FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2006

 

Besonderheiten im Essverhalten von Pflegekindern

von Mechthild Freier
und Stefanie Bödeker

 

Vorbemerkung: Essensstörungen bei Kindern nehmen allgemein zu. Bei Pflegekindern sind sie sehr resistent, weil sie dort nicht nur durch besonders tiefgreifende Ursachen geprägt wurden (Vernachlässigung, Mißhandlung, Mißbrauch in der Herkunftfamilie), sondern auch gegenwärtig wichtige Kompensationsfunktionen erfüllen (z.B. Befriedigung emotionaler Nachholbedürfnisse unter Beibehaltung der Bindungsvermeidung). Deshalb bringen wir hier einen Artikel von Frau Prof. Dr. Stefanie Bödeker und der Oecotrophologin und Ernährungsberaterin Mechthild Freier, in dem sie über ein interessantes ernährungswissenschaftliches Projekt der Hochschule Niederrhein für Pflegeeltern von essgestörten Kindern berichten.
(K.E. Dez. 2006)


„Es dauert sehr lange, bis die Kinder verstanden haben, hier musst du nicht hungern.“ – Pflegekinder haben häufig traumatische Erfahrungen gemacht, auch in Bezug auf die Ernährung: keine regelmäßigen, altersgerechten und/oder warmen Mahlzeiten, zeitweise auch Hunger. Daraus erwächst ein scheinbar grenzenloses Nachholbedürfnis, das Pflegeeltern vor schwierige Aufgaben stellt.

Laut Statistischem Bundesamt waren am 31. Dezember 2000 49.000 junge Menschen bis 26 Jahre bundesweit in Vollzeitpflege in einer anderen Familie untergebracht, 20 Prozent davon bei Verwandten, 80 Prozent in einer fremden Pflegefamilie. Mehr als die Hälfte der Kinder (27.300) waren unter zwölf Jahre alt.

Die spezielle Situation von Pflegekindern
Die Kinder kommen aus Familien, die ohne tragfähiges soziales Netzwerk leben, auf das sie in Extremsituationen, sei es Krankheit oder Familienprobleme, zurückgreifen und sich Rat und Unterstützung holen können. Oft suchen die Eltern das Jugendamt auf, wenn sie sich in ihrer Lebenssituation und mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert fühlen. Andererseits wird das Jugendamt auch zum Beispiel durch Nachbarn oder die Polizei eingeschaltet, wenn die Vermutung besteht, dass die Eltern ihre Kinder vernachlässigen. Je nach Situation werden die Kinder kurz-, mittel- oder langfristig in einer Pflegefamilie untergebracht. In den Herkunftsfamilien erfahren die Kinder keine ausreichende Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse (Tab. 1). Zudem machen sie nicht selten traumatische Erfahrungen (z. B. durch Misshandlungen). Auch der Bereich der Ernährung ist betroffen: Kinder aus Problemfamilien kennen oft keine warmen Mahlzeiten, keine regelmäßigen Mahlzeiten, ihre Mahlzeiten sind in der Ursprungsfamilie nicht altersgerecht und es gibt Zeiten, in denen sie Hunger leiden. Kommen diese Kinder in Pflegefamilien, so zeigt sich ein scheinbar grenzenloses Nachholbedürfnis. Immer wieder beobachten Pflegeeltern bei ihren Pflegekindern auffällige Verhaltensweisen. Dazu gehören auch sehr ungewöhnliche und extreme Essgewohnheiten. Je nach Alter der Kinder, Intensität und Dauer dieser Essgewohnheiten wächst die Sorge der Pflegeeltern um mögliche gesundheitlichen Folgen. Sie stellen sich die Frage, ob sie sich richtig verhalten oder wie sie sich verhalten sollten.
 

Tabelle 1: Grundbedürfnisse von Kindern (Sauer 2006)

  • Liebe, Akzeptanz und Zuwendung
  • Stabile Bindungen
  • Ernährung und Versorgung
  • Gesundheit und Gesundheitsfürsorge
  • Schutz vor materieller und sexueller Ausbeutung
  • Wissen, Bildung und hinreichende Erfahrung


Das Projekt „Ernährungsberatung für Pflegeeltern“
Der Pflegekinderdienst der Stadt Mönchengladbach nahm sich im Jahr 2004 dieser Sorgen und Unsicherheiten der Pflegeeltern an und entwickelte die Idee, Ernährungsthemen in das örtliche Fortbildungsangebot für Pflegeeltern aufzunehmen. Als Kooperationspartner fungierte der Fachbereich Oecotrophologie der Hochschule Niederrhein. Unter der Leitung von Prof. Dr. Stefanie Bödeker wurde das Thema „Ernährungsberatung für Pflegeeltern“ von Studierenden der Hochschule Niederrhein im Rahmen einer Diplomarbeit und des Projektseminares „Lebensweltorientierte Ernährungsberatung“ bearbeitet. Projektseminare bieten Studenten die Gelegenheit, Themen aus der Praxis für die Praxis unter Anleitung zu bearbeiten und so im Studium erste Erfahrungen in der Beratungsarbeit zu sammeln. Das Projektseminar „Lebensweltorientierte Beratung“ legt dabei besonderen Wert auf spezifische Lebenssituationen von Ratsuchenden (u. a. Pflegeeltern, Pflegekinder, Behinderte in Wohngruppen). Im ersten Schritt galt es, den Bedarf an Ernährungsinformation und -beratung zu konkretisieren und die Auffälligkeiten, die im Essverhalten von Pflegekindern auftreten können, ihre Erscheinungsformen, Hintergründe und Ansätze zur Lösung zu ermitteln und zu dokumentieren. Dies geschah im Rahmen einer Diplomarbeit. Die Ergebnisse wurden den Pflegeeltern an einem Informationsabend vorgestellt und diskutiert. Dabei wurde der Bedarf an ganz konkreten Empfehlungen für die Umsetzung im Familienalltag deutlich. Auf der Basis dieser Informationen entwickelten Studierende im zweiten Schritt einen praxisorientierten „Workshop Ernährung“ für Pflegeeltern.

Befragung der Pflegeeltern
Eine Literaturrecherche führte zu der Erkenntnis, dass es bisher keine systematische Erfassung und Darstellung zum Essverhalten von Pflegekindern gab. Vor diesem Hintergrund lag das Ziel der Diplomarbeit von Christine Meier (2004
) darin, die Auffälligkeiten im Essverhalten zu erfassen und zu beschreiben. Damit verfolgte die Studie eine explorative Zielsetzung. Sie versuchte zu erkennen, welche Strukturen und welche Elemente die Situation bestimmen. In Anbetracht der belastenden Erfahrungen von Pflegekindern kam eine unmittelbare Befragung oder Beobachtung der Kinder durch eine längere Anwesenheit in der Familie nicht in Frage. So richtete sich die Befragung an die Pflegeeltern. Als Befragungsmethode wählte Meier das qualitative Leitfadeninterview. Die Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. Der ergänzende Einsatz von Ernährungsprotokollen wurde wieder verworfen. Ernährungsprotokolle können zwar aussagekräftige Informationen über das tatsächliche Essverhalten liefern, aber bereits die Vorgespräche zeigten, dass dieser Aufwand die Pflegefamilien zu stark belastet hätte. Mit Unterstützung des Jugendamtes ließen sich neun Pflegemütter als Gesprächspartnerinnen gewinnen. Die neun Pflegemütter betreuten zum Zeitpunkt der Erhebung 13 Pflegekinder im Alter von 1,5 bis 14 Jahren. Alle Frauen verfügten über vielfältige und langjährige Erfahrungen.

Erfahrungen der Pflegeeltern
Das Essverhalten von Pflegekindern ist breit gestreut vom „Essen wie ein Scheunendrescher“ bis hin zur Nahrungsverweigerung. Die Auswertung der Befragung zeigt: Jedes Pflegekind ist ein Individuum und zeigt ein seinem Alter, seinem Temperament und seiner Vorgeschichte entsprechendes Verhalten.

Extremer Essensdrang
Auffällig ist der extreme Essensdrang. Er äußert sich in einer ausgeprägten Fixierung auf Nahrung. Die Kinder essen sehr gierig und verzehren teilweise riesige Portionen. Charakteristisch ist das Fehlen eines Mahlzeitenrhythmus und der Verlust des Hunger- Sättigungs-Gefühls. Die Fixierung auf das Essen zeigt sich in dem permanenten Verlangen nach Nahrung und einer übertriebenen Sorge um die nächste Mahlzeit. Bei starker Ausprägung halten sich die Pflegekinder ständig in der Küche auf und weichen der Pflegemutter beim Kochen nicht von der Seite. Zitat: „Sobald ich angefangen habe zu kochen, stand er neben mir in der Küche und schrie, bis das Essen fertig war. ... Ich hab ihm dann immer das, was ich gerade geschnitten habe, gegeben und sobald der Mund leer war, schrie er wieder. Erst nach Wochen wurde das besser, aber er blieb immer neben mir in der Küche stehen und wartete darauf, dass das Essen fertig wird.“ Besonders im unmittelbaren Vergleich mit leiblichen Kindern fällt den Pflegeeltern auf, dass viele Pflegekinder bei den Mahlzeiten maßlos sind und offensichtlich kein Sättigungsgefühl kennen. Als Ursache für den extremen Essensdrang lassen sich entsprechende Mangelerfahrungen in den Herkunftsfamilien vermuten. Einige Kinder haben eindeutig Hunger gelitten und kommen unterernährt in die Familie. Hier ist ein physiologisch begründeter Nachholbedarf nahe liegend. Die Kinder holen in kurzer Zeit enorme Wachstums- und Entwicklungsverzögerungen auf. Zitat: „Seit er bei uns ist, ist er tierisch gewachsen“. Allerdings ist der ausgeprägte Essensdrang in gleicher Weise bei Kindern zu beobachten, die „recht gut genährt“ sind. In diesen Fällen befürchten die Pflegeeltern, dass die bisherige Ernährung „mit viel Süßkram und Fertigprodukten“ sehr einseitig gewesen ist. Gleichzeitig bestätigen die Pflegeeltern den in der Literatur beschriebenen Zusammenhang zwischen Essverhalten und seelischpsychischem Gleichgewicht: Über das Essen befriedigt das Kind andere Bedürfnisse. Zitat: „Mit der Angst nichts zu essen zu bekommen, hat er etwas anderes kompensiert.“ Auch nach Besuchen bei den leiblichen Eltern kann der Essensdrang besonders stark ausgeprägt sein. Zitat: „Bei A. ist auffällig, dass sie immer montags und dienstags einen wahnsinnigen Essensdrang hat. Montags nachmittags besucht sie immer ihre Mutter. Das ist ganz kurios. Montags nach dem Besuch krieg ich sie kaum satt. Dienstags gegen Abend normalisiert sich ihr Essen dann wieder.“

Selbstversorgen, Horten und Verstecken von Lebensmitteln
Bei einigen Kleinkindern ist eine ausgeprägte Selbstständigkeit in der Versorgung zu beobachten. Die Kinder setzen bereits im Alter von ein bis eineinhalb Jahren ihre Energien für die aktive Suche nach Essbarem ein und erkunden sehr schnell, wo es Nachschub gibt, wie sich Höhenunterschiede überwinden lassen, wie Bananen zu schälen sind und dass Äpfel auch ungeschnitten essbar sind. Eine Pflegemutter bezeichnet ihr Pflegekind liebevoll als „Mogli“. Dieser Vergleich bringt die wesentlichen Merkmale auf den Punkt. Der hohe Grad an Selbstständigkeit ist sicher bezeichnend für den Grad der Vernachlässigung, den diese Kinder bereits erlebt haben, aber auch Ausdruck ihrer ungewöhnlichen Lebensenergie. Das Horten von Lebensmitteln geschieht dagegen eher in unbeobachteten Momenten und die Lebensmittel werden versteckt. Pflegekinder treffen damit ganz offensichtlich Vorsorge und verschaffen sich Sicherheit für Notfälle. Auch wenn diese Notfälle in der Pflegefamilie niemals eintreten – die Vorräte werden in der Regel nicht verzehrt – lässt sich das Bedürfnis nach Sicherheit nicht durch mündliche Zusicherung befriedigen. Der reale Lebensmittelvorrat in eigener Verfügbarkeit ist unersetzlich für die eigene Sicherheit. Pflegemütter, die Lebensmittelvorräte gewähren, sehen und bewerten das Verhalten auch entsprechend. Zitat: „Das gibt den Kindern Sicherheit und das ist dann auch in Ordnung so, ich lass ihnen das.“ Steht dieses Verhalten aber im Widerspruch zu den familiären Regeln („Lebensmittelvorräte gehören nicht ins Kinderzimmer“) oder es bestehen hygienische Bedenken, dann wird ein entsprechendes Verbot ausgesprochen.

Nahrungsverweigerung
Bei der Befragung wurden häufig zwei Formen von Auffälligkeiten bei Kindern im Kleinkindalter beschrieben, zum einen die totale Verweigerung der Nahrungsaufnahme und zum anderen die Ablehnung bestimmter Lebensmittel und Gerichte. In der Regel akzeptieren die Kinder die neuen Mahlzeiten und begrenzen ihre Ablehnung auf ausgewählte Lebensmittel. Etwas länger anhaltende Umstellungsschwierigkeiten treten auf, wenn Kinder nicht an warme Mahlzeiten oder nicht an Obst und Gemüse gewöhnt sind. Entsprechend zeigt sich eine Fixierung auf wenige den Kindern vertraute Lebensmittel, zum Beispiel „essen sie nur Brot mit der billigsten Fleischwurst“ (Zitat).

Sorgen und Unsicherheiten der Pflegemütter
Nahrungsverweigerung, extremer Essensdrang, Selbstversorgen, Horten und Verstecken von Lebensmitteln sind Verhaltensweisen, die eine Reaktion der Pflegeeltern erfordern. Durch ihre Intensität und Dauerhaftigkeit beunruhigen diese Verhaltensweisen, sie weichen von den bestehenden Regeln in der Familie ab und werfen immer wieder die Frage auf, wie Pflegeeltern diesem Verhalten richtig begegnen können. Eine Verweigerung der Nahrungsaufnahme kam bei den aktuell ausgewerteten Fällen nur als Eingewöhnungs- und Umstellungsschwierigkeit vor. Im Großen und Ganzen bereiten diese Umstellungsschwierigkeiten den Pflegeeltern keine Sorgen. Die Gewöhnung an geregelte und warme Mahlzeiten, das Ausprobieren neuer Lebensmittel erfordert seine Zeit, es wird aber alles in allem positiv erlebt und bewertet. Durch die Freude, mit der viele Kinder essen, lösen sich diese Schwierigkeiten in der Regel von selbst. Die totale Essensverweigerung beunruhigt Pflegeeltern dagegen sehr. Vor allem die vielen vergeblichen Versuche, das Kind zur Nahrungsaufnahme zu motivieren, belasten. Im Rahmen der vorliegenden Befragung ließ sich dieses Thema zwar nicht vertiefen, es zeigte sich jedoch auf dem Eltern-Informationsabend, dass die totale Nahrungsverweigerung ein Problem mit hoher Relevanz ist. Besonders in der Eingewöhnungsphase, bei Säuglingen und sehr jungen Kindern ist mit Unsicherheiten zu rechnen: „Was ist zu tun? Wie bewege ich die Kinder zum Essen und Trinken? Ist die verzehrte Menge ausreichend?“ Solche Fragen drängen in der akuten, zum Teil lebensbedrohlichen Situation sehr. Ansprechpartner sind Kinderärzte, Krankenhäuser und das Jugendamt. Beim extremen Essensdrang hingegen zweifeln Pflegemütter, ob es richtig ist, dem ständigen Verlangen nach Nahrung auch zwischen den Mahlzeiten nachzugeben. In Anbetracht der unglaublichen Mengen, die Pflegekinder im Verhältnis zu den leiblichen Kindern essen können, befürchten Pflegemütter eine übermäßige Gewichtszunahme. Ist der Hunger-Sättigungs-Mechanismus außer Kraft gesetzt, kann es vorkommen, dass die Kinder solange essen, bis sie sich erbrechen. Fragen, die sich Pflegeeltern dann stellen sind: „Ist diese Phase vorübergehend und wird sich das Verhalten normalisieren? Ist eine Entwicklung von dauerhaften Essstörungen vorgezeichnet? Ist es besser, zum Schutz der Kinder die Mengen zu begrenzen?“ Neben den Bedenken aus gesundheitlicher Sicht bringen die beschriebenen Verhaltensmuster zahlreiche Konflikte mit den familiären Gewohnheiten und Regeln mit sich. Gängige Regeln wie „Vor dem Essen gibt es nichts anderes mehr zu essen“, „Gegessen wird nur zu den Mahlzeiten und am Tisch“ oder „Alle fangen gemeinsam an“ stehen im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Pflegekinder, zum Beispiel Essen mit auf das Zimmer zu nehmen und heimlich zu essen. Neue Regeln müssen gefunden oder die Einhaltung der bestehenden Regeln eingefordert werden.

Bedarf an Ernährungsinformation und -beratung
Die Bereitschaft der Pflegeeltern über Auffälligkeiten im Essverhalten zu sprechen ist sehr groß. Die bisherigen Aktivitäten – Befragung, Eltern-Informationsabend, Workshop für Eltern und Kinder – belegen, dass die Pflegeeltern durchaus Bedarf an Ernährungsinformation und -beratung haben. So waren die Informationsveranstaltung und der „Workshop Ernährung“ sehr gut besucht. Dabei interessierten allgemeine Informationen weniger als Antworten auf sehr konkrete Fragen zu eigenen Erlebnissen. Das ergänzende Angebot, weitere Fragen in einer individuellen Ernährungsberatung zu klären, nahmen die Pflegeeltern jedoch nicht in Anspruch. Dies mag unter anderem daran liegen, dass mit der Aufnahme eines Pflegekindes viele zusätzliche Fragen zu klären sind. Aufgrund der vorliegenden Erfahrungen ist die aktive Nachfrage nach Ernährungsberatung aus eigener Initiative gering. Das Thema Ernährungsempfehlungen für Pflegekinder ist wichtig, aber es bedarf des Anstoßes von außen, zum Beispiel durch den Pflegeelterndienst.

Psychologisch-therapeutische Sichtweisen und Empfehlungen
Die Literaturrecherche zum Projekt zeigt, dass Pflegekinder sehr häufig aus Familien kommen, in denen ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Liebe, Akzeptanz und Zuwendung, stabilen Bindungen, Ernährung und Versorgung, Gesundheitsfürsorge und Schutz vor Gefahren nicht erfüllt wurden (Sauer 2006
). In Folge dieser Deprivationserfahrungen kommt es zu vielfältigen Entwicklungsrückständen (Tab. 2).
 

Tabelle 2: Potenzielle Entwicklungsrückstände bei Kindern mit Deprivationserfahrungen (nach Nienstedt, Westermann 1998)

  • Bindungsstörungen und Störungen der
  • Beziehungsfähigkeit
  • Störungen der motorischen Entwicklung
  • Störungen der Neugier, Aktivität und Initiative
  • Störungen der Sprachentwicklung und der akustischen Wahrnehmung
  • Mangelnde Empfindungsfähigkeit bzgl. des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle
  • Fehlende Frustrationstoleranz
  • Schlafstörungen


Bezogen auf die Ernährung kann das bedeuten: Die Kinder kennen keine warmen Mahlzeiten, keine regelmäßigen Mahlzeiten, ihre Mahlzeiten waren nicht altersgerecht, die Auswahl der Lebensmittel war sehr eingeschränkt und es gab Zeiten, in denen sie hungern mussten. In diesem Kontext werden der extreme Essensdrang, die frühe Selbstversorgung und das Horten und Verstecken von Lebensmittel und auch die Nahrungsverweigerung als Reaktion auf den zuvor erlebten Mangel interpretiert und bewertet. Auch fehlende emotionale Zuwendung kann die Ursache für die Entstehung einer ausgeprägten oralen Gier sein. Damit haben die Besonderheiten im Essverhalten eine physiologische und eine psychologische Komponente. Um diese Erfahrungen zu bewältigen, benötigen Pflegekinder intensive Unterstützung und Begleitung. Generell gilt in der pädagogischen und psychologischen Literatur: Pflegekinder brauchen eine verlässliche Versorgung. Das Leben in der Pflegefamilie bietet einen neuen Rahmen und die Chance, die Befriedigung lange vernachlässigte Bedürfnisse nachzuholen. Dabei unterscheiden Nienstedt und Westermann (1998) verschiedene Phasen der Integration:

  • In der Anpassungsphase verhält sich das Kind unauffällig, es passt sich den Wünschen und Erwartungen der Familie an.
  • In der Übertragungsphase überträgt das Kind seine Erfahrungen mit den leiblichen Eltern auf die Pflegeeltern. Nun zeigen sich die als problematisch erlebten Verhaltensweisen beim Essen besonders deutlich (Tab. 3). Nach Nienstedt und Westermann (1998) ist es wichtig, die Bedürfnisse des Kindes jetzt ständig und unbegrenzt zu befriedigen, um die früheren Erfahrungen zu korrigieren (Bemutterungsstrategie). Erst die Gewissheit „Hier werde ich immer versorgt, hier werde ich immer satt“ ermöglicht es dem Pflegekind, zu einem ganz normalen Essverhalten zurückzufinden und die Übertragungsbeziehung zu lösen.
  • In der Regressionsphase kehrt das Kind auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe zurück. So kann es vorkommen, dass Kleinkinder, die schon feste Nahrung zu sich nehmen können, wieder nach der Flasche verlangen. Dieses Verhalten kann als positives Zeichen gelten, denn aufbauend auf der Regression wird eine neue und verlässliche Eltern-Kind-Beziehung möglich (Integration).

Darüber hinaus ist es notwendig, die Kinder gezielt zu fördern, um die Entwicklungsrückstände aufzuholen (Förderungsstrategie). Zum Beispiel müssen Kleinkinder – auch wenn sie noch nach der Flasche verlangen – an eine altersgemäße Kost gewöhnt werden, damit sich ihre Kaumuskulatur entwickeln kann.
 

Tabelle 3: Zuordnung auffälliger Verhaltensweisen beim Essen zu den Phasen der Integration (nach Nienstedt, Westermann 1998)

Phase der Integration

Ausprägung

Zu erwartende Verhaltensweisen beim Essen

Anpassung

das Kind passt sich den Wünschen und Erwartungen der Familie an

das Kind verhält sich unauffällig und isst alles, was auf den Tisch kommt, hält sich an Regeln und isst gern

Übertragung

Negative Erfahrungen mit den leiblichen Eltern werden auf die Pflegeeltern übertragen

Horten und Verstecken von Lebensmitteln, die Kinder essen übermäßig viel und häufig; die Kinder berichten gegenüber außenstehenden Personen, sie bekämen nichts oder nicht ausreichend zu essen

Regression

Rückkehr auf eine frühkindliche Entwicklungsstufe

die Kinder möchten wieder gefüttert werden, obwohl sie vorher selbstständig gegessen haben

Integration

das Kind lebt den Alltag

Normalität, Essen ist wichtig, die Kinder unterscheiden zwischen Nahrungsmitteln, die sie mögen und nicht mögen


Empfehlungen aus ernährungswissenschaftlicher Sicht
Aus ernährungswissenschaftlicher Sicht ist es generell erstrebenswert, Kindern eine altersgerechte und gesund erhaltende Ernährung zukommen zu lassen. In dieser Hinsicht stellen Pflegeeltern keine Besonderheit dar, zumal viele Familien neben den Pflegekindern eigene Kinder versorgen. Eine wissenschaftlich abgesicherte und bewährte Basis für die Empfehlungen in der Kinderernährung bietet optimiX (Hrsg. aid, DGE 2005). Die Empfehlungen des Dortmunder Instituts für Kinderernährung orientieren sich zum einen an den altersgerechten Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr und dem Ziel, ernährungsbeeinflussten Erkrankungen vorzubeugen, zum anderen berücksichtigt optimiX die Mahlzeitengewohnheiten sowie Essensvorlieben und - abneigungen von Kindern. optimiX basiert auf einer Auswahl an üblichen und preiswerten Lebensmitteln. Es ist offensichtlich, dass das Essverhalten von Pflegekindern den optimiX-Empfehlungen im Hinblick auf altersgemäße Mengen, Lebensmittelauswahl und empfohlenem Mahlzeitenrhythmus nicht entspricht. Für die Entwicklung von Ernährungsempfehlungen für Pflegekinder und die Beratung der Pflegeeltern ist es einerseits wichtig, den Leitbildcharakter von optimiX zu beachten: Das Programm bietet Orientierungsmöglichkeiten für den Alltag, keine starren Regeln. Andererseits gilt es, im Hinblick auf die Besonderheiten von Pflegekindern einige Ergänzungen vorzunehmen.

Ansatzpunkte für eine lebensweltorientierte Ernährungsberatung
Pflegeeltern brauchen sehr konkrete Empfehlungen zu den genannten auftretenden Essproblemen. Dabei gilt es, sowohl die physiologische als auch die psychologische Komponente zu berücksichtigen. Zum Beispiel ist die Empfehlung, Kinder ständig und unbegrenzt essen zu lassen, aus ernährungswissenschaftlicher Sicht kritisch. Insbesondere die bei Kindern beliebten Süßspeisen, Pommes frites, Kekse, Gebäck und Süßigkeiten führen zu einer übermäßigen Energieaufnahme und damit zur Entstehung von Übergewicht. Zudem bilden sich in der Kindheit langfristig wirksame Geschmacksvorlieben und Ernährungsgewohnheiten aus. Es ist daher notwendig, die Kinder in ihrem außerordentlichen Nachholbedürfnis gezielt zu unterstützen und Lebensmittel mit geringer Energie- und hoher Nährstoffdichte anzubieten. Damit haben einzelne Pflegemütter bereits sehr gute Erfahrungen gemacht. Zitat: „Obst und Gemüse können die Kinder immer haben, auch vor dem Essen, aber Süßigkeiten schränke ich ein. Ich hab aus dem Bauch heraus gehandelt: Esst soviel ihr wollt. Und ich denke im Nachhinein: Das war richtig so.“ Allerdings erfordert diese Herangehensweise, dass Pflegeeltern gute Kenntnisse über geeignete Lebensmittel und Getränke, Zubereitungsmethoden und eine entsprechende Gestaltung des Speiseplans haben. Zwischenmahlzeiten können die Kinder in der Anfangsphase auch jederzeit essen. Parallel dazu ist es wichtig, die Kinder an einen zuverlässigen, festen Mahlzeitenrhythmus zu gewöhnen, der ihnen Sicherheit vermittelt. Dasselbe gilt für Vorräte im eigenen Zimmer. Nach den vorliegenden Erkenntnissen scheint es folgerichtig, Pflegekinder, die Lebensmittel horten und verstecken, bei diesem Wunsch aktiv zu unterstützen. Es kommt allerdings darauf an, hygienische Bedenken durch geeignete Maßnahmen auszuräumen. Der „Workshop Ernährung“ für Pflegeeltern griff die geschilderten Aspekte einer lebensweltorientierten Ernährungsberatung auf.

„Workshop Ernährung“ für Pflegeeltern
Der eineinhalbstündige Workshop, vorbereitet und durchgeführt von Studierenden des Fachbereichs Oecotrophologie der Hochschule Niederrhein, richtete sich gleichzeitig an die Pflegeeltern und an ihre Pflege- und leiblichen Kinder. Ziel des Workshops war es, die Eltern aufzuklären, zu bestärken und zu entlasten. Die Tipps und Vorschläge zur Ernährung sollten für die Eltern keinen Mehraufwand bedeuten, sondern eine Erleichterung. Dabei sollten die Lösungen umsetzbar, praktikabel und kostengünstig sein. Fünf Themen wurden ausgewählt und in Form von Kurzvorträgen und Präsentationen an einzelnen Ständen mit den Pflegeeltern bearbeitet. Die erste Station verdeutlichte die Grundlagen von optimiX mit Hilfe der Ernährungspyramide und einer Präsentation verschiedener optimaler Frühstücksbeispiele und Abendessen. Danach wandten sich die Pflegeeltern in zwei Gruppen den weiteren Stationen zu. An dem Stand „Süßigkeiten“ ging es um die Energiedichten verschiedener süßer Snacks (z. B. Schokolade gegenüber Fruchtgummi) und die Zusammenstellung von Süßigkeiten zu empfehlenswerten Tagesportionen für Vier- bis Sechsjährige in Form von „Süßigkeiten- Tütchen“. Beim Thema „Snacks“ an der dritten Station drehte sich alles um kleine Zwischenmahlzeiten. Die Pflegeeltern lernten gesunde und schmackhafte Alternativen zu Schokoriegeln und anderen beliebten Snacks kennen, zum Beispiel kindgerecht zubereitete Brothäppchen und Obst- und Gemüse-Spieße. Am Infostand „Getränke“ führten die Studenten mit einem Getränke-Quiz zu den Energiegehalten verschiedener süßer Getränke in das Thema ein. Es folgten Informationen zu Fruchtsäften und Erfrischungsgetränken sowie zu Modegetränken mit Zusätzen, zum Beispiel ACE-Getränke. Die vierte Station widmete sich schließlich dem Problem des unstillbaren Essbedürfnisses und dem Horten und Verstecken von Lebensmitteln. Die Pflegeeltern lernten die Bedeutung eines regelmäßigen Mahlzeitenrhythmus von drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten kennen. Um das Horten und Verstecken von Lebensmitteln einerseits und das unkontrollierte Zwischendurchessen andererseits in feste Bahnen zu lenken, empfahlen die Studierenden einen „Notfallkoffer“, den die Pflegeeltern gemeinsam mit ihren Pflegekindern mit Lebensmitteln und Getränken füllen können und der den Kindern zwischen den Mahlzeiten zur freien Verfügung steht (Tab. 4). Alternativ oder ergänzend zum Notfallkoffer können Pflegeeltern ein uneingeschränktes Angebot an Obst und Gemüse machen, zum Beispiel in Form eines Obsttellers auf dem Küchentisch, von dem sich die Kinder jederzeit, auch vor den Mahlzeiten, bedienen dürfen. Schließlich stellten die Studierenden eine selbst gebastelte „Mahlzeitenuhr“ vor, auf der die Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten sowie Sport- und andere Aktivitäten eingetragen werden können. Die Mahlzeitenuhr gibt dem Pflegekind die Sicherheit eines geregelten Tagesablaufs mit festen Mahlzeiten.
 

Tabelle 4: Empfehlungen für einen „Notfallkoffer“

Die Pflegeeltern sollten gemeinsam mit dem Pflegekind entscheiden, wie der Notfallkoffer aussehen soll (z. B. Verzierungen oder Aufkleber), was er beinhaltet und wo er aufbewahrt wird. Dabei sollten folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Hygiene: Das Behältnis muss leicht zu reinigen sein, es empfehlen sich daher Kunststoff- oder Blechdosen.
  • Haltbarkeit: Die enthaltenen Lebensmittel müssen lagerfähig sein und dürfen nicht zu schnell verderben.
  • Energiegehalt: Die Lebensmittel sollten eine möglichst geringe Nährstoffdichte besitzen.

Vorschläge für die Lebensmittelauswahl:

  • Reiswaffeln, Reiscräcker ohne Schokoladenüberzug
  • Knäckebrot
  • Zwieback
  • Salzstangen
  • Brödli (getoastete halbe Brötchen)
  • Getränke in Kunststoffflaschen: Mineral- oder Tafelwasser


Die Kinderbetreuung
Das Betreuungsangebot für die Pflegekinder sollte in Verbindung zum Workshop der Pflegeeltern stehen, daher wählten die Studierenden die Aspekte Getränke, Obst und Gemüse aus. Die Kinder wurden in zwei Altersgruppen aufgeteilt. Die Jüngeren waren zu Zehnt mit einer Altersspanne von acht Monaten bis sechs Jahre. Es wurde gemalt, Märchen zum Thema Ernährung vorgelesen, im Raum verstecktes Obst gesucht, ein Obst-Memory gebastelt und gespielt, Obstsalat hergestellt und gemeinsam gegessen. Auch bei den elf älteren Kindern im Alter von sieben bis zehn Jahren stand die spielerische Beschäftigung mit Ernährungsthemen im Vordergrund. Nach einem Kennenlernspiel, das sich bereits mit verschiedenen Obst- und Gemüsearten beschäftigte, mixten und verkosteten die Kinder Getränke aus verschiedenen Säften, Tees und Mineralwasser. Die Rezeptur für das jeweilige Lieblingsgetränk durften die Kinder mit nach Hause nehmen. Es folgten ein Tastspiel und verschiedene Zuordnungsspiele: Aus welchem Obst oder Gemüse wird Ketchup gemacht? Welche Früchte wachsen auf dem Baum? Was ist ein Lebensmittel, was nicht? Abschließend aßen alle gemeinsam einen Obstsalat.

Fazit von Workshop und Kinderbetreuung
Die Pflegeeltern zeigten sich sehr interessiert, stellten Fragen und trugen durch eigene Beiträge zu einem interessanten Erfahrungsaustausch bei. Die Kinder waren mit viel Spaß dabei und machten neue Erfahrungen mit Obst, Gemüse und Getränken. Beide Zielgruppen nahmen viele praktische Tipps mit nach Hause, die ihnen die Umsetzung des Gelernten im Alltag erleichtern werden.

Umsetzung in die Praxis und Ausblick
Das Jugendamt der Stadt Mönchengladbach setzt die gewonnenen Erkenntnisse nun konsequent bei den Gesprächen mit Pflegeeltern und deren Fortbildung um. Das Thema Essverhalten hat einen größeren Stellenwert erhalten. Grundsätzlich wird das Essverhalten der Pflegekinder erfragt und den Pflegeeltern die Notwendigkeit des durchgängigen Essensangebotes für die Pflegekinder erklärt. Auch der „Notfallkoffer“ ist Bestandteil der Beratungen und Elternseminare. Die detaillierte Ausgestaltung überlässt das Amt den Pflegeeltern, die dies individuell und unter Berücksichtigung der familiären Regeln vornehmen sollen. Eine weitere Diplomarbeit an der Hochschule Niederrhein wird sich mit der Aufgabe beschäftigen, für die Fortbildungsveranstaltungen geeignete Informationsmaterialien auszuarbeiten und zusammenzustellen.

Literatur

Forschungsinstitut für Kinderernährung: OptimiX – Empfehlungen für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen. aid, DGE (Hrsg.), 2. überarbeitete Auflage, Bonn (2005)

Meier C: Das Essverhalten von Pflegekindern – Erfahrungen und Empfehlungen im Umgang mit auffälligen Verhaltensweisen. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Fachbereich Oecotrophologie, Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach (2004)

Nienstedt M, Westermann A: Pflegekinder. 5. Aufl. (1998)

Sauer H: Was brauchen Pflegekinder? Was bieten Pflegefamilien? www.liga-kind.de; 17.06.04 (2006)

Quelle: Ernährung im Fokus, November 2006;
http://www.aid.de/fachzeitschriften/eif/eif.php
mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen

 

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