FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2005

 

Zur Situation der Pflegeeltern und Pflegekinder in Berlin

RAuFAFam Dr. iur. Michael Greulich, Pflegevater in Berlin

 

Gibt man im „Suche“-Fenster der offiziellen Homepage des Berliner Senators für Bildung Jugend und Sport das Stichwort „Pflegeeltern“ ein, so erzielt man nicht einen einzigen Treffer. Beim Suchwort „Pflegekinder“ findet sich ein Treffer – ein Artikel aus der offensichtlich sehr rührigen Abteilung für gleichgeschlechtliche Lebensweisen beschäftigt sich mit der Frage des Lebens von Pflegekindern bei gleichgeschlechtlichen Pflegeeltern. Unter den Links, die auf der Seite „Familie“ angeboten werden, findet sich zwar ein Karuna-Bioladen – einen Hinweis auf Vereinigungen von Berliner Pflegeeltern sucht man vergebens. Geht man nach seinem Internetauftritt, findet ein Pflegekinderwesen in der Welt des Berliner Jugendsenators nicht statt.

Dabei ist Berlin bundesweit Spitzenreiter, was Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen anbelangt. Nach Lier1 wurden 2004 398 Misshandlungen und 255 Vernachlässigungen bei der Berliner Polizei registriert. Die Zahl der Misshandlungen ist gegenüber dem Vorjahr um mehr als 10 %, d. h. um 37 Fälle gestiegen. Die Statistik weist aus, dass jedes 8. in Deutschland misshandelte Kind in Berlin lebt. Berlin verfügt deutschlandweit über die einzige Polizeidienststelle, die sich ausschließlich mit derartigen Delikten befasst.

Wenn Gegenstand der Betrachtung die Situation der Berliner Pflegeeltern und Pflegekinder ist, so soll das allerdings keineswegs den Eindruck vermitteln, als seien die Berliner Pflegeverhältnisse etwas Besonderes oder etwas Besonders schlimmes und noch viel weniger als seien sie etwas Besonders gutes. Das Beispiel Berlin hält deshalb her, weil der Berliner Senator für Jugend Bildung und Sport mit seiner am 01.07.2004 in Kraft gesetzten Ausführungsvorschrift AV Pflege2 die Diskussion über die Situation der Vermittlung, Unterbringung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, sowie die Leistungen für den Unterhalt, einschließlich der Vollzeitpflege, auf Grund § 33 SGB VIII in ganzer Breite neu entfacht hat. 

Die Situation des Berliner Pflegekinderwesens ist von folgenden Zahlen gekennzeichnet: Hilfe zur Erziehung wird in Berlin in ca. 20.000 Fällen pro Jahr gewährt3. Durchschnittlich etwas mehr als jede 10. Hilfegewährung erfolgt in der Form von Vollzeit/Familienpflege. So erfasst die Statistik 2002 2.200 Fälle (10 % aller Hilfe-zur-Erziehung-Fälle) und 2003 2.500 Fälle von Familienpflege (13 % aller Hilfe-zur-Erziehung-Fälle. Hinsichtlich der Ausgaben für die Leistungen der Hilfe zur Erziehung schlägt die Familienpflege 2002 mit 7 % und 2003 mit 9 % zu Buche. Dagegen bewegen sich die Fallzahlen bei stationärer, mithin Heimpflege, bei ca. 35 %, die dafür aufgewendeten Mittel machen 65 % des Haushaltes der Hilfe zur Erziehung aus. Der Gesamtetat liegt bei etwa 200 Mio EUR. 

Angesichts eher wachsender Zahlen von Hilfe-zur-Erziehung-Fällen wird schnell deutlich, dass eine Entlastung des Etats vor allem dadurch zu erreichen wäre, dass die stationäre (Heim-)Pflege zugunsten der Familienpflege zurückgedrängt wird.  Das Anliegen, die Rahmenbedingungen für die Vollzeitpflege mit Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien mittels neuer Ausführungsvorschriften des Berliner Senats zu verbessern, ist daher zu begrüßen. Es bringt einen sonst im Leben so seltenen Doppelerfolg mit sich: Bei Einsparung von öffentlichen Mitteln werden in der Familienpflege gleichzeitig die besten Entwicklungschancen für die in ihren Herkunftsfamilien deprivierten und traumatisierten Kinder erzielt.

Im Kern hat der Berliner Senator für Bildung, Jugend und Sport sein Anliegen in den Drucksachen Nr. 15/731 und 15/1497-Schlussbericht am 7.10.2003 deutlich gemacht. Es ging darum, „die Vollzeitpflege angemessen zu qualifizieren“ und „längerfristig“ einen „quantitative(n) Ausbau von Pflegestellen bis zu einem Anteil von über 30 % an der Fremdunterbringung“ anzustreben4. Neben dem nachvollziehbaren Anliegen, die AV an die geänderten gesetzlichen Bestimmungen anzupassen, kommt der Bericht dann schnell zur Sache. Die Höhe des monatlichen Pauschalbetrages bei Vollzeitpflege orientiere sich nach der Art der Pflegestelle (spezialisiert oder nicht spezialisiert) und nicht am erzieherischen Bedarf des Pflegekindes im Einzelfall, der sich im Verlauf der Hilfe ändern könne. Diese Sichtweise habe dazu geführt, dass die Hilfen für das Pflegekind nicht immer ausreichend nach positiven Entwicklungszielen ausgerichtet wurden und der Status der spezialisierten sog. „heilpädagogischen Pflegestelle“ in Verbindung mit den finanziellen Mehrleistungen im Vordergrund der Leistungsgewährung stünde.

Abgesehen davon, dass hier das klischeehafte Paradigma von den Pflegeeltern, „die es nur des Geldes wegen machen“, in ganz massiver und das ehrliche und aufopfernde Bemühen der meisten Pflegeeltern beleidigender Weise bedient wird, ist die Darstellung in der Sache schlicht falsch. G. Eberhard hat schon 2003 in ihrer sehr differenzierten Auseinandersetzung mit dem Bericht5 zu recht darauf hingewiesen, dass sich die finanzielle Leistungsgewährung nicht nach der Art der Pflegestelle richtet. Selbstverständlich bedurfte die Gewährung heilpädagogischer Leistungen schon nach den alten Bestimmungen der gutachterlichen Feststellung eines heilpädagogischen Pflegebedarfes des Pflegekindes“. Eberhard vermutet, dass der Weitergebrauch der Falschdarstellung, nachdem sie schon einmal zuvor korrigiert worden war, bewusst zum Zwecke der Fehlinformation geschah. Ebenso falsch ist die Feststellung, die bisherige Gewährungspraxis führe dazu, dass die Hilfen für das Pflegekind nicht ... nach positiven Entwicklungszielen ausgerichtet wurde. Gerade die dauerhafte Gewährung der erhöhten Leistungen ermöglichte ein gesichertes entwicklungs- und ressourcenorientiertes Arbeiten mit dem Pflegekind. Dagegen bringt die jetzige Regelung der wohl in der Regel jährlichen Begutachtung geradezu notwendig die Gefahr einer unbewusst intendierten Entwicklungsverzögerung  mit sich, oder animiert zumindest dazu, Entwicklungsfortschritte zu verschweigen. Überdies, so noch einmal Eberhard, „verunmöglicht die zeitliche Begrenzung des erhöhten Erziehungsgeldes beispielsweise die Aufgabe der Erwerbstätigkeit und den Umzug in eine andere Wohnung in einer sozialökologisch geeigneten Gegend. Wenn die Pflegeeltern dann für erfolgreiche Arbeit mit Entzug des erhöhten Erziehungsgeldes „bestraft“ worden sind, geraten sie in erhebliche materielle Schwierigkeiten, können aber wegen der gewachsenen und heilpädagogisch so notwendigen emotionalen Bindung den Pflegevertrag nicht auflösen.“6

Schon diese kurze, keineswegs vollständige Betrachtung der mit der neuen AV Pflege verfolgten Intentionen des Senators macht es schwierig, an einen Entwicklungsfortschritt für das Berliner Pflegekinderwesen zu glauben.                              

Um es vorweg zu nehmen, die Fachdiskussion um die Unzulänglichkeiten und Unfachlichkeiten der neuen AV Pflege in Berlin aus juristischer, sozialpädagogischer und kinderpsychologischer Sicht hat einmal mehr deutlich gemacht: in kaum einem anderen Familienverhältnis ist die Diskrepanz zwischen den hohen sozialen Erwartungen und Chancen auf der einen Seite und einer mangelhaften Ausgestaltung von juristischem Schutz und sicherem Status so groß, wie in den Pflegeverhältnissen. Keinem anderen familiären Verhältnis mutet man eine derart unsichere und unzulängliche Rechtslage zu wie Pflegekindern und Pflegeeltern. Dabei verdient die Bereitschaft, Pflegekinder - überwiegend traumatisierte, geistig oder körperlich behinderte „fremde“ Kinder - in die eigene Familie aufzunehmen und sich deren Erziehung mit Hingabe und Liebe zu widmen, eigentlich hohen Respekt und große Anerkennung, ganz offensichtlich aber nicht beim Gesetzgeber und jenen, die Regierungsverantwortung tragen. Tatsächlich stehen nach wie vor „die unterschiedlichen Rechtsgebiete Familienrecht, Jugendhilferecht, und das relevante Verfahrensrecht, auch wenn sie denselben Regelungsgegenstand haben, ...unverbunden nebeneinander“.7

Den Schutz, den der Gesetzgeber leiblichen Kindern und Adoptivkindern im Kindschaftsrecht umfassend zur Verfügung stellt (§§ 1666, 1666a BGB), versagt er den Pflegekindern ganz8, obwohl die Pflegeverhältnisse stets Kinder betreffen, die durch soziale und familiäre Beziehungsabbrüche traumatisiert und verunsichert sind und deshalb ein Auffangen in besonders stabilen Verhältnissen gebieten. Das beginnt bereits bei der Vertretung von Pflegeeltern in den Gremien der Jugendhilfe und der Jugendhilfeplanung. § 71 SGB VIII regelt grob die Zusammensetzung des Jugendhilfeausschusses und des Landesjugendhilfeausschusses. Den Ausschüssen sollen angehören:  Mitglieder, die auf Vorschlag von öffentlich wirkenden und anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe berufen werden. Im übrigen verweist § 71 auf Landesrecht. Das in Berlin geltende einschlägige Landesrecht findet sich im Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (AG KJHG)9. § 35 dieses Landesgesetzes präzisiert Aufgaben, Stellung und Zusammensetzung der Jugendhilfeausschüsse. Weder das Bundes- noch das Landesgesetz bringen auch nur ansatzweise zum Ausdruck, dass es wünschenswert oder gar geboten wäre, Pflegeeltern mit in diese Gremien zu wählen. Nicht einmal bei den beratenden Mitgliedern werden sie erwähnt. Sie organisieren sich nämlich nicht in den „öffentlich wirkenden und anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe“. Zu diesen gehören allerdings selbstverständlich die Betreiber der Kinder- und Jugendheime, die dann überdies häufig wieder konform gehen mit den – ebenfalls vom AG KJHG gesetzten - Vertretern der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Um Missverständnissen vorzubeugen, der Verfasser ist überhaupt nicht gegen die Mitwirkung der Genannten, dass aber die Anliegen und Probleme der Heimbetreiber in derartigen Gremien - vorsichtig ausgedrückt -  besser verstanden werden, als die der Pflegeeltern, das liegt auf der Hand. Hier wäre es am Gesetzgeber, Abhilfe zu schaffen, wenn er es mit der Förderung der Pflegeverhältnisse ernst meint.

Ein weiteres vom Bundesgesetzgeber geschaffenes Instrument, das den Alltag des Pflegekinderwesens belastet, ist die Regelung des § 86 Abs.1-5 SGB VIII, die von der Berliner AV Pflege nahtlos übernommen wird.  Der legt nämlich fest, dass für Leistungen nach diesem Gesetz die Jugendämter am gewöhnlichen Aufenthaltsort der (Herkunfts-)eltern zuständig sind. Folgt man der Logik, dass Empfänger der Hilfe nach dem VIII. SGB rechtlich immer die Herkunftseltern sind, mag das auch einen Sinn machen. Im Zusammenhang mit den Pflegeverhältnissen erweist es sich jedoch in mehrerlei Hinsicht als kontraproduktiv. Zum einen betrifft das den Umstand, dass die Herkunftsfamilien der meisten Pflegekinder häufig aus problembelasteten sozialen Schichten kommen und daher auch eher zu Ortsveränderungen neigen. Damit wechselt auch jedes Mal die Zuständigkeit für das Pflegeverhältnis. Zum anderen führt die Gesetzeslogik häufig zu dem fatalen Ergebnis, dass auch die Logik des praktischen Pflegeverhältnisses ihr folgt und der tatsächliche Hilfebedarf der Kinder als fiktiver Hilfebedarf der Herkunftseltern verstanden wird. Dies hat

ebenso Auswirkungen auf ein künstliches und pädagogisch falsches Offenhalten von Rückkehroptionen, wie auf dem Kindeswohl zuwiderlaufende Entscheidungen über das Umgangsrecht der Herkunftseltern. Insbesondere wenn die Pflegeeltern in einem anderen Berliner Bezirk leben als die Herkunftseltern, oder wenn sie gar außerhalb Berlins leben, haben die Herkunftseltern oft eine viel größere „Nähe“ zum Jugendamt als die Pflegeeltern. Der Versuch, die Verbesserung der  zur Hilfe führenden familiären Verhältnisse der Herkunftseltern zu erreichen und diese vermeintlich über den Umgang mit den Kindern zu „therapieren“, oder der Versuch, die Herkunftseltern über das Aufrechterhalten der Rückkehroption zu „disziplinieren“, liegt auf der Hand. Positiv ist in diesem Zusammenhang zu bewerten, dass die beabsichtigte Streichung des § 86 Abs. 6, der das vorgenannte Problem zumindest für Pflegeverhältnisse von mehr als zweijähriger Dauer berücksichtigt, verhindert werden konnte. 

Sowohl zur Frage der Rückkehr-Option als auch zur Frage des Umgangsausschlusses bei traumatisierten Kindern ist in der Literatur mehrfach Stellung genommen worden. Hoffmann10 verweist auf die Haltung des Gesetzgebers, fixiert in § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII und in der Konsequenz bekräftigt in § 36 Abs. 1 Satz 2. Hoffmann sieht drei wesentliche Aspekte,

  1. den kurzen Zeitraum, der einem Kind für die Entwicklung seiner Bindungs- und Beziehungswelt zur Verfügung steht,
  2. die Notwendigkeit, bei fehlender Aussicht auf Rückkehr in die Herkunftsfamilie für das Kind innerhalb einer - am Zeithorizont des Kindes gemessenen – kurzen Frist eine auf Dauer angelegte förderliche Perspektive außerhalb der Herkunftsfamilie zu erarbeiten und
  3. schließlich die Verknüpfung des einen mit dem anderen.

Salgo11 verweist darauf, dass nur 39 % der Pflegekinder überhaupt in die familiären Herkunftsverhältnisse zurückkehren und von diesen Versuchen schätzungsweise die Hälfte wiederum scheitert. Dagegen verbleiben rund 60 % der Pflegekinder bei ihren Pflegeeltern und werden dort groß. Zu Recht stellt Salgo angesichts dieser Statistik die Frage nach dem Sinn einer prinzipiellen Vorrangregelung der Rückkehroption. Die AV Pflege des Berliner Senats spricht nun davon, dass „die Begleitung des Hilfeprozesses“... unter besonderer Berücksichtigung der Rückkehrmöglichkeit des Kindes oder Jugendlichen in seine Herkunftsfamilie innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens, bezogen auf den Entwicklungsstand des Kindes und die Entwicklungsmöglichkeit der Herkunftsfamilie“,  zu erfolgen habe. Hier wird eine klare Aussage zugunsten einer Entscheidung über die Rückkehroption zeitnah mit der Inpflegegabe bedauerlicherweise gerade nicht getroffen.

Die AV macht weiterhin den weitaus häufiger zu verzeichnenden  Regelfall zur Ausnahme, wenn in ihr formuliert wird, „Wird im Verlauf des Entscheidungsprozesses schon frühzeitig erkennbar, dass eine Rückkehr des Kindes auszuschließen ist, muss die Sicherung des dauerhaften Lebensortes im Vordergrund stehen.“12 Mit dieser diffusen Regelung wird der verbreiteten Praxis, weit über den Zeitpunkt der Fremdunterbringung hinaus eine Entscheidung über die Rückkehroption offen zu halten, in ebenso bedauerlicher wie unfachlicher Weise durch den Gesetzgeber nicht entgegen getreten.13

Auch die ergänzend am 01.02.2005 in Kraft getretene AV Hilfeplanung14 schafft zur in Rede stehenden Frage keine größere Klarheit. Sie fordert lediglich, der Adoption bei Ausfall der eigenen Eltern oder naher Verwandtschaft einer langfristigen Betreuung außerhalb den Vorrang zu geben, bzw. diese Option vorrangig zu prüfen und in die Beratungsgespräche vorrangig einzubeziehen.

Auch hinsichtlich der Regelung der Umgangskontakte zu den Herkunftseltern muss die Formulierung der AV Pflege zumindest als indifferent und unfachlich kritisiert werden, wenn es heißt: „Die Förderung des Kontaktes zu den Herkunftseltern ist Bestandteil der Hilfe, unabhängig davon, ob die Hilfe in Vollzeitpflege auf eine Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie oder einen Verbleib in der Pflegefamilie zielt“.  Entgegen der Formulierung der AV ist nämlich in einer Vielzahl der Fälle Förderung des Umgangs mit den Herkunftseltern gerade nicht geboten. Ein richtiges Verständnis dieser Problematik lässt sich wohl nur erzielen, wenn man zwischen den beiden Entwicklungsprognosen Dauerunterbringung in der Pflegefamilie, oder Rückkehr in die Herkunftsfamilien nach definiertem Zeitablauf deutlich unterscheidet.   In der sozialpädagogischen Fachwelt gilt unbestritten die These, dass bei einer auf Dauer angelegten Pflege – in der Regel – traumatisierter Kinder das Hauptaugenmerk auf die Einbindung in das soziale Netz der Pflegefamilie gerichtet sein muss. Sind Umgangskontakte mit den Herkunftseltern dabei nicht förderlich - und das dürfte überwiegend so sein -  sind sie auszuschließen. Dies hat sich inzwischen auch in der obergerichtlichen Rechtssprechung durchgesetzt.

Hoffmann15 setzt sich in seiner Arbeit mit der jüngeren Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Rostock16, Hamm17, Celle18, Schleswig19, Frankfurt/Main20 sowie Hamm21 auseinander, die im Kern davon ausgeht, dass der Umgang mit den Herkunftseltern immer dann auszuschließen ist, wenn „er der gedeihlichen seelischen und körperlichen Entwicklung des Kindes entgegenstehen könnte“22. Auch Salgo verweist auf fehlende einschlägige gesetzliche Regelungen für Pflegekinder, aber auch fehlende Kommentierungen und mangelnde Aufmerksamkeit in der Fachpresse. Er gelangt zu der Auffassung, dass die Forderung nach einer Aufrechterhaltung von Umgangskontakten bei bereits traumatisierten Kindern „unter erheblichen Rechtfertigungszwang“23 gerate. Diese gesamte Situation widerspiegelt sich in der Regelung der AV Pflege  nicht ansatzweise.

Besonders dramatisch stellt sich mit dem Inkrafttreten der AV Pflege die Situation der Pflegekinder mit einem heilpädagogischen Pflegebedarf dar – wie im Zusammenhang mit den vom Senator verfolgten Zielen der AV Pflege schon ausgeführt. Während die „normalen“  Berliner Pflegeeltern in der Vergangenheit hinsichtlich ihrer finanziellen Ausstattung eher das Schlusslicht deutscher Pflegeeltern bildeten, war die Organisation der heilpädagogischen Pflege seit Jahren beispielgebend. Malter hält das für ein Verdienst des ehemaligen Koordinators des Berliner Pflegekinderwesens Peter Widemann24.  Die bisherigen Regelungen, die in der Vergangenheit über das Land Berlin hinaus Anerkennung gefunden haben, gingen von der Überlegung aus, dass z.B. ein Heimerzieher, wenn er sich entschließt, drei heilpädagogische Pflegekinder in seine Familie aufzunehmen, damit die Möglichkeit haben soll, sein Gehalt auch auf diesem Wege zu erwirtschaften. Damit orientierte sich das ursprüngliche Modell der heilpädagogischen Pflegestellen daran, dass Pflegeeltern, die sich der heilpädagogischen Pflege mit ihrem hohen Zeit- und Kraftaufwand widmeten, auf eine stabile wirtschaftliche Lebenssituation blicken durften, die den Verzicht auf eine weitere Berufstätigkeit einschloss. Damit konnten sie sich ganz der heilpädagogischen Pflegeaufgabe widmen und den Kindern mit einem derartigen Bedarf günstige Voraussetzungen für ihre Entwicklung bieten.

Durch die Neuregelung in der AV Pflege wurden die heilpädagogischen Pflegestellen, zugunsten einer wechselhaften und an der Symptomatik der Pflegekinder orientieren Honorierung der Arbeit der Pflegeeltern, abgeschafft.  Abgesehen von einem unheilvollen Mangel an Planungssicherheit, in den betroffene Pflegeeltern durch die Neuregelung geraten, liegt auch auf der Hand, dass die Zahl derartig qualifizierter Pflegestellen sinken wird und damit wieder mehr Kinder mit heilpädagogischem Pflegebedarf in Heimen untergebracht werden müssen. Die Argumente der Senatsverwaltung, es könne nur ein tatsächlich bestehender erhöhter Aufwand bezahlt werden, greifen deutlich zu kurz. Sozialpädagogische Fachleute und erfahrene Pflegeeltern sind sich darüber einig, dass ein Kind, das infolge einer frühkindlichen Traumatisierung bei der In-Pflegegabe heilpädagogischen  Pflegebedarf aufweist,  im Laufe seiner Entwicklung, selbst wenn es zwischenzeitlich gute Entwicklungsfortschritte macht, immer wieder Phasen durchläuft (z. B. beim Eintritt in die Pubertät), die erhöhte und heilpädagogische Zuwendung erforderlich werden lassen.

Das in der AV Pflege im Rahmen der Hilfeplanung vorgesehene Begutachtungsverfahren ist außerordentlich oberflächlich geregelt und enthält weder Mitwirkungs- noch Rechtsmittelvorschriften für Sorgeberechtigte oder Pflegeeltern. Die Vergabe der Begutachtungen liegt in der Willkür der Jugendämter. Die Vorgabekataloge der AV Pflege führen dazu, dass sich eine Reihe von Gutachtern vereinnahmt fühlt.

Der Umgang mit einmal in das Verfahren eingeführten Gutachten ist im Wesentlichen ungeregelt und rechtsstaatlich bedenklich. Wer Anspruch auf Einsicht in das bzw. auf Herausgabe des Gutachtens, hat, liegt wiederum in der willkürlichen Entscheidung der Jugendämter. Die Überlegung, dabei die Sorgeberechtigten zu präferieren, kann in Fällen, in denen die sorgeberechtigten Herkunftseltern Vorbehalte gegenüber den Pflegeeltern hegen, zu schwierigen Konsequenzen führen, wenn Gutachter sich kritischer Äußerungen zu den Pflegeeltern oder deren Erziehungsstil bedienen.

Ebenso ist völlig offen, welche Möglichkeiten der Einwirkung es gibt, wenn ein Gutachter sich in seiner Einschätzung oder auch nur in Teilen davon einmal irrt. So wird z.B. in einem bekannten Fall einem Kind, dem der behandelnde Tiefenpsychologe schwere narzisstische Störungen diagnostiziert und das im Alter von 10 Jahren schon zwei mal mit Suizid gedroht hat, vom Gutachter der erweiterte Förderbedarf nicht zuerkannt. Mehrere Versuche der Pflegeeltern, im Gespräch mit dem Gutachter, einen Sinneswandel herbeizuführen, scheitern. Ein rechtsstaatliches Verfahren ist nun der Rechtslage nach nicht eröffnet. Dass diese Situation bei den Betroffenen auf Dauer motivationsfördernd sein soll, ist kaum zu erwarten. Die Transparenz des Hilfeplanungsverfahrens erhöht sie wohl definitiv nicht.

Im übrigen sind die Gutachter verpflichtet, den Zeitpunkt einer Neubegutachtung festzulegen, die in der Regel nach ein bis zwei Jahren stattfinden soll.   Die Gefahr, dass die ständige (jährliche) Neubegutachtung bei den betroffenen Kindern Stigmatisierung, ein gestörtes Kind zu sein, auslöst oder vertieft, wird sehenden Auges hingenommen.

In den politischen Auseinandersetzungen um das Inkrafttreten der neuen AV Pflege, die in Berlin zumindest zu dem bemerkenswerten Ergebnis geführt haben, dass sich Pflegeeltern zu einer neuen aktiven Vertretung, dem Aktivverbund organisiert haben, wurde immer wieder ein klares Bekenntnis des Senates zumindest zum Bestandsschutz für die bestehenden heilpädagogischen Pflegestellen gefordert. Betroffen sind zahlreiche Pflegeeltern, in denen sich beide Elternteile zur Aufgabe anderweitiger beruflicher Laufbahnen entschieden hatten und ihre gesamte Lebenssituation, ihre wohnlichen Verhältnisse und ihre Lebensplanung auf die Hinwendung zur heilpädagogischen Pflege ausgerichtet hatten. Für sie bricht mit dem natürlichen Auslaufen der bestehenden Pflegeverträge praktisch ihr gesamter Lebenskonstrukt zusammen.Bis heute hat sich der Senat nicht zu einem klaren Bekenntnis bewegen lassen. Vielmehr sollen derartige Fälle dann einer Clearing-Stelle für unzumutbare Härten überlassen werden. Damit fehlt es selbstverständlich für die Betroffenen an jeglicher Anspruchsgrundlage.

Rechtlich interessant bleibt in diesem Zusammenhang die Stellung der Pflegeverträge, die zwischen Jugendämtern und  Pflegeeltern geschlossen werden. Da sich Fachwelt und Gerichte weitestgehend darüber einig sind, dass es sich bei diesen Verträgen um zivilrechtliche Verträge handelt, dürften einseitige Eingriffe in den Regelungsgegenstand ausgeschlossen sein. Es bleibt abzuwarten, wie das in einzelnen Fällen von den Gerichten gesehen wird. In der Praxis erzwingen die Jugendämter den Abschluss von neuen Pflegeverträgen, die an die AV Pflege angepasst sind, in dem sie bei Weigerung seitens der Pflegeeltern die materiellen Leistungen nicht mehr gewähren oder dies zumindest androhen. Schrieben Studenten zu diesem Sachverhalt eine Strafrechtsklausur, würden sie diesen wahrscheinlich unter den Tatbestand der Nötigung subsumieren.

Nicht zuletzt bringt die AV Pflege eine unheilvolle Verdrehung der Begrifflichkeiten. Die Herkunftseltern, die ihren Kindern keine Eltern sind, bleiben diese jedoch vor dem Gesetz. Die tatsächlichen (Pflege-)eltern, die den Kindern Liebe, Geborgenheit und das durch nichts zu ersetzende Erleben „Familie“ bieten, werden von der AV zu „Erziehungspersonen“ apostrophiert. In der AV Hilfe werden sie gar zu „Leistungserbringern“. Nach dieser neuen Verordnung ist „Sozialraumorientierung die Grundlage für die Neustrukturierung der Jugendhilfe“. Ziel sei die „Öffnung der primär einzelfallbezogenen sozialen Arbeit zum Feld“. Was immer das auch heißen mag - aus der Sicht einer Pflegemutter und eines Pflegevaters hört es sich nicht gut an.

Die AV Pflege leistet zur Überwindung der beschriebenen Destabilität des rechtlichen Rahmens des Pflegekinderwesens in Berlin keinen Beitrag, sie tut eher das Gegenteil. Sie ist offenbar vorrangig getragen von vermeintlichen Sparzwängen und aktionistischen Veränderungsbemühungen. Das Postulat des Vorranges der Erziehung in Pflegefamilien wird zwar herausgestellt, in der weiteren Regelungspraxis jedoch an zahlreichen Stellen grob konterkariert.

Die  einhellige Meinung der Pflegekinderforschung, dass die liebevolle Erziehung in einer Familie im sogenannten Ersatzfamilienmodell die weitaus größten Chancen hat, traumatisierten Kindern und Jugendlichen neuen Halt für eine eigenständige Zukunft zu vermitteln, findet in der Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse keine Entsprechung.

Die Folgen betreffen die Gesellschaft als Ganzes. Kinder oder Jugendliche, die auf diesem Weg „verloren gehen“, weil sie statt in einer Pflegefamilie im Heim aufwachsen,  können wegen des Entstehens neuer und viel schärferer Problemlagen zu weit höheren finanziellen Belastungen für das Gemeinwesen führen.

Wenn sich der neue Aktiv Verbund auf seine Fahnen geschrieben hat, das Erbe Peter Widemanns zu verteidigen, so darf der Berliner Jugendsenator das wohl durchaus als eine Kampfansage verstehen.

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1 Lier, Axel, „Berlin - Kindheit auf dem Müll“, Berliner Morgenpost vom 17.05.2005
2 Ausführungsvorschriften über Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) und teilstatio närer  Familienpflege (§ 32 Satz 2 SGB VIII) (AV-Pflege) vom 21.06.2004
3 2002: 21.508 Fälle, 2003: 19.160 Fälle, aus: Pressemitteilung 145/05 vom 4.8.05 Statistisches Landesamt Berlin 2005
4 Bessere Rahmenbedingungen für die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien, Mitteilung  des Senators für Bildung Jugend und Sport an das Abgeordnetenhaus zur Besprechung
5 Eberhard, Gudrun; Stellungnahme des Friedrichs-Stifts zum Entwurf der Berliner Ausführungs vorschriften über die Hilf zur Erziehung; Jan. 2003 veröffentlicht auf
www.AGSP.de/html/d46.html
6 Eberhard, a.a.O.
7 Salgo, Ludwig; Pflegefamilien aus der Sicht der Rechtswissenschaft; PFAD, 2-2002
8 Hoffmann, Peter, Kann die Rechtssprechung des EUGHMR verfassungsgemäß übernommen   und angewendet werden? www.AGSP.de Diskussion 2005
9 vom 9. Mai. 95,  zuletzt geändert am 4.5.2005 (GVBl S. 282)
10 Hoffmann, Peter; a.a.O
11 Salgo, Ludwig; Gesetzliche Regelungen des Umgangs und deren kindgerechte Umsetzung    in der Praxis des Pflegekinderwesens; Zentralblatt für Jugendrecht 10/2003; S. 361-404
12 AV Pflege a.a. O. Art. 2 (7)
13 vgl. Münder u.a., Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 4. Aufl. 2003, § 37 SGB VIII Rdn. 4 ff
14 Ausführungsvorschriften für den Prozess der Planung und Durchführung von Hilfe zur Erzie    hung und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und Hilfe für    junge Volljährige vom 31.01.2005
15 Hoffmann, a.a.O.
16 11 UF 5 4/03 im Beschluss vom 05.11.03
17 FamRZ 2000, 1108,1109,
18 FamRZ 2000, 48
19 FamRZ 2000, 48
20 1 UF 312/01vom 8.5.2002
21 10 UF 126/02 vom 22.01.2003
22 OLG Hamm a.a.O.
23 Salgo, a.a.O
24 Malter, Christoph; Berliner Pflegekinderwesen in der Gunst? www.AGSP.de Jan. 2003

 

 

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