FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2004

 

Markus, ein "leicht behindertes" Pflegekind ....
(mit einem Kommentar der behandelnden Therapeutin)

 

Vorbemerkung: Der folgende Bericht eines Berliner Pflegevaters läßt nur ahnen, was das Pflegekind und was auch der Pflegevater durchlitten haben. Viel wäre beiden erspart geblieben, wenn vor Vermittlung in das Pflegeverhältnis gründlich diagnostiziert worden wäre. Dann wäre klar gewesen, daß es sich um ein extrem traumatisiertes Kind handelt, das dringend des einzigen Therapeutikums bedarf, das wir in solchen Fällen seelischer und hirnorganischer Verletzungen haben: ungestörte, verläßliche Liebe. Der formale Rahmen dafür wäre eine von Anfang an als heilpädagogisches Dauerpflegeverhältnis definierte Unterbringung mit langfristiger Planungssicherheit für die Pflegefamilie und ohne retraumatisierende Kontakte zur Herkunftsfamilie. Das schließt grundsätzlich nicht aus, daß geprüft wird, ob eine therapeutische Sanierung der Herkunftsfamilie möglich ist, mit der dann immer noch offenen Anschlußfrage, ob eine Rückkehr in diese dem Kindeswohl entspricht.

Was geschähe, wenn die vom Berliner Jugendsenator geplanten Pflegekindervorschriften Gültigkeit erhielten?

1. Es gäbe keine Planungssicherheit, stattdessen alljährliche Überprüfungen durch unglaubwürdige, weil staatsabhängige Gutachter unter eingeengten Fragestellungen, die ein negatives Resultat geradezu provozieren;

2. Die prinzipielle Nötigung zu Kontakten und zur Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie würde das Vertrauensverhältnis zwischen Pflegekind und Pflegeeltern sowie zwischen diesen und den betreuenden Sozialarbeitern kontinuierlich strapazieren.

So betrachtet, ist der gegenwärtige Kampf gegen die fachlich unqualifizierten und menschlich unzumutbaren neuen Pflegekindervorschriften auch ein existenzieller Kampf um Markus und seinen Pflegevater.

K. E. (März, 2004)
(Der Pflegevater von Markus ist uns persönlich bekannt.)

 

Ich bin Psychologe, und meine Freundin und ich dachten, wir könnten einem Kind ein Zuhause geben. Markus wurde uns als "besonders leicht behindertes" Pflegekind vermittelt. Er habe nur eine leichte Sprachentwicklungsverzögerung.

Als er zu uns kam, war er sieben Jahre alt, trug noch Windeln und konnte kaum sprechen. Er hockte oft lange Zeit erstarrt in einer Ecke, malmte mit dem Kiefer, klaute alles, was glitzerte und glänzte. Sammelte Essensreste aus dem Müll und hortete diese im Bett oder anderswo. Oft wusste er gar nicht, wer oder wo er ist und was geschehen war. Er verfolgte mich überall hin, wie ein Schatten, lautlos und heimlich. Manchmal auch fordernd. Angstvoll wimmernd hockte er auf meinem Schoß: Er hatte Angst vor "schwarzen Männern", die ihn holen würden. „Nein“ sagte ich „da kommen keine schwarzen Männer, das weiß ich.“

Heute weiß ich mehr. Heute weiß ich auch, warum Markus seinen Vater eigentlich nicht hatte treffen wollen, aber nur zaghafte Anzeichen machte und nie wagte, es laut zu sagen. Er pullerte zwar danach ein und klaute wie wild, aber das sei ja normal, dass Kinder so reagieren, wenn sie ihre Eltern sehen: Das Jugendamt überredete Markus immer wieder zu den Kontakten.

Als der Vater Markus dann einmal mit nach Hause nehmen konnte, geschah es: Markus erlebte erneut die furchtbaren Erlebnisse, die er durch seinen Vater früher durchlitten hatte. Mehrere Monate danach begann Markus, mir zu berichten, was er erlebt hatte. Es entfächerte sich eine grausame Geschichte: Die "schwarzen Männer" waren Mitglieder einer Sekte, der Markus´ Vater angehörte. Markus ist zu Hause vernachlässigt und misshandelt worden. In der Sekte wurde er bei rituellen "Festen" vergewaltigt und gefoltert. Markus berichtete, dass er Zeuge von Menschenopfern geworden sei und Menschenfleisch essen musste. Er sei aufgefordert worden, ein Baby zu töten. Eine endlose Aufreihung an unglaublich grausamen Erlebnissen könnte hier aufgeführt werden.

Ich will hier nicht den genauen Ablauf der Greueltaten diskutieren, fest steht, dass Markus in extremer Weise und in vielen Situationen traumatisiert wurde und an den Folgen weiter leidet. Bei Kindern führt extreme und anhaltende Traumatisierung oft zu seelisch-körperlicher Abspaltung - ’Dissoziation’. Was die kindlichen Verarbeitungsmöglichkeiten "sprengt", ist dem integrierten Verarbeiten und Erinnern nicht mehr zugänglich, taucht aber schlagartig wieder auf, wenn entsprechende Auslöser in der Gegenwart erneut eine Verbindung zu den früheren Erfahrungen herstellen. (Vor kurzem wurde im "Spiegel" darüber berichtet, dass Wissenschaftler mit Gehirnscans diese unterschiedlichen Bewusstseinszustände Jahre nach der Traumatisierung nachgewiesen haben.)

Markus hat, wie Experten diagnostizierten, eine sog. ’dissoziative Störung’, d.h. aufgrund der vielfältigen Traumatisierungen ist seine Persönlichkeit aufgespalten. Markus´ Störung machte ihn als Zeugen für ein Strafverfahren gegen seinen Vater unbrauchbar. Wir mussten aus der Kleinstadt, in der wir wohnten, wegziehen, um Markus zu schützen. Ich verlor meine Beziehung, meine Freunde, mein Umfeld, in dem ich aufgewachsen war. Ich musste meinen Beruf aufgeben, da Markus mich rund um die Uhr brauchte. Wenn er in der Schule war, musste ich die Hausarbeit machen, die Elterngespräche bei dem Therapeuten führen, im Jugendamt etc.. Ich lebe seither vom heilpädagogischen Erziehungsgeld.

Heute ist Markus 14 Jahre alt und besucht noch immer eine Schule für Geistig Behinderte, trägt nachts eine Windel und ist immer freundlich. Äußerlich scheinbar ein einfaches Pflegekind, nur nachts, da kommt er zu mir und erzählt mir von den Folterungen, Morden, Quälereien in unzähligen Details, und ich muss ihn halten. Oder er verletzt sich oder andere. Unzählige Male reinszeniert er die Traumata. Und ich muss damit leben. 3 Stunden Therapie wöchentlich. Der Alltag geprägt von Persönlichkeitssprüngen, die ich begleite, ich kenne sie alle. Reden durften wir nie mit jemandem darüber (außer der Therapeutin/dem Therapeuten und den Leuten vom Jugendamt), um Markus vor den Mittätern zu schützen, die ihm aufgrund der Maskierungen unbekannt blieben, so war es mit dem Jugendamt und den beteiligten Experten abgestimmt. Und wer würde das schon hören wollen?

Auch dem Gutachter vom Senat werden wir das nicht sagen können. Aber im Leitfaden zur Feststellung des erweiterten Förderbedarfs findet man die dissoziativen Störungen ja sowieso nicht. Dann wird Markus wohl bald wieder als "besonders leicht behindert" gelten. Und vielleicht wird Markus dann ja auch seinen Vater wiedertreffen müssen...

Heilpädagogischer Pflegevater in Berlin (März, 2004)

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Vorbemerkung: Frau Dipl.-Psych. Dagmar Eckers, Verhaltens- und Gesprächstherapeutin mit sehr viel Erfahrungen auf dem Gebiet der Traumatherapie, hat uns einige Anmerkungen über Posttraumatische Belastungsstörungen und ihre Arbeit mit Markus zukommen lassen, die wir veröffentlichen dürfen, weil der Fallbericht so abgewandelt wurde, daß er nicht zu identifizieren ist. Wer mehr über ihre Arbeit mit traumatisierten Kindern erfahren will, sollte das Interview lesen, das Angela und Norbert Remus mit ihr geführt haben (siehe TRAUMATISIERTE KINDER).
K. E. (März, 2004)

 

Ergänzend zum Bericht des Pflegevaters von Markus möchte ich als behandelnde Therapeutin die Dimension von dissoziativen Störungen für betroffene Kinder und das gesamte Umfeld beleuchten:

Der extrem traumatische Hindergrund hat zur Folge, dass die Kinder zeitweise unter allen nur denkbaren Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden: Quälende Erinnerungsbilder, die so lebhaft sind, dass sie den Kindern oft realer als die jetzige Realität erscheinen; entsprechende Panik bei heutigen Auslösern (bei Markus u.a. Dunkelheit, Messer, Blut); und ein (sehr verständliches) Bedürfnis, sich diesen Bildern und dieser Panik nicht mehr aussetzen zu wollen – daher der Versuch, möglichst alle diese Auslöser im heutigen Alltag zu vermeiden. Das führt oft zur Einschränkung des Bewegungs- und Handlungsspielraums: Kinder wollen nicht allein schlafen, haben starke Trennungsschwierigkeiten u.a.m.

Neben der posttraumatisch wirksamen Komponente kommt die dissoziative Problematik hinzu: Durch die Anpassung an unerträgliche und lebensbedrohliche Situationen entstehen z.T. völlig getrennt erlebte Bewusstseinszustände in der Person des Kindes, die ebenfalls auf heutige Auslöser hin schnell wechseln können. Im sonst vorhandenen und von uns als so selbstverständlich erlebten Bewusstseinszusammenhang existieren bei dissoziativen Störungen Brüche: eine Seite von Markus kann (weil Glasscherben auf dem Boden liegen) in einem unbeobachteten Augenblick Glasscherben gesammelt und in sein Bett gelegt haben, während eine andere Seite von ihm auf den Scherben liegend aufwacht und nicht weiß, woher die Scherben stammen. Entsprechend ist Markus der extrem belastende Entstehungshintergrund der Störung in manchen Momenten zugänglich (z.B. eher in der Nacht - ausgelöst durch die Dunkelheit), in anderen Momenten nicht. Das ist der Zusammenhang, warum Markus´ Pflegevater schrieb: „Markus´ Störung machte ihn als Zeugen für ein Strafverfahren gegen seinen Vater unbrauchbar.“

Für das Umfeld - d.h. auch für die Pflegefamilie – hat das alles vielfältige Auswirkungen:

Der Nachtschlaf ist häufig gestört. Kinder mit dieser Problematik müssen oft stark kontrolliert werden, damit sie nicht sich oder andere Menschen verletzen oder gefährden. Die Verhaltensweisen und Ängste sind extrem belastend und führen nicht selten zu einer sekundären Traumatisierung – d.h. die Pflegeeltern solcher Kinder erleben selbst Depressionen, Schlafstörungen und Belastungsbilder (wie das Bild von Markus, der auf den Scherben liegt). Diese sekundären Traumatisierungen sind eine direkte Folge dessen, dass die Pflegeeltern mit den belastenden Verhaltensweisen und heftigen Emotionen der Kinder (wie totale Hilflosigkeit, ohnmächtige Wut, Angst...) permanent konfrontiert sind, so dass bei den Pflegeeltern ebenfalls Hilflosigkeit, Angst, Ohnmacht... entstehen. Diese sekundäre Traumatisierung ist bei Markus´ Pflegevater noch nicht aufgetreten – sicher auch, weil er nicht nur sehr engagiert, sondern auch fachlich sehr gut qualifiziert ist. Dennoch hätte mancher Pflegevater schon früher aufgegeben.

Die Lebens- und Pflegebedingungen für Markus´ Pflegevater sind auch jetzt nicht beneidenswert; was ich bei dem Pflegevater erlebe, ist ein 16- bis 18-Stunden-Tag. Es geht leider auch oft um den finanziellen Rahmen: in Berlin werden Therapien nach dem KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) drastisch eingeschränkt, über die Krankenkasse werden (je nach Therapierichtung) höchstens zwischen 80 und 200 Stunden insgesamt bewilligt. Und die heilpädagogischen Pflegestellen sind durch die geplanten Streichungen des Berliner Senats in ihrem Weiterbestand heftig gefährdet. Da Markus´ Pflegevater jetzt nicht berufstätig sein kann, würde ein Entzug der finanziellen Grundlage bedeuten, dass er Markus evtl. in ein entsprechendes Heim geben müsste (mit mindestens dreifachem Pflegesatz für den Senat).

Hinzu kommt, dass er in der Regel mit kaum jemand darüber sprechen kann – zum Teil, um Markus zu schützen, zum Teil, weil das Ausmaß von Gewalt von niemand gern zur Kenntnis genommen wird. Das führt dazu, dass sich Pflegeeltern möglicherweise genauso isoliert und aus der „Normalgesellschaft“ ausgestoßen fühlen können wie die traumatisierten Kinder selbst. Wenn Markus´ Pflegevater – wie durch den Beitrag auf der AGSP-Webseite – an die Öffentlichkeit geht, muss er gewärtig sein, dass ihm Unwissenschaftlichkeit, Panikmache oder die Unterstützung „falscher Erinnerungen“ (durch suggestives Fragen z.B.) vorgeworfen wird. Es ist mutig, dass er dennoch diesen Schritt getan hat. Ich freue mich, dass die AGSP auf ihrer Webseite den Rahmen dafür zur Verfügung gestellt hat.

Dagmar Eckers, Diplompsychologin

s.a. www.aktivverbund-berlin.de

 

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