FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2008

 

Pflegekinderwesen im Aufbruch?

von Prof. Dr. Klaus Wolf

 

Jede Gesellschaft steht vor der Frage, was sie mit den Kindern anstellt, die nicht von ihren biologischen Eltern umsorgt und erzogen werden. Aus welchen Gründen auch immer die Eltern diese Funktion nicht erfüllen können oder wollen, wie zeitlich kurz befristet oder lang anhaltend sie ausfallen und ob sie umfassend oder partiell die Elternfunktionen nicht erfüllen. Eine mögliche Antwort auf diese Frage war historisch und ist es auch heute noch, andere Erwachsene zu finden, die mit den Kindern eine Lebensgemeinschaft eingehen und sie dort versorgen, erziehen und aufwachsen lassen. Betrachtet man mit Böhnisch und Lenz (1997: 28) „die Zusammengehörigkeit von zwei (oder mehreren) aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in einer Elter-Kind-Beziehung (sic!) stehen“ als zentrales Merkmal von Familien kann man diese Lebensgemeinschaften auch als andere Familie bezeichnen, da nicht zwingend die biologische Mutter- oder Vaterschaft zur Voraussetzung wird.

Das Spektrum dieser anderen Familien ist groß, und die Bezeichnungen sind sehr unterschiedlich: Pflegefamilien – oft mit weiteren Adjektiven: sozialpädagogische, heilpädagogische, therapeutische usw. –, Sonderpflegestellen, Erziehungsstellen nach § 33 und nach § 34 KJHG, professionelle Lebensgemeinschaften, quasi-familiale Heimerziehung, aber auch intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung in Familien nach § 35 KJHG. Früher – als die Welt insgesamt noch besser geordnet schien – waren zumindest Heimerziehung und Pflegefamilien leicht zu unterscheiden. Heute bedarf es schon recht genauer Rechtskenntnisse, um zum Beispiel eine Erziehungsstelle nach § 34 KJHG – also ein Heimerziehungsarrangement – von einer nach § 33 KJHG – also einer Variante der Vollzeitpflege – zu unterscheiden. Beide Felder der Fremderziehung haben sich eindrucksvoll ausdifferenziert und in beiden haben wir heute eine erhebliche Formenvielfalt (Freigang & Wolf 2001; Niederberger & Bühler-Niederberger 1988). Dabei ist ein Überschneidungsbereich entstanden, in dem sich der Phänotypus der Arrangements kaum noch unterscheidet. Dies ist das Ergebnis zweier Entwicklungslinien, die man als Familialisierung der Heimerziehung und Professionalisierung des Pflegekinderwesens bezeichnen kann (Wolf 1998).

Die große Formenvielfalt könnte uns vermuten lassen, dass wir eine starke Zunahme der Betreuung in „anderen Familien“ haben. Die Statistik erfasst die sehr unterschiedlichen Heimerziehungsarrangements noch nicht genau genug, aber wir dürften hier eine Zunahme der Betreuung in Lebensgemeinschaften haben. Für die Vollzeitpflege nach § 33 KJHG gilt dies allerdings nicht. Weder gibt es in den letzten 15 Jahren in der Relation der Hilfen nach § 34 und nach § 33 KJHG eine Verschiebung zugunsten der Vollzeitpflege – auf eine Vollzeitpflege kommen 2004 genau wie 1991 1,6 Heimerziehungen – und auch der Anteil der neu begonnenen Vollzeitpflegeverhältnisse ist 2004 – nachdem er zwischenzeitlich sogar abgesunken war – wieder auf dem Niveau von 1991 (vgl. Fendrich & Lange 2006). Diese Daten lassen sich vielleicht so deuten: Im und für das Pflegekinderwesen sind erheblich größere Anstrengungen nötig, wenn die Vollzeitpflege zur Quote der Heimunterbringungen aufschließen soll. Ohne ein größeres finanzielles, organisatorisches, konzeptionelles und – wenn ich hier in eigener Sache argumentieren darf – forschungsbezogenes Engagement, wird sich nicht viel ändern.

An vielen Orten befindet sich das Pflegekinderwesen in einer Nische: Abseits von den Hauptplätzen der fachlichen Debatten, von außen gar nicht oder relativ desinteressiert
- kritisch betrachtet, kommuniziert man überwiegend untereinander und fühlt sich von Außenstehenden – oft zu Recht – unverstanden. Insbesondere im Verhältnis von allgemeinem oder regionalem Sozialdienst und Pflegekinderdienst gibt es oft sehr stereotype Vorstellungen übereinander und die Kommunikation ist auf das absolut Unvermeidliche begrenzt. Andererseits finden wir mancherorts – wie nicht zuletzt die Beiträge in diesem Heft belegen – Aufbrüche: neuartige konzeptionelle Zugänge und interessante Leitideen, gravierende Organisationsveränderungen und neue Kooperationsformen. Solche Ungleichzeitigkeiten sind bei forcierten Modernisierungsprozessen, die auf längere Phasen der Stagnation folgen, zu erwarten.

Das ist also meine These: Das Pflegekinderwesen in Deutschland
befindet sich am Beginn eines Modernisierungsprozesses (s. www.pflegekindertagung2006.des.a. Blandow). Wohin die Reise gehen wird, wird erst allmählich und in einigen Ansätzen deutlich. Auch das ist nicht ungewöhnlich, weil es natürlich keine zentrale Steuerungsstelle gibt. Wenn die Fachdiskussion innerhalb des Pflegekinderwesens aus der relativen Isolation herauskommt und an andere sozialpädagogische Diskurse anschlussfähig wird, lassen sich Themen prognostizieren und auch wünschenswerte Entwicklungslinien skizzieren (Blandow 2004). Um die soll es nun gehen.

Bereits ganz deutlich sichtbar werden Veränderungen in der Organisation. Das auch in anderen Feldern zu beobachtende Outsourcing bezieht sich im Pflegekinderbereich nicht nur auf die Frage, ob es freie Träger besser oder billiger machen können als kommunale, sondern es führt fast immer zu einem neuen Zuschnitt der Aufgaben und einer stärkeren Koppelung der Finanzierung an harte Daten, die als Indikatoren für die Leistungsfähigkeit gesetzt werden. Außerdem ziehen neue Projekte, die noch in der Bewährung stehen, oft Mitarbeiterinnen mit besonderen Ambitionen an. Wenn diese gewonnen werden, hinreichenden Spielraum haben und ein Mindestmaß an Stabilität nicht unterschritten wird, entstehen neue Entwicklungschancen. So bedingungsvoll muss man die Lange mindestens beurteilen: Das Outsourcing – wie andere Organisationsveränderungen auch – eröffnet günstigenfalls neue Chancen; ob sie genutzt werden und ob sie auf Dauer erhalten bleiben, hängt von weiteren Bedingungen ab.

Auch bei den Theoriebezügen in der Begründung der konzeptionellen Leitgedanken zeigen sich Veränderungen. Über lange Zeit orientierten sich die Insider des Pflegekinderwesens in der Bundesrepublik stark an psychoanalytisch begründeten Positionen, insbesondere an der fundamentalistischen Interpretation von Nienstedt und Westermann. In ihrer Lesart ließen sich die Fragen nach dem Verhältnis von biologischen Eltern und Pflegeeltern oder die nach dem gemeinsamen Aufwachsen von Geschwisterkindern klar und – aus der Perspektive vieler Pflegeeltern – mit dem gewünschten Ergebnis beantworten. Es dauerte lange, bis sich eine Gegenposition herausbildete, die dann aber – insbesondere außerhalb des Pflegekinderwesens – schnell an Boden gewann. Systemische Theorieelemente (z.B. „das Kind in zwei Familiensystemen“) bilden den Hintergrund für dieses Modell (z.B. Schumann 1987; Gudat 1987). Als dritter Theoriebezug spielt die Bindungstheorie – auch in anderen Ländern (z.B. Berridge 2000) – eine wichtige und eher zunehmende Rolle. Pfeffer erhält der Streit um die „richtige Theorie“ durch die praktischen Konsequenzen, die daraus abgeleitet werden. Insbesondere für eines der zentralen Themen - nämlich das Verhältnis von Eltern und Pflegeeltern - sind die jeweils favorisierten Entscheidungskriterien sehr unterschiedlich. In der Praxis habe ich nicht selten beobachtet, dass zum Beispiel die Ressentiments zwischen ASD und PKD auch mit Hinweis auf die Ignoranz der Gegenseite im Lichte der jeweiligen eigenen Theorieorientierungen – beim ASD aus systemischer, im PKD aus bindungstheoretischer Sicht – verschärft waren.

Eigentlich könnte eine solche theoriegestützte Debatte auch fruchtbar sein. Dies setzt allerdings voraus, dass ihre Vertreter sie nicht als die Theorie des Pflegekinderwesens überschätzen und überfordern, sondern für die Entwicklung von Kriterien nutzen, die bei der Suche nach der besseren Lösung für den konkreten Fall nützlich sind. Denn die Lage und die Zukunftschancen des einzelnen Kindes und seiner Familie differenziert zu beurteilen und sich der Komplexität und den Eigenarten bei der Suche nach der geeigneten Hilfe anzunähern, ist ein – in sozialpädagogischer Sicht – zentrales Qualitätsmerkmal. Es kann leichter erreicht werden, wenn die unterschiedlichen theoriegestützten Perspektiven zusammengeführt werden. Auch dann entsteht kein widerspruchsfreies Bild und es lassen sich schon gar nicht wenige einfache Regeln ableiten, die ohne genaues Hinsehen auf den Fall angewendet werden könnten, aber wir gewinnen eine breite, rational begründete und überprüfbare Entscheidungsgrundlage.

Mich erstaunt übrigens auch der Mangel an empirischen Untersuchungen zur Unterbringungspraxis in Pflegefamilien und den intendierten und nicht-intendierten Wirkungen, die durch unterschiedliche konzeptionelle Grundüberzeugungen ausgelöst werden. Wir sollten es wagen, genau und systematisch hinzusehen, statt ideologische Debatten in selbstreferentiellen Systemen zu führen. Das deutsche Pflegekinderwesen könnte auch von Anregungen aus anderen europäischen Ländern profitieren. Das eigene Profil wird im Vergleich mit der Praxis in anderen Ländern deutlicher: Die Merkmale der eigenen Praxis (worüber staunen die ausländischen Kolleginnen besonders?), die Stärken und die offenen Fragen und Schwächen werden uns bewusster. Außerdem erhält unsere Debatte eine Zufuhr an neuen Ideen. So sind zum Beispiel die niederländischen Erfahrungen mit der Verwandten- und Netzwerkpflege interessant und diskussionswürdig oder – in die andere Richtung – die österreichischen mit der Verberuflichung der Pflegeelterntätigkeit.

Ludwig Salgo hat schon 1987 das – auch aus sozialpädagogischer Sicht zentrale – Prinzip kontinuitätssichernder Entscheidungen aus den USA in die deutsche Diskussion eingeführt, ohne dass bis heute das Potential auch nur annähernd ausgeschöpft ist. Eine solche Öffnung für andere Erfahrungen kann das deutsche Pflegekinderwesen aus einer Abkapselung befreien, aber es setzt zugleich schon eine Offenheit voraus, die Selbst-Bewusstsein erfordert. Sonst erscheinen solche Vorschläge überwiegend bedrohlich und sie würden dann leicht abgewehrt. Sowohl die Beteiligung der Fachleute des Pflegekinderwesens an anderen sozialpädagogischen Diskursen in Deutschland als auch die Öffnung für die Kommunikation mit Fachkollegen aus anderen Ländern wird auch deutlich machen, dass sie nicht nur Anregungen empfangen sondern auch geben können.

Die am Anfang skizzierte Formenvielfalt innerhalb der Hilfen nach § 33 KJHG und im Kontext der anderen stationären Hilfen im Rahmen von § 34, aber auch § 35 KJHG, erfordert es nach meinem Eindruck, dass wir uns eine Übersicht verschaffen. Wir benötigen eine Art Landkarte der unterschiedlichen Formen: zum Beispiel in der Dauer der Unterbringung (von fast ambulanten Formen bis zum Aufwachsen über die ganze Kindheit und Jugend bis zum Erwachsenenalter), in den unterschiedlichen Belastungen, die die Kinder erfahren haben und mitbringen (das ganze Spektrum an Sonderformen und einzelfallbezogenen Arrangements), in den unterschiedlichen Graden an Vorbereitung und Ausbildung der Pflegepersonen (von einem Aufklärungsgespräch bis zur systematischen Ausbildung) und in den unterschiedlichen Formen der Begleitung durch (andere) Fachkräfte. Kostenträger müssten sich eigentlich – hoffentlich nicht nur sondern außerdem – für die sehr unterschiedlichen Kosten interessieren.

Im Pflegekinderwesen hat ein interessanter Entwicklungsprozess begonnen, der große Aufmerksamkeit verdient, da er unter Kostengesichtpunkten bedeutsam ist und insbesondere weil das Gelingen oder Scheitern von Pflegeverhältnissen immer existentielle Bedeutung hat für die Kinder und sehr oft auch für die Eltern und die Pflegeeltern.

Literatur
Berridge, David: Setting the scene: an introduction to the research. Aus: Schofield, Gillian; Beek, Mary; Sargent, Kay (Hrsg.): Growing Up in Foster Care. London (BAAF) 2000. S. 1-22.
Blandow, Jürgen: Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens. Weinheim, München (Juventa) 2004.
Böhnisch, Lothar; Lenz, Karl: Zugänge zu Familien - ein Grundlagentext. Aus: Böhnisch und Lenz (Hrsg.): Familien. Eine interdisziplinäre Einführung. Weinheim, München (Juventa) 1997. S. 9-63.
Fendrich, Sandra; Lange, Jens: Ziele verfehlt? Vollzeitpflege nach 15 Jahren SGB VIII. In: KOMDat Jugendhilfe, 9.. Jg. (2006), H. 1, S. 2-3.
Freigang, Werner; Wolf, Klaus: Heimerziehungsprofile. Sozialpädagogische Portraits. Weinheim (Beltz) 2001.
Gudat, Ulrich: Systemische Sicht von Pflegeverhältnissen - Ersatz- oder Ergänzungsfamilie? Aus: Deutsches Jugendinstitut (DJI) (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. München (DJI Verlag) 1987. S. 38-59.
Niederberger, Josef Martin; Bühler-Niederberger, Doris: Formenvielfalt in der Fremderziehung. Zwischen Anlehnung und Konstruktion. Stuttgart (Enke) 1988.
Salgo, Ludwig: Pflegekindschaft und Staatsintervention. Darmstadt (Verlag für Wiss. Publikationen)1987
Schumann, Marianne: Herkunftseltern und Pflegeeltern: Konfliktfelder und Brücken zur Verständigung. Aus: Deutsches Jugendinstitut (DJI) (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. München (DJI Verlag) 1987. S. 60-99.
Wolf, Klaus: Familienerziehung im professionellen Rahmen. Aus: Naumann, Ute; Hammer, B. (Hrsg.): Perspektiven der Erziehungsstellen-Arbeit. Beiträge zur 1.Fachtagung Erziehungsstellen in Kassel 1997. Frankfurt a. M. (IGfH-Eigenverlag) 1998. S. 19-38.

Autor:
Prof. Dr. Klaus Wolf
Universität Siegen
Adolf-Reichwein-Str. 2
57068 Siegen
Email:
Klaus.Wolf@uni-siegen.de
Homepage:
http://www2.uni-siegen.de/~wolf/
Telefon: 0271/ 7402912
Fax: 0271/ 7402978
Forschung Pflegekinder an der Universität Siegen:
http://www.uni-siegen.de/pflegekinder-forschung
Internationale Forschung "foster care research"
www.foster-care-research.org

 

 

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