FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2000

 

Versuch einer Zusammenfassung über
den kasuistischen und den statistischen Ansatz

von Prof. Dr. Klaus Hartmann (Nov. 00)

 

Vorbemerkung: Während in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie noch über die prinzipiellen Unterschiede nomothetischer Naturwissenschaft und idiographischer Geisteswissenschaft gestritten wird, war die Forschungsarbeit Klaus Hartmanns, der als Mediziner aus der naturwissenschaftlichen und als Psychoanalytiker aus der geisteswissenschaftlichen Tradition kommt, immer beides: statistische Feldforschung und kasuistische Hermeneutik. Über diesen integrativen Ansatz, den wir als seine Schüler weiterverfolgen, reflektiert er im 8. Kapitel seiner einzigartigen Langzeituntersuchung “Lebenswege nach Heimerziehung - Biographien sozialer Retardierung” (Freiburg, 1996).
K.E. (Nov. 00)


In Kapitel 4.4 wurden der statistische und der kasuistische Ansatz gegenübergestellt, in Kapitel 6 an Beispielen aus Forschungsbeiträgen (so dem von Robins und von Pongratz und Hübner) auch Probleme der beiden Ansätze aufgezeigt.

Prototypisch läßt sich der unterschiedliche Ansatz der statistischen Diagnose und der kasuistischen Beschreibung vielleicht am Beispiel der Biographie von Jean Genet (1910-1986) von Edmund White darstellen. Edmund White hat die Lebensgeschichte von Jean Genet, »der als Homosexueller und Krimineller verschrien war, schon jetzt aber als der wohl größte Dichter Frankreichs im 20. Jahrhundert gilt« (Klappentext), dokumentiert.

Die psychiatrische Klassifikation fällt schwer. Der Psychiater Henry Claude in einem Gutachten über den 32jährigcn Jean Genet: »Somit ergibt sich nach dem Gespräch mit ihm und der Untersuchung, der ich ihn unterzogen habe, daß er kaum einem Typus entspricht, der vom Standpunkt der Psychiatrie aus richtig zu klassifizieren ist. Alle Klassifizierungen haben zudem etwas Künstliches, aber wir müssen sie benutzen, da es notwendig ist, mit der Realität in Fühlung zu bleiben. So gesehen, würden wir Genet gern in der Kategorie von Menschen angesiedelt sehen, die, ohne wirklich wahnsinnig zu sein, dennoch in die unendlich große und mannigfaltige Klasse von Menschen eingereiht werden können, die man unter >moralisch Verrückte< zusammenfassen könnte ...«

Diese Diagnose, die auf Prichards »moral insanity« zurückgeht, wird heute nicht mehr gestellt. Nach den »neuen Klassifikationen« sind, wenn man von Genets Schlafmittelabusus (vorzugsweise Nembutat) absieht, insonderheit zwei psychiatrische Diagnosen zu diagnostizieren: »Dissoziale Persönlichkeitsstörung« (ICD-10/F60.2) und »Andere psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (homosexuell)« (ICD-10/F66.81). Beide Diagnosen sind problematisch.

Zur ersten Diagnose: Genets Lebensgeschichte ist unstrittig die Geschichte einer kriminellen Karriere. Wegen seiner langen Vorstrafen von lebenslanger Haft bedroht und nach einer spektakulären Petition Jean-Paul Sartre, Jean Cocteau und anderen) begnadigt, wurde er zum Schriftsteller der Subversion hochstilisiert. »An Genet«, so Jürg Altwegg, »wurde von Sartre ein existentialistisches Exempel statuiert: der Diebstahl als Revolte, die Homosexualität als Wahl...« Doch war sein Dasein eine armselige Existenz im sozialen Abseits. Unehelich geboren, noch nicht einjährig der Öffentlichen Fürsorge überstellt, führte er ein unruhiges Leben. Nach Aufenthalten in Erziehungsheimen, Gefängnissen und Kliniken (unter anderem der Klinik von Georges Heuyer, dem Inhaber des ersten europäischen Lehrstuhls für Kinderpsychiatrie) vagabundierte er durch ganz Europa. Später - zum Zeitpunkt des öffentlichen Pardons hatte er bereits die meisten seiner Gedichte und seine fünf großen Romane geschrieben, teilweise auf Packpapier im Zuchthaus - wurde er durch seine Theaterskandale berühmt, dann auch vermögend. Doch wechselte er zeitlebens von Hotel zu Hotel und starb schließlich auch in einem Hotelzimmer an Kehlkopfkrebs. Jean Genet verwahrlost auch als Patient: »Genet weigerte sich, das Rauchen aufzugeben und schockierte andere Kehlkopfkrebspatienten mit seiner Unnachgiebigkeit, wenn er im Krankenhaus in Paris Villejuif mit einer brennenden Zigarette in der Hand zur Therapie erschien« (Edmund White).

Genets Entwicklung war also auch eine unstrittig dissoziale Entwicklung. Trotzdem ist die - aus der Gleichsetzung der Gefühls- und Willensveranlagung mit dem Charakter abgeleitete - Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ein Ärgernis, weil die Persönlichkeit nicht durch die Gefühls- und Willensveranlagung definiert, jedenfalls nicht durch Defizite der Gefühls- und Willensveranlagung korrumpiert werden kann. (Kapitel 3.8)

Zur zweiten Diagnose: Bereits als Kind zeigte Genet Verhaltensweisen im Sinne einer »fehlenden Übereinstimmung mit dem stereotypen geschlechtsspezifischen Verhalten« (DSM-III-R: Störung der Geschlechtsidentität in der Kindheit; ICD-10: Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters). Er berichtete, daß er gern unter Mädchen und Frauen war. Mit einem Nachbarmädchen entwarf er Kleider, backte er Kekse, dachte er sich Rezepte aus; mit der Freundin Marie-Louise organisierte er Teegesellschaften, zu denen nur Mädchen zugelassen waren. Nach seiner Homosexualität befragt, erklärte er: »Was meine Homosexualität betrifft, so bin ich außerstande, Ihnen zu sagen, warum ich homosexuell bin. Darüber weiß ich nichts. Wer weiß schon, warum er homosexuell ist?...« An anderer Stelle: »Ich liebte Jungen bereits, als ich sehr jung war, obwohl ich mich in der Gesellschaft von Mädchen und Frauen wohlfühlte. Die früheste Liebe, an die ich mich erinnern kann, nahm die Form eines Wunsches an, ein hübscher junger Bursche mit energischen, entschlossenen Bewegungen zu sein, den ich einmal vorbeiradeln sah, und meiner Hemmungslosigkeit, wenn ich mir vorstellte, wie das wäre, er zu sein. Ich war zehn oder elf.«

Auch Genets Homosexualität ist also unzweifelhaft. Aber die Dokumentierung seiner homosexuellen Orientierung fällt in beiden Klassifikationssystemen noch problematischer aus als die seiner sozialen Retardierung: Gerät die Identifizierung seiner sozialen Retardierung als Persönlichkeitsstörung zu einer Denunziation, so gerät die Dokumentierung seiner homosexuellen Orientierung zu einer Farce: Weil die Diagnose einer Homosexualität als eine »diskriminierende Diagnose« (ICD-10) gilt, darf bei homosexueller Orientierung allenfalls eine Verhaltensstörung in Verbindung mit der homosexuellen Orientierung, keinesfalls die homosexuelle Orientierung selbst als eine Störung im Sinne der Klassifikation identifiziert werden. (Während im Kindesalter die fehlende Übereinstimmung mit dem stereotypen geschlechtsspezifischen Verhalten - von der nach dem DSM-III-R bekannt ist, daß ein bis zwei Drittel und mehr dieser Jungen in der Adoleszenz, wie Jean Genet, homosexuelle Neigungen entwickeln - ohne Einschränkungen als eine solche klassifiziert wird!)

Beispiel eines von »political correctness« diktierten Oktrois in der psychiatrischen Diagnostik! »Sicher, es gibt Schlimmeres ... als das derzeitige Faible für politisch korrekte Sprache«, bemerkt Robert Hughes (Robert Hughes 1993) über »political correctness«, »aber wenig anderes«, fährt er fort, »ist so absurd ...« Dem ist zuzustimmen, schließlich läuft auch die Ignorierung einer sexuellen Orientierung auf eine Diskriminierung hinaus!

Von diesen Ärgernissen abgesehen, ist ein Grundproblem der psychiatrischen Diagnostik zu bedenken: Daß die psychiatrische Diagnose (anders als die körpermedizinische Diagnose) einer typologischen Diagnose gleichkommt. Im DSM-III-R wird dieser Sachverhalt verleugnet: »Ein verbreitetes Mißverständnis besteht in der Annahme, ein Klassifikationssystem für psychische Störungen klassifiziere Individuen; in Wirklichkeit geht es jedoch darum, Störungen zu klassifizieren, die bei Individuen vorliegen« (Seite 10). Doch ist unübersehbar, daß sich in jeder psychischen Äußerung die psychische Individualität zeigt, auch wenn die typologische Diagnose nunmehr »eine tangentiale und nicht eine direkte Beziehung zur Individualität hat«, wie es Allport treffend formulierte.

Allport hat den Sachverhalt an einem Diagramm veranschaulicht (Abb. 21).

Abb. 21: Interaktion von Typologie und Individualität nach Allport 1949
Karl, nehmen wir an, ist richtig klassifiziert zu vier Typen. Er ähnelt A, B, C, D in körperlichen Merkmalen und anderen Individuen E, V, G, H in bezug auf seine Introversion, noch anderen im Vorstellungstyp und anderen in Berufsinteressen. Jede Klassifikation ist korrekt, aber Karl als Individuum ist nicht erfaßt.

Jeder Mensch ist eben je nach verschiedenen Aspekten a) wie alle anderen Menschen, b) wie einige andere Menschen, c) wie kein anderer Mensch. Jean Genet ist je nach verschiedenen Aspekten wie alle Menschen, bezüglich seiner sozialen Retardierung oder homosexuellen Orientierung wie viele andere Menschen, aber in der Art und Weise, wie er seine homosexuelle Orientierung und seine soziale Retardierung lebt und sich seine gesamte Persönlichkeit entwickelt, wie niemand anderes auf der Welt.

In der Annäherung an diese individuelle Einzigartigkeit eines Menschen liegt der unvergleichliche Reiz der biographischen Methode. Erst die biographische Methode macht das Typische in der einmaligen, individuellen, lebendigen Erscheinung sichtbar. Was bleibt vom Allgemeinen ohne das Besondere? Robert Musil: »...es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat.«

Andererseits ist das Verständnis des Besonderen wiederum auf das Allgemeine angewiesen. Das Allgemeine kann zwar nur im Besonderen verstanden werden; aber es ist ungewiß, ob es im Besonderen richtig verstanden wird. So bleibt der Interpret auf Absicherung angewiesen. Zum Beispiel auf methodologische Regeln, wie sie Eberhard für die Absicherung hermeneutischer Deutungen formuliert hat (Eberhard 1990), nicht zuletzt auf statistische Analyse, auf die Zählung von Häufigkeiten und Korrelationen!

Es lassen sich mehrere Interaktionsaspekte der beiden Ansätze hervorheben.

Informationsaspekte: Was leisten die beiden Vorgehensweisen für die Beschreibung von Sachverhalten? Die Einzelfallstudie kann eruieren, ob ein bestimmtes Merkmal, zum Beispiel Weglaufen, im Einzelfall vorkommt, und ob es mit anderen Merkmalen, zum Beispiel Rückfälligkeit, im Einzelfall koinzidiert. Die Kohortenstudie kann eruieren, ob diese Inzidenz und Koinzidenz überzufällig ist. Weil sich aber perfekte Korrelationen bei sozialpsychiatrischen Befunden - das heißt, solche mit Korrelationskoeffizienten in der Nähe von r = + l ,0 - so gut wie niemals finden (Amelang 1986), können die in einer Kohortenstudie als signifikant erkannten Merkmale und Merkmalskombinationen im Einzelfall auch fehlen; das heißt, im Einzelfall kann Weglaufen auch ohne Rückfälligkeit und Rückfälligkeit auch ohne Weglaufen registriert werden, und beide können auch einmal fehlen.

Interpretationsaspekte: Was leisten die beiden Vorgehensweisen für die Interpretation von Sachverhalten? Die Überlegenheit des statistischen Ansatzes schützt nicht vor Fehldeutungen des Zusammenhangs. So liegt es nahe, aus einer in Kohortenstudien als wahrscheinlich registrierten Koinzidenz, beispielsweise von Weglaufen und Rückfälligkeit, das Merkmal Weglaufen als eine Bedingung des Merkmals Rückfälligkeit zu interpretieren. Doch könnten beide von einer Drittvariablen abhängen, auf deren Variation der Zusammenhang zwischen Weglaufen und Rückfälligkeit beruht.

Beschreibungsmodalitäten: Wie ist eine Krankheitsgeschichte, wie eine Krankengeschichte darzustellen? Wer eine Krankengeschichte schreibt, muß Komplexität ausbreiten, wer eine Krankheitsgeschichte schreiben möchte, Komplexität reduzieren. Der Unterschied wurde an der Beschreibung der Wohnlage von Wohnungen interviewter Probanden dargestellt. In kasuistischen Darstellungen soziopathischer Dissozialität sind die vielen möglichen Wohnlagen zu beschreiben, in einer statistischen Darstellung die vielen möglichen Wohnlagen auf wenige auszählbare Kategorien von Wohnlagen zu reduzieren. Der kasuistische Erfassungsmodus zielt auf die Komposition von Wahrnehmungsdetails zu Wahrnehmungsgestalten, der statistische Erfassungsmodus auf die De-Komposition von Wahrnehmungsgestalten zu quantifizierbaren Wahrnehmungsdetails. Der kasuistische Erfassungsmodus wird insofern als ein idiographischer oder synthetischer, der statistische Erfassungsmodus insofern als ein nomothetischer oder reduktionistischer Erfassungsmodus bezeichnet.

Nutzanwendungen: Was versprechen die beiden Erfassungsmodalitäten, Kohortenstudie, Einzelfallstudie, für die Praxis? Der Jugendpsychiater wird in Beratungsgesprächen, auch in foro, vor allem nach der Entwicklungsprognose eines dissozialen Jugendlichen gefragt. Für ihn sind beide Studien wichtig. Statistische Arbeiten instruieren über die statistische Prognose. Kasuistische Studien geben zu bedenken, daß es im Einzelfall immer Ausnahmen vom statistischen Regelfall gibt. »Jeder Patient, der zur Behandlung oder zur Begutachtung kommt, konfrontiert uns mit der Antinomie von Individualität und Regeln« (Bochnik 1987).

Wie sich Übereinstimmungen in der statistischen Prognose und Unterschiede im kasuistischen Verlauf kombinieren können, demonstrieren die ersten beiden Fallberichte. Beide Berichte demonstrieren außerdem, wie, je nach Interesse und Sichtweise, mehr die Gemeinsamkeiten oder mehr die Unterschiede wahrgenommen werden. Aus wissenschaftlicher Perspektive interessieren mehr die Gemeinsamkeiten, aus der literarischen mehr die Unterschiede.

Nochmals Robert Musil: »Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller«, räsonierte er, und beide »Geistesverfassungen« hielt er schlechthin für unvereinbar. »Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz« (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften).

In: Lebenswege nach Heimerziehung, Rombach, 1996

 

 

 

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