein erziehenden Müttern oder Vätern bei der späteren Wiedereingliederung in das Berufsleben zu helfen. Der öffentliche Dienst, die Gewerkschaften, kirchliche und weitere Institutionen müssen durch übereinstimmende Willensbildung und entsprechende Maßnahmen Ausbildungs- und Arbeitsplätze bereitstellen und mit Müttern oder Vätern besetzen, die um der Betreuung ihres Kindes willen zeitweilig ihre Berufstätigkeit unterbrochen hatten. Auch bei Halbtagsarbeit sollte es sich um Versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse handeln.

Eine unerwartete Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes bedeuten für allein erziehende Elternteile in vielen Fällen einen tiefen Einschnitt in die zuvor gefassten Lebenspläne. Wie dann auch die folgenden Entscheidungen ausfallen - sie haben, wie zu Beginn des Abschnitts über allein erziehende Eltern beschrieben, großen Einfluss auf die gesunde Entwicklung des Kindes und auf die Lebensgestaltung der allein erziehenden Mutter bzw. des allein erziehenden Vaters. Das Programm „Mutter und Kind" liefert dank der fünf aufeinander abgestimmten Prinzipien - ganztägige Kindbetreuung, Unterbrechung der Berufstätigkeit, Sicherung des wirtschaftlichen Auskommens, gemeinsame Mutter/Vater-Kind-Veranstaltungen mit einer Betreuerin, Einzelberatung in persönlichen und beruflichen Problemen - die bislang beste Kombination von Bedingungen, um einer möglichen Vernachlässigung des Kindes vorzubeugen und einen glücklichen Entwicklungsstart für Kind und Mutter/Vater und für deren gemeinsame seelisch-geistige Beziehung zu gewährleisten.

In Baden-Württemberg besteht das Programm „Mutter und Kind" nun schon seit mehr als 25 Jahren. Seine Akzeptanz ist groß, sowohl bei den teilnehmenden jungen Müttern als auch in den verantwortlichen Organisationen und staatlichen Instanzen. Erhebungen im Rahmen einer Diplomarbeit über das Mutter-Kind-Programm und einer Untersuchung der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg erbrachten positive Stellungnahmen zur Gruppenbetreuung durch 83 Prozent und zur Einzelbetreuung durch 95 Prozent der befragten Teilnehmerinnen. Mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen wünschte sogar eine freiwillige Nachbetreuung (39 Prozent durch Gruppenbetreuung, 20 Prozent durch Einzelbetreuung) durch die ehemalige Gruppenbetreuerin. Diese Einrichtung hat sich inzwischen so bewährt und sich so positiv auf zahlreiche Kinder und ihre allein erziehenden Eltern ausgewirkt, dass es nun an der Zeit wäre, dieses Programm auch in anderen Bundesländern einzuführen und allein erziehenden Müttern und Vätern zugänglich zu machen und als Unterstützung anzubieten.

 

aus: Kindern geben, was sie brauchen von Bernhard und Helma Hassenstein, Herder, 4. Aufl. 2003

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Anschrift der Verfasserin:
Helma Hassenstein, Herchersgarten 19
79249 Merchausen bei Freiburg

s.a. Auszüge aus »Verhaltensbiologie des Kindes«

 

 

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