FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2002

 

Zusammenleben mit seelisch verletzten Kindern

von Irmela Wiemann
 

Vorbemerkung: Die folgenden psychologischen Gedanken und praktischen Anregungen stammen aus langjähriger Berufserfahrung und dienen der Autorin als Grundlage für Seminare, die sie für Pflege- und Adoptiveltern, für MitarbeiterInnen von Kinderdörfern und Fachkräfte aus dem Pflegekinder- und Adoptionswesen durchführt. Ihre interessanten Thesen, die unter Adoptiv- und Pflegeeltern ein breites Echo gefunden haben, wollen wir hier zur Diskussion stellen.
C.M. (Jul. 02)


Einleitung
Frühe Deprivationserlebnisse, traumatische Trennungserfahrungen wirken lebenslang auf Menschen und beeinflussen ihr Bindungs-, Leistungs- und Sozialverhalten. Auch Kinder, die früh (z.B. mit einem Jahr) in eine Familie oder familienähnliche Lebensform vermittelt werden, sind oftmals durch frühe Traumatisierung oder Deprivation geprägt. Das Zusammenleben kann auch mit diesen Kindern im Lauf der Jahre schwer werden. Dennoch gilt grundsätzlich die Regel: Je älter das Kind bei seiner Unterbringung, desto mehr Einfluss haben verschiedene typische Faktoren auf das Zusammenleben.

10 Aspekte und Langzeiteinflüsse bei der Entwicklung von Pflegekindern

1. Folgen früher Deprivationserfahrung
Frühe Deprivationserlebnisse (Entzug, Mangel) wirken lebenslang auf Menschen und beeinflussen ihr Bindungs-, Leistungs- und Sozialverhalten.

Traumatisierte und seelisch schwer verletzte Kinder haben keine ungestörte Ich-Entwicklung vollziehen können. Wurde diese Fähigkeit der Selbststeuerung in der entscheidenden frühen Zeit nur unzureichend entwickelt, lässt sich dies bei Kindern und Jugendlichen nur begrenzt aufholen. Diese Kinder können sich selbst nicht gut steuern, haben häufiger Kontrollverluste, können Bedürfnisse nicht gut aufschieben. Manche Kinder benötigen für tausend kleine Handlungen des Alltags Aufforderungen von außen. Sie haben die Möglichkeit, sich selbst zu steuern und aus eigener Initiative das Notwendige zu tun, weitestgehend verloren. Sie bedürfen in vielen Alltäglichkeiten der Außensteuerung durch die nahestehenden Erwachsenen. Dies macht das Zusammenleben zwischen Erwachsenen und seelisch früh desorientierten oder seelisch früh verletzten Kindern so schwer, vor allem, wenn diese Kinder älter werden.

Eng verbunden mit der Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstbeherrschung ist die Entwicklung des Gewissens. Kinder, die früh kein Vorbild und kein Modell hatten, haben oftmals nicht erlernt, was bezüglich sozialer Normen und Grenzen positiv und negativ ist. Manchmal fehlt ihnen das Unrechtsbewusstsein. Sie können dann ihr Verhalten manchmal ändern, weil sie nicht wollen, dass der Erwachsene ärgerlich ist, doch sie können nicht nachvollziehen, warum der Erwachsene ärgerlich ist. Es fehlt ihnen die innere Richtschnur. In Gegenwart geliebter Menschen, können die Kinder sich beherrschen, doch wenn sie das Haus verlassen und die Orientierungsperson nicht anwesend ist, kommen alte Muster wieder durch.

Kinder, die in der entscheidenden Zeit bis zu knapp zwei Jahren keine zuverlässige Orientierung zu Erwachsenen aufbauen konnten können zwar nach einem Umgebungswechsel erhebliche positive Schritte, doch in anderen bereichen ihrer Persönlichkeit bleiben sie oft noch lange auf frühkindlichen Stufen stecken. Diese Regression wirkt sich ganz unterschiedlich aus. Manchmal nässen und koten Kinder noch ein, manche haben Sprach- oder Konzentrationsstörungen, sie sind unbeherrscht wie ein einjähriges Kind, leben im Augenblick, wie ein einjähriges Kind etc. Da die Kinder in anderen Bereichen so positive Reifungsschritte vollziehen können, ist es für die Bezugspersonen oft schwer nachzuvollziehen, dass das Kind in einigen Bereichen manches nicht lernen und entwickeln kann.

Die psychische Struktur deprivierter und traumatisierter Kinder hat viele Besonderheiten. Manche Kinder haben alle der hier aufgeführten Auffälligkeiten stark ausgeprägt, andere haben nur eine Spur davon, je nach dem Schweregrad der frühen Entbehrungen oder Traumatisierung. Die typischen Verhaltensweisen sind:

  • Starkes Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, ständiger Bedarf nach Aktion, sozialer Nähe und Aufmerksamkeit. Manchmal auch Distanzlosigkeit, Nähe zu allen Erwachsenen wird gesucht, Erwachsene werden als Quelle der Zuwendung erlebt
  • Die traumatisierten Kinder können oftmals nicht aus Erfahrungen lernen. Damit einher geht rasches Vergessen oder Verdrängen wichtiger Gefühle wie Trauer, Schmerz, Ärger. Auch aus Strafe lernen sie meist nicht, wie überhaupt ihre Fähigkeit eingeschränkt ist, Erfahrungen auszuwerten. Sie sind nach Konflikten schnell wieder gut, tun so, als ob nichts gewesen wäre, nicht nachtragend.
  • Sie haben Schwierigkeit im Umgang mit der Zeit. Oft verwechseln sie Begriffe wie gestern, Morgen, nächste Woche etc. Das Kind lebt ganz im Jetzt, ganz situativ. Was vorbei ist, zählt nicht mehr.
  • Die sofortige Bedürfnisbefriedigung zählt (Beharrlichkeit, wenn es um das Durchsetzen dieser Bedürfnisbefriedigung geht), Triebaufschub fällt schwer. Leben im Augenblick, kurzfristiges Glück zählt, Leben nach dem Lustprinzip, Pflichten werden umgangen, Leistungsverweigerung. Taschengeld wird meist sofort ausgegeben. Dabei sind die Kinder großzügig und geben viel für andere aus.
  • Wenig Frustrationstoleranz, keinen Triebverzicht. Sie kennen oft kein Maß und keine Grenzen (Suchtstruktur). Oft sind sie großzügig und freigiebig.
  • So wie mit ihnen früh umgegangen wurde, gehen die Kinder oft mit ihren Sachen um. Sie vergessen und verlieren oder verschenken häufig, was ihnen wertvoll ist und scheinen es danach kaum zu bedauern. Sie ziehen gern Kleidung von anderen an, vertauschen und verwechseln. Es geht ihnen häufig etwas kaputt (oft auch unabsichtlich).
  • Sie können weder gut für sich selbst noch für andere angemessen sorgen. Manche Kinder haben reduziertes Schmerzempfinden. Manche Kinder riskieren viel, ziehen sich oft Verletzungen zu. Manche Kinder haben den Kontakt zu sich selbst weitestgehend verloren, sie haben kein Körpergefühl, merken z.B. viel später als geborgen aufgewachsene Kinder ob ihnen zu kalt oder zu warm ist etc. Bei anderen Kindern überwiegen Überempfindlichkeit, übertriebenes Schmerzempfinden.
  • Sie sind selbstunsicher, nervös, unkonzentriert. Es fehlt ihnen häufig die seelische Energie ihren Begabungen gemäß zu lernen und zu leisten. Sie haben gehäuft: Leistungsprobleme, Wahrnehmungsstörungen, Teilleistungsschwächen, mangelnde Ausdauer.
  • Sie haben soziale Normen und Regeln oft nicht verinnerlicht Potential für Überschreitung von Normen ist leicht zu mobilisieren. (Lügen oder Stehlen hat für sie kaum moralische Bedeutung und geschieht aus dem Augenblick heraus).
  • Es gehört zur Persönlichkeitsstruktur deprivierter Kinder, dass sie Kritik nicht vertragen, denn Kritik kann von Menschen nur angenommen werden, wenn sie ein festes Selbstwertgefühl haben. So lassen sie Kritik lieber nicht an sich herankommen, streiten alles ab. Wenn sie „ertappt“ wurden, sind sie zerknirscht, geloben Besserung. Doch schon bald wiederholen sie das ungewünschte Handeln.
  • Mangelnder Realitätsbezug, Umdeutung der Wirklichkeit. Es fällt dem Kind schwer, die Folgen seines Handelns real einzuschätzen.
  • Bei manchen Kindern: Offene Angst und Panik angesichts von Neuem und Fremdem.
  • Kaum Bewältigung von Unsicherheit und Angst. Um Angst und Unsicherheit zu überspielen manchmal: Prahlen, Machtphantasien, Machtdemonstration,
  • Versuch, andere zu steuern und zu beherrschen. Diese Fähigkeit mussten seelisch verletzte Kinder entwickeln, um bei Verlust- und schweren Mangelsituationen zu überleben.

Kein Kind hat alle Muster gleichzeitig. Je nach individuellen Einflüssen der Vergangenheit sind einzelne Verhaltensbereiche stärker oder weniger stark ausgeprägt. Diese typischen Strukturen seelisch verletzter Kinder sind eine Seite der Kinder, ihre andere Seite ist kreativ, lebendig, lernfähig. Umso schwerer ist es für die Bezugspersonen, zu begreifen, dass das Kind diese schwierigen Seiten nicht ohne weiteres ablegen kann.

2. Bindung und Verlust
Daß Beziehungsabbrüche im Kindesalter Menschen lebenslang belasten und dazu führen, dass sie im Jugend- und Erwachsenenalter oft irreversible erhebliche seelische und soziale Probleme im Persönlichkeits- und Leistungsbereich entwickeln, wurde von Bettelheim, Erikson, Bowlby, Redl, Wineman u.v.a. eindrücklich dargestellt. Jeder Beziehungsabbruch im Kindesalter bis hin zur Pubertätszeit traumatisiert und verletzt Menschen seelisch akut und für ihr weiteres Leben. Ihre Bindungsfähigkeit wird durch erlittene Beziehungsabbrüche eingeschränkt. Je jünger ein Kind bei einem oder mehreren Beziehungsabbrüchen, desto schwerwiegender können die Persönlichkeitsstörungen, aber auch die Verweigerung, sich neu zu binden, ausgeprägt sein.

Hat ein Kind „nur“ einmal im Leben alles verloren (Zuhause, Revier, nahestehende Menschen), so ist ein Kind nach einer Phase versteckter oder offener Trauer bereit, sich wieder auf neue Menschen einzulassen, wenn diese Bindeglieder zur früheren Zeit zulassen. (Lebensgeschichte, Fotos, Kontakte etc.) Diese Kinder haben dennoch eine Vielzahl von besonderen Konflikten: Manchmal haben sie besondere Trennungsängste, Angstzustände, Schlafprobleme, schlechte Träume etc. Manche dieser Kinder stellen die neuen Beziehungen immer wieder in Frage. Das Kind prüft unbewusst, ob die neuen Bezugspersonen es Irmela Wiemann Zusammenleben mit seelisch verletzten Kindern wieder loswerden wollen, wenn es sich „schlimm“ verhält. Es hat Angst, sich erneut tief einzulassen, denn es könnte ja wieder verstoßen werden. Bis ein Kind wieder Vertrauen entwickeln kann, dauert oft viele Jahre.

Manche Kinder fühlen sich von der Mutter ganz besonders verlassen und im Stich gelassen. Diese Kinder strafen und provozieren die neue „Mutter“ und meinen damit in weiten Teilen ihre erste Mutter.

Hat ein Kind mehrere Bezugspersonen- und Umgebungswechsel in den Jahren vor seiner Vermittlung erlebt, so hat das Kind einen hohen Grad an Autonomie entwickelt, d.h. seine Fähigkeit und Bereitschaft, sich so zu binden, wie dies neue „Eltern“ von ihm erwarten, ist stark eingeschränkt. Das Kind kann unbewusst nicht ohne weiteres wieder Vertrauen aufbauen, es lebt ein eigenes Leben, stellt seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt. Die Bezugspersonen des Kindes erleben die Beziehungsblockade oft schmerzlich. Sie haben phasenweise oder ständig das Gefühl, keinen „richtigen Zugang“ zum Kind zu bekommen.

Ein zentraler Begriff aus der Bindungstheorie ist die "sichere Basis". Erwachsene, die auf die Bedürfnisse ihrer Kinder feinfühlig reagieren und Schutz in schwierigen Situationen gewähren, dienen ihrem Kind als "sichere Basis". Von dieser sicheren Basis aus, so die Bindungstheorie, gelingt es Kindern, die Welt zu explorieren, ihr Neugierverhalten angemessen auszuleben.

Die Bindungsforscher haben drei große Typen herausgearbeitet:

  • Sicher gebundene Kinder: Der Erwachsene wird als sichere Basis erlebt und kann feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen.
  • Ambivalent gebundene Kinder: Der Erwachsene wird vom Kind nicht durchgängig als zuverlässig sondern phasenweise oder ständig auch als unbefriedigend erlebt. Er ist phasenweise nicht verfügbar oder mißversteht das Kind.
  • Vermeidend gebundene Kinder: Der Erwachsene wird als stark verunsichernd oder sogar bedrohlich erlebt.
  • neben diesen drei Typen gibt es Kinder, die nicht einzuordnen sind sowie Kinder mit desorganisierter Bindungsstruktur.

Frühe Bindungserfahrungen werden auf die neuen Bezugspersonen übertragen. Kinder haben die Bindungserfahrungen innerlich repräsentiert und stellen die Grundmuster in den neuen Familien wieder her.

Da Kinder, die fremduntergebracht werden müssen, häufig aus chaotischen Familienstrukturen kommen, viel Unruhe, Unterversorgung, Gewalt, Angst und Einsamkeit erlebt haben, sind sie meist nicht sicher gebunden. So können sie nach einem Beziehungsabbruch keine vertrauensvolle Bindung neu entwickeln, sondern sie erwidern das positive Bindungsbemühen der Bezugspersonen mit starken Ambivalenzen oder mit Vermeiden wollen von Bindung.

Wenig Gewicht wurde von den Bindungsforschern auf die Geschwisterbindung gelegt. Bank und Kahn weisen in ihrem Buch "Geschwisterbindung" darauf hin, dass neben der Eltern-Kind-Bindung die Geschwisterbindung der nächst wichtige sehr zentrale Sozialisationsfaktor ist. Wenn die Elternbindung abgeschwächt ist, bzw. Eltern nicht verfügbar sind für die Kinder, suchen die Kinder in der Geschwisterbeziehung ihre Bedürfnisse nach Kontakt, Kommunikation, Schutz und Geborgenheit zu befriedigen. Deshalb kommt in Familien in schweren Krisen der Geschwisterbindung ein besonderer Stellenwert zu.

Untersuchungen haben ergeben (siehe Rutter), dass die gemeinsame Vermittlung von Geschwistern in eine neue Umgebung angstreduzierend wirkt. Die Kinder können sich langfristig besser stabilisieren, weil sie sich nicht komplett entwurzelt fühlen mussten. Beziehungsabbrüche von vertrauten Geschwistern tragen mit dazu bei, dass Kinder ihre Bindungsbereitschaft reduzieren.

Frühere Verluste führen beim Kind zu einem unbewussten oder bewussten Programm: Das Kind prüft unbewusst, ob die Pflegeeltern es wieder loswerden wollen, wenn es sich "schlimm" verhält. Dazu hat es Angst, sich erneut tief einzulassen, denn es könnte ja wieder verstoßen werden. Das Kind muss sich gegen jede neue nahe Bindung noch lange schützen. Bis ein Kind wieder Vertrauen entwickeln kann, dauert oft viele Jahre. Manche packen es nie - je nach Grad der frühen Verletzungen. Wenn Pflegeeltern sich von der "Verweigerung" der Beziehung durch das Kind immer wieder verletzen lassen, so ist eine Eskalation der Konflikte nicht zu vermeiden.

3. Die Übertragung früher Familienregeln und –muster
Alte Verhaltens- und Familienregeln werden von den Kindern in die neue Familie hineingetragen. Es gibt Zeiten, da bringen Pflegekinder riesige Energien auf, ihren Pflegeeltern zu gefallen, sie funktionieren, sie verausgaben sich. Doch dann inszenieren sie wieder Konflikte, entfernen sich innerlich, ohne dass die Bezugspersonen eine Ursache herausbekommen. Die Kinder wiederholen hier früh Erfahrenes: Auf eine Zeit der Abhängigkeit oder Zugehörigkeit folgte die totale Entwurzelung. Viele Pflegekinder übertragen zudem früh erlebte Beziehungsmuster auf die neue Familie. Z.B. Kinder, die schweren Grenzsituationen oder Misshandlungen ausgesetzt waren, provozieren bei ihren neuen Eltern ähnliche Verhaltensweisen. Sie müssen prüfen, ob Negatives, was sie schon kennen, wieder eintritt.

Haben Kinder mit Menschen mit starken Abhängigkeits- und Suchtproblemen gelebt, so haben sie keine Grenze zwischen Ich und Du aufbauen können. Kinder aus Suchtfamilien benutzen ihr Gegenüber oft wie eine Droge, sie sind grenzenlos und vereinnahmen die Menschen ihrer Umgebung. Diese frühen mitgebrachten Muster sorgen für erhebliche Probleme in der Pflegefamilie.

Kinder, die bis zu ihrer Vermittlung im Heim gelebt haben, haben dort ebenfalls soziale Muster entwickelt: Das Kind ist ständig unter anderen Kindern, es hat Ablenkung und unverbindliche Kontakte. Es verlernt, sich allein zu beschäftigen. Es hat zu sehr vielen Menschen Kontakte, jedoch ohne, sich auf wenige bestimmte Menschen festlegen zu dürfen. Für diese Kinder ist es oft außerordentlich schwer, sich auf die verbindlichen Regeln des nahen Zusammenlebens in der Familie einzulassen.

4. Die Kränkung, fortgegeben worden zu sein
Die Kränkung, oftmals verbunden mit Schuldgefühlen, von den eigenen Eltern weggegeben worden zu sein, hinterlässt existentielle seelische Wunden, von denen Pflegeeltern oft annehmen, dass sie verheilt seien, wenn das Kind schon länger bei ihnen lebt. Manche Kinder oder Jugendliche verdrängen den Schmerz. Manche Kinder fühlen sich selbst verantwortlich für ihre Fortgabe. Sie fragen sich, ob sie alles getan haben, um die Katastrophe zu verhindern.

Viele fremdplatzierte Kinder geben sich selbst Mitschuld oder sogar die Alleinschuld an der Trennung. Sie fragen sich: „Was war an mir nicht richtig, dass sie mich nicht gebrauchen konnte?“ Pflege- und Adoptivkinder, Heim- und Kinderdorfkinder fühlen sich entwertet, abgewiesen und haben daraus resultierend ein geringes Selbstwertgefühl. Manche geben es sich selbst zu, wie stark die Tatsache, fortgegeben worden zu sein, schmerzt; andere verdrängen und sagen: „Das macht mir doch nichts aus“. Die Kränkung, von den „eigenen Eltern“ weggegeben worden zu sein, hinterlässt dennoch existentielle seelische Wunden und ein geschwächtes Selbstwertgefühl.

5. Rollentausch
Oftmals haben ältere Geschwister in ihrer Herkunftsfamilie viel Verantwortung für die jüngeren Geschwister getragen. Sie waren Elternersatz für die jüngeren Geschwister. Nun übernehmen die Pflegeeltern diese Rolle. In ihren "erwachsenen" Überlebensfähigkeiten werden die älteren Kinder nicht mehr gebraucht. Sie sollen jetzt noch einmal ganz Kind sein. Dieser erzwungene Rollentausch führt bei Kindern oft zur Verwirrung.

Oftmals waren die Kinder Partner ihrer Eltern oder sie haben für ihre Eltern oder Elternteile gesorgt, für sie Verantwortung übernommen. Wird ihnen diese Rolle genommen, so verlieren sie ihre gewohnte Rolle. Sie benötigen kleine Übergangsschritte.

6. Identitätskonflikte
Identitätsentwicklung bedeutet, herauszufinden, wer wir sind und mit wem wir übereinstimmen. Ob sie ihren Eltern ähnlich sehen, in welchen Eigenschaften sie ihren Eltern gleichen, in welchen nicht, ist allen fremdplazierten Kindern wichtig. Hier kommt es entscheidend mit darauf an, was die Pflegeeltern gegenüber den leiblichen Eltern fühlen, ob sie auch gute Seiten an den leiblichen Eltern sehen können und ob sie diese so achten können wie sie sind und dem Kind Erklärungen geben können, weshalb ihre Eltern in ihre jeweilige Notlage kamen. Sonst reproduzieren manche Kinder aus unbewusster Identifikation immer wieder negative Verhaltensweisen ihrer Eltern und bringen damit die Pflegefamilie zur Verzweiflung.

Die innere Haltung des Kindes zu seiner Familie spielt auch eine Rolle, wenn das Kind schon länger bei anderen Menschen oder im Heim gelebt hat. Die Herkunftsfamilie bleibt ein zentraler Teil des Lebens, auch wenn das Kind bei Pflege- oder Adoptiveltern oder in einer Kinderdorffamilie lebt.

Andere Kinder schämen sich ihrer Eltern. Zugleich schämen sie sich ein Stück ihrer selbst. Denn sie wissen, dass sie Kind dieser geächteten Menschen sind. Kommen sie nicht am Ende auf Vater oder Mutter heraus? Solche Annahmen werden durch das soziale Umfeld oft genug verstärkt.

7. Loyalitätskonflikte
Kinder, die eine Zeit mit ihren Eltern oder Großeltern gelebt haben, auch wenn sie schon länger im Heim untergebracht waren, vergessen ihre Eltern und ihre Geschwister nicht. Sie können ihre Familien nicht ohne weiteres austauschen. In ihrer Phantasie bleiben die Kinder oftmals ihren Familien treu, verzeihen das Erlittene, geben sich selbst die Schuld am Zusammenbruch der Familie und dem damit verbundenen Verlust. Unbewusst wollen sie Kind ihrer Herkunftsfamilie bleiben. Manche Kinder fühlen sich schuldig, wenn sie das Angebot an Zuwendung und Liebe der neuen Eltern oder Betreuungspersonen annehmen und müssen es entwerten, indem sie zahlreiche Konflikte inszenieren. Sie bleiben ihrer alten Familie oftmals in ihren Träumen loyal.

Der Loyalitätskonflikt ist die häufigste Ursache für Verhaltensauffälligkeiten, die infolge von Kontakten auftreten. Viele Pflegekinder fühlen sich verantwortlich für ihre Eltern und sie fühlen sich schuldig, dass sie sich in der Pflegefamilie Zuhause fühlen. Gleichzeitig ist ihnen auch gegenüber ihren Pflegeeltern unbehaglich zumute, weil ihnen die Eltern wichtig bleiben. Sie wollen die Pflegeeltern nicht kränken, es sich mit ihnen nicht verderben. Manche Kinder fürchten die Zuwendung der Pflegeeltern zu verlieren und erklären selbst die eigenen Eltern zu Gegnern, die sie nicht mehr sehen wollen.

Das Kind möchte, wie jedes andere Kind, am liebsten nur eine Familie haben. Doppelt Eltern zu haben, dafür gibt es kein Modell in den Normen dieser Gesellschaft. Und erst wenn die Pflegeeltern diesen leiblichen Eltern, so wie sie sind, einen Platz eingeräumt haben, ein Prozess, der auch mit Trauer und Schmerz einhergeht, geht es Kindern in Pflegefamilien gut.

Doch auch die innere Haltung der Herkunftseltern zur Unterbringung ihres Kindes in der Pflegefamilie ist entscheidend für das Wohlbefinden des Kindes. Ohne Entbindung und Verabschiedung und das klare vom Kind erlebte Einverständnis der Mutter und/oder des Vaters, kann das Kind keine neuen Menschen in der Elternrolle annehmen. Leibliche Eltern sollten intensiv beraten und vorbereitet werden, ihrem Kind die geeigneten Worte mündlich oder schriftlich mit auf den Lebensweg zu geben.

Um die strukturell angelegte Spannung zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie abzubauen, müssen Herkunftseltern und Pflegeeltern intensive Beratung und Begleitung erhalten und lernen, im Interesse des Kindes miteinander zu kooperieren. Es ist der einzige Weg für Pflegekinder, mit ihrer schweren Situation zu reifen, wenn sie eine Ausgewogenheit, eine Balance zwischen ihren beiden Familien herstellen können. So wie Scheidungskinder nur dann zufrieden aufwachsen, wenn beide Elternteile das Kind darin unterstützen, den anderen Elternteil zu lieben, so benötigt das Kind die Erlaubnis seiner Herkunftsfamilie, sich in der Pflegefamilie daheim zu fühlen und von der Pflegefamilie die Zustimmung, den eigenen Eltern einen angmessenen Platz im Leben einzurichten.

8. Perspektivenklärung
Die Rahmenbedingungen des Pflegeverhältnisses sollten für Pflegeeltern und leibliche Eltern möglichst früh klar sein: Soll das Kind zurück zu seinen leiblichen Eltern oder ist es Dauerpflegekind? Soll die Pflegefamilie bleibende Familie des Kindes sein oder hat sie vorübergehend Elternfunktion übernommen?

  • Entweder die Pflegefamilie darf gemäß dem Modell der klassischen Privatfamilie leben: Ein Kind kommt jung in eine Pflegefamilie und Mutter (und Vater) und ASD sind sich darüber einig, dass das Kind auf Dauer in einer anderen Familie ein Zuhause bekommen soll. Das Kind darf Teil der Pflegefamilie sein und sich dort binden und zuhause fühlen.
  • Oder die Pflegefamilie erfüllt bewusst und gern weitestgehend das, was sonst Heime leisten: Sie macht das Angebot, ein Kind für einen begrenzten Zeitraum zu begleiten und eng mit der Mutter oder dem Vater zusammenzuarbeiten, damit das Kind zu seinen Eltern zurückkehren kann. Das Kind wird nicht zum Teil der Familie, sondern bleibt Gast, wird betreut. Das Kind bleibt ganz Kind seiner Herkunftsfamilie. Die Herkunftsfamilie bleibt für das Kind weiterhin als eigene Familie verfügbar, sodass eine Rückführung für das Kind nicht zum Neuanfang wird. Das Kind wird ermutigt, Kind seiner Eltern zu bleiben und seine Familie nicht gegen die Pflegefamilie einzutauschen.
  • Bei Säuglingen und Kleinkindern geht dies nicht. Sie binden sich an die Pflegeeltern wie an Eltern. Sie können später nur in ihre Herkunftsfamilie überwechseln, ohne seelischen Schaden zu erleiden, wenn die Mutter oder der Vater als regelmäßig erlebbare dritte Bezugsperson ein vertrauter Mensch im Leben ist und bleibt. Auch nach einer Rückkehr zur Herkunftsfamilie müsste die Pflegefamilie das Kind "nachbetreuen", damit es keine radikalen Beziehungsabbrüche zugemutet bekommt. Die Pflegefamilie ist hier quasi Assistenzfamilie der Herkunftsfamilie und handelt in enger Kooperation mit der Herkunftsfamilie. Eine Pflegefamilie zu finden, die dies leistet, ist nicht einfach, weil sie dem klassischen Normen- und Regelsystem der Privatfamilie zuwiderhandeln muss und überwiegend Professionalität gefordert ist. Doch ich kenne Pflegeeltern, die solche Aufgaben hervorragend übernehmen, obwohl sie nicht wie Professionelle dafür bezahlt werden.
  • Ist eine Mutter oder ein Vater gegen die Maßnahme, so müssen die Fachleute dennoch für eine Balance zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie sorgen. Selbst wenn das Familiengericht den Verbleib geregelt hat, braucht das Kind Pflegeeltern, die das nicht vorhandene Einverständnis der Herkunftseltern ausgleichen. Die Pflegeeltern müssten aus innerer Überzeugung zum Kind sagen können: "Ich kann deine Mutter bzw. deinen Vater verstehen, dass sie dich nicht hergeben wollten. Aber sie konnten es nicht allein bestimmen. Das Gericht hat für dich entschieden, dass du bei uns leben kannst. Ich bin deinen Eltern überhaupt nicht böse."

9. Konzept der Besuchsregelung
Kontakte zu Angehörigen beziehen sich nicht nur auf die Eltern. Der regelmäßige Umgang mit Geschwistern, manchmal auch mit Großeltern oder anderen vertrauten Personen des früheren Lebens stärken das Selbstwertgefühl des Kindes.

Die Rahmenbedingungen von Elternkontakten müssen so gestaltet sein, dass sie am Alter und am seelischen Entwicklungsstand des Kindes orientiert sind. Babys und Kleinkinder können auch eine stundenweise Trennung von ihren vertrauten Bezugspersonen nicht einfach überbrücken. Deshalb müssen die Besuche dann entweder im Haus der Pflegefamilie stattfinden oder eine vertraute Bezugsperson begleitet das Kind zu den Eltern.

Die Häufigkeit von Kontakten zwischen Eltern und Kind muss an der geplanten Dauer der Hilfe zur Erziehung in einer Pflegefamilie orientiert sein. Die Kontakte sollen so gestaltet werden, dass die Besuche für das Kind seelischen Nutzen bringen.

Besuche haben folgende Funktion:

  • War ein Kind bereits an seine Eltern gebunden (auch wenn ambivalent), so kann es auf neue Menschen besser wieder Bindung übertragen, wenn es die Menschen des früheren Lebens nicht vollends verliert. Die Besuche dienen dann der Fortsetzung dieser Bindung und der Vertrautheit.
  • Auch wenn ein Kind keine Bindung zu seinen Eltern hatte, so können Kontakte auf das Kind beruhigend wirken, weil es erlebt, dass die Eltern, die es fortgegeben haben, es nicht vergessen haben.
  • Die Besuche bei Eltern sowie bei Geschwistern helfen bei der Klärung der Identitätsfindung. Pflegekinder mit Kontakten zu den Eltern oder zu Geschwistern haben weniger Identitätsprobleme, als Inkognitoadoptierte, denen ein wesentlicher Baustein ihrer selbst fehlt.
  • Die Besuche dienen der "Verarbeitung" der Wirklichkeit. Kinder können anlässlich der Besuche manchmal besser einordnen, weshalb sie nicht bei ihren Eltern leben können.
  • Darüber hinaus kann eine Zufriedenheit der Eltern bezüglich der Besuchshäufigkeit sich direkt auf das Kind auswirken.

10. Dynamik, Status und Rolle in der Pflegefamilie
Die Jugendhilfemaßnahme Platzierung in einer Pflegefamilie ist deshalb so komplex, weil hier kein professioneller Anbieter einer Leistung beauftragt wird, sondern zunächst ganz private Ressourcen und persönliche Motive, einem Kind helfen zu wollen oder für ein fremdes Kind Elternrolle übernehmen zu wollen, mit den Interessen der öffentlichen Jugendhilfe in Einklang gebracht werden müssen. Die Pflegefamilie ist Privatfamilie und zugleich Institution.

Unter den Geschwistern – leiblichen Kindern und Pflegekindern – der Familie gibt es eine vielfältige Dynamik. Konflikte eskalieren, wenn Status und Rolle und die unterschiedlichen Gefühlsbindungen zum eigenem Kind und Pflegekind verleugnet werden. Die zahlreichen Besonderheiten, die im Zusammenleben mit einem Pflegekind auftreten, führen häufig dazu, die Belastungen zu übersehen, die leibliche Kinder wegen der Pflegekinder mit tragen. Nicht nur die Eltern zu teilen, sondern sie mit einem Kind zu teilen, das viel Unruhe in die Familie trägt, bedeutet für das leibliche Kind eine ganz große Herausforderung.

Manche leiblichen Kinder schämen sich in der Schule oder im Freundeskreis für das im Sozialverhalten oft schwierige Pflegekind. Das Pflegekind riskiert Verhaltensweisen, die sich das Familienkind nicht getraut hätte, macht sich oft unbeliebt. Das Leben der leiblichen Kinder wird gehörig durcheinandergewirbelt.

Die Eltern können Schuldgefühle bekommen, weil sie dem eigenen Kind ein so schwieriges Familienleben abverlangen. Manche leiblichen Kinder bilden dann eine ganz enge Koalition mit den Eltern und regen sich zusammen mit den Eltern auf über die Schwierigkeiten des Pflegekindes. Das leibliche Kind als Helfer für die Eltern kann dann nicht angemessen selbständig werden. Und das Pflegekind fühlt sich durch die Koalition der leiblichen Familie benachteiligt.

Manchmal dauert es Jahre, bis eine Pflegefamilie lernt, die verschiedenen Bahnen, in denen leibliches Kind und Pflegekind sich bewegen auch so zu gestalten, dass es für alle erträglich wird.

Pflegeeltern mit leiblichen Kindern sollten beherzigen:

  • Der Status Pflegekind – eigenes Kind darf sich im Lebensalltag spiegeln und muss nicht verleugnet werden.
  • Für die Kinder sollten unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Freundeskreise, eigene Lebensbereiche, eigene Hobbys gefördert werden.
  • Nur wenn in der Familie jeder jedem anderen ein Stück Eigenleben, Anderssein und Autonomie zugesteht, kann das Zusammenleben gelingen.

Notwendige Voraussetzungen auf der Seite der annehmenden Eltern

  • Abschied vom Wunschkind, Abschied vom nicht geborenen Kind. Annehmende Eltern haben den langen Leidensweg der ungewollten Kinderlosigkeit hinter sich. Sie fühlen sich oftmals minderwertig und als Versager und Außenseiter der Gesellschaft. Das anzunehmende Kind soll die schmerzenden Wunden schließen. Die annehmenden Eltern eines älteren Kindes können sich nicht vorstellen, wie nachhaltig das Kind mit sich selbst, seinem eigenen Schmerz und seinen eigenen Erfahrungen befasst ist. Annehmende Eltern müssen begreifen lernen, daß das Kind häufig noch gar keine Eltern gebrauchen kann, da es mit dem Verlust der eigenen Familie befasst ist.
  • Statt die lang ersehnte Elternrolle einnehmen zu können, müssen die annehmenden Eltern eines seelisch verletzten Kindes lernen, Expertinnen für die Störungen dieses Kindes zu werden, müssen sozialpädagogische, therapeutische Zusatzkompetenzen erwerben, müssen die notwendige Dosierung zwischen innerer Nähe und Distanz vornehmen. Sie müssen akzeptieren lernen, daß dieses Kind mit dem ersehnten „eigenen Kind“ kaum Gemeinsamkeiten hat.
  • Realisieren, daß das angenommene Kind Eltern hat. Auftrag der annehmenden Eltern oder an die Kinderdorfmutter ist es, dem Kind deutlich zu zeigen, daß sie die frühere Familie des Kindes nicht ersetzen können sondern, daß sie etwas Neues, Zusätzliches im Leben des Kindes darstellen. Die innere Aussöhnung, der innere Frieden mit der Herkunftsfamilie ist ein entscheidender Faktor. Die frühere Familie des Kindes benötigt einen angemessenen Platz im neuen Leben des Kindes. Das bedeutet häufig die intensive Auseinandersetzung mit seelischen und körperlichen Verletzungen, mit Vernachlässigung, Gewalt oder Mißhandlung. Hinzu kommt, daß die Betreuungspersonen lernen müssen, nicht im Haß oder in Aggressionen zu verharren, sondern über die Herkunftsfamilie trauern lernen. Sie müssen dem Kind gegenüber folgende Haltung beziehen lernen: „ Deine Eltern haben schlimme Dinge getan und Dir ungeheuer weh getan. Sie haben es vielleicht nicht mit Absicht getan. Aber es läßt sich nie mehr aus der Welt schaffen. Aber irgendwo müssen sie auch gute Seiten in sich haben, sonst wärest Du nicht ein so tolles Kind geworden.“
  • Realisieren, daß das Kind in weiten Teilen eine fertige Persönlichkeit ist und daß die Eltern oder Bezugspersonen über dieses Kind nicht ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte verwirklichen können. Bezugspersonen seelisch verletzter Kinder müssen verinnerlichen lernen, dass die Welt dieses Kindes und seine sozialen Möglichkeiten, vielleicht weit entfernt ist von der Welt der Annehmenden.
  • Realisieren, dass das seelische verletzte Kind ein unerschöpfliches Reservoire an konflikthaftem Verhalten mitbringt. Lernen, daß dieses Verhalten nicht unbedingt gegen die annehmenden Eltern oder Betreuungspersonen gerichtet ist. Lernen, sich nicht immer wieder neu verletzen und enttäuschen zu lassen, sondern akzeptieren, daß mensch in einer alternativen, vielleicht ein Stück chaotischen Familie lebt.
  • Bezugspersonen eines seelisch verletzten oder behinderten Kindes können dieses Kind nicht ihren Wünschen und Bedürfnissen anpassen, sondern sie sind gefordert, sich auf die Besonderheiten dieses Kindes einzustellen. Tolerieren und Aushalten, daß das Kind keinen geraden Entwicklungsweg bezüglich Leisten, Schule oder Ausbildung gehen kann sondern zahlreiche Grenzerfahrungen und Konflikte zum Alltag gehören. Das Kind hat einen erhöhten Förderbedarf bezüglich therapeutischen Maßnahmen wie Motopädie, Ergotherapie, Psychomotorik, Wahrnehmungsförderung etc. Das bedeutet einen erhöhte Fähigkeit, den Alltag zu organisieren. Die Kinder brauchen sehr viel Hilfestellung und können nur in „kleinen Schritten“ lernen. Die ungelösten Spannungen ihres ganzen Lebens lassen sich nicht einfach reparieren, lassen sich nicht einfach in den Griff bekommen.
  • Eltern eines seelisch verletzten Kindes benötigen ein anderes Lebenstempo. Sie sollten das Kind nicht mit dem, was sein sollte, mit dem was „normal“ ist, vergleichen.

Heilungschancen für traumatisierte Kinder nutzen: Biografiearbeit mit dem Kind

  • Die Bearbeitung der Vergangenheit des Kindes. Bindeglieder zu früher bewahren. Alte Wohnorte aufsuchen wie Heim, Kindergarten, Straße der Eltern. Wenn möglich Besuche bei Geschwistern oder Herkunftsfamilie, Großeltern etc.. Aufheben der Spielsachen von früher, Kleidung von früher...
  • Mit dem Kind über das Erlebte altersgemäß und ehrlich sprechen. Trauern und Trauer ermöglichen. Traumatische Erfahrungen benennen und dem Kind davon erzählen. Es ist wichtig über die Not, die Ängste, den Schmerz zu sprechen. Aber es ist auch sehr wichtig mit den Kindern gemeinsam nachzudenken, was früher schön war, woran sie sich gern erinnern.
  • Die eigene Betroffenheit mitteilen: z.B. „Wenn ich das alles erlebt hätte, als ich so alt war wie Du, dann wäre ich ganz schön durcheinander“... „traurig“... „wütend“. .“hätte ich mich sehr allein gefühlt“...
  • Benennen, daß es ein großer Kummer für ein Kind ist, nicht bei seinen Eltern leben zu können.
  • Wenn ihnen erklärt wird, daß auch ihre Eltern einst Kinder waren, die durch eine schwere Kindheit unfähig wurden, Eltern zu sein, dann ist immer auch hinzuzufügen: „Du hast jetzt eine neue Chance. Du lebst jetzt mit anderen Menschen und hast die Wahl und die Möglichkeit, ganz anders zu werden: Zum Teil wie wir, zum Teil wie deine Eltern, zum Teil noch ganz anders, nämlich du selbst: Ein eigener neuer Mensch.“
  • Die Brüche im Leben des Kindes dokumentieren, indem mit dem Kind ein „Buch über mich selbst“ angefertigt wird:
  • Eine wertvolle Hilfe für alle Kinder, die schon lesen und schreiben können, mit ihrer doppelten Identität besser klar zu kommen, ist nicht nur das Fotoalbum mit Bildern von früher. Sie können ein Buch über sich selbst schreiben. In diesem Buch – am besten einem Ringordner, dem beliebig viele Blätter hinzugefügt werden können – soll nicht nur am Anfang die Lebensgeschichte enthalten sein, die die Adoptiveltern früher aufgeschrieben haben, ausgestattet mit Bildern und Zeichnungen. Hier können sehr viele Bereiche über die Identität des Kindes bearbeitet werden. Dieses Buch kann gelegentlich fortgesetzt oder in Teilen neu geschrieben werden. Es ist eine wertvolle Grundlage für Kind und Bezugspersonen, über die zentralen Themen im Leben im Gespräch zu bleiben.
  • Das Buch kann folgende Themen umfassen:

- Name, Geburtstag, Ankunftstag in der Adoptiv- Pflege- oder Kinderdorffamilie oder in der Heimgruppe.
- Name meiner leiblichen Eltern, wann und wo geboren?
- Name meiner Pflegeeltern, wann und wo geboren?
- Namen meiner leiblichen Geschwister, Wo leben sie?
- Namen meiner Geschwister in der Kinderdorffamilie
- Wo habe ich früher gelebt? Mit wem habe ich von wann bis wann gelebt?
- Bei meinen leiblichen Eltern von .............. bis ..................
- Im Kinderheim von .............. bis ...............
- In der Kinderdorffamilie seit: ................
- Was erinnere ich als allerschlimmstes im früheren Leben?
- Was ist meine schönste Erinnerung an früher?
- Mein Lieblingstier, meine Lieblingsfarbe, meine Lieblingsmusik, mein Lieblingsschauspieler, mein Lieblingsfilm ...
- Meine guten Eigenschaften:
- Meine Fehler:
- Was ich besonders gut kann
- Was ich nicht so gut kann
- Meine besten Freundinnen und Freunde heißen:
- Ich mag an ihnen:
- Wenn ich groß bin, möchte ich gerne so werden wie:
- Wenn ich groß bin, möchte ich folgenden Beruf haben:

Mehr innere Neutralität im alltäglichen Zusammenleben

  • Die Bezugspersonen seelisch verletzter Kinder benötigen zahlreiche Zusatzkompetenzen, wie z. B. sozialpädagogische Fähigkeiten, Kreativität, das Kind spielerisch zu unterstützen und ihm Hilfestellung zu geben oder das Problemverhalten nicht gegen sich gerichtet zu sehen, auf Provokation liebevoll oder humorvoll zu reagieren. Hinzu benötigen sie die Bereitschaft, dem früheren Leben des Kindes und seinen Einflüssen den gemäßen Stellenwert einzuräumen.
  • Die Kinder brauchen sehr viel Hilfestellung und können nur in „kleinen Schritten“ lernen.
  • Seelisch verletzte Kinder benötigen mehr Schutz und Kontrolle als Gleichaltrige sonst.
  • Ein „depriviertes Kind“ braucht Lob und Unterstützung auch für kleine Selbstverständlichkeiten, viel positive Kontrolle und Hilfe beim Einhalten von Regeln, Geduld und Wertschätzung trotz schwierigem Verhalten.
  • Wenn Kinder spüren, dass der Erwachsene Umwege und Verweigerung erträgt, ohne wütend zu werden, ohne sich selbst als Versager zu fühlen, dann sind sie am ehesten in der Lage, ihr Verhalten zu ändern.
  • Die Kinder benötigen Akzeptanz, obwohl sie sich „unmöglich“ verhalten. Ihr schwieriges Verhalten kann ein Stück „entschärft“ werden, indem die Bezugspersonen es liebevoll deuten und vor allem nicht verletzt reagieren.
  • Sie brauchen besonders viel Ichstärkung und Hilfen bei der Persönlichkeitsentwicklung. Damit sie sich selbst als wertvoll fühlen, sollten sie ermutigt werden, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln: Dies geschieht durch Förderung von Begabungen, Produktivität und Kreativität.
  • Es ist sehr wichtig, Kinder immer zu ermuntern, nicht so sein zu wollen, wie die anderen, sondern Mut zu eigenen Wegen und Ideen zu entwickeln. Wir sind geprägt durch unsere Stärken und Schwächen. Es ist erlaubt, gute und schlechte Seiten zu haben.
  • Seelisch verletzte Kinder brauchen Erwachsene, die bereit sind, das Kind ständig an irgendetwas zu erinnern und. akzeptieren, dass das Kind Tag für Tag Steuerung von außen braucht. Nicht hoffen, dass das Kind schon bald von selbst die Dinge übernimmt.
  • Erwachsene brauchen erhöhte Fähigkeit, den Alltag zu organisieren. Sie sollten begreifen, dass das provokative Verhalten des Kindes eine Art von seelischer Behinderung und nicht böse Absicht des Kindes ist
  • Dem Kind klare Strukturen und feste Regeln, klare Orientierung anbieten. Ausnahmen kann das Kind schwer einordnen.
  • Bei Forderungen immer den Zeitpunkt benennen. (Jetzt sofort, heute Abend um sechs Uhr...)
  • Wertschätzung vermitteln, Loben für Selbstverständliches
  • Ärger zeigen immer bezogen auf den konkreten Anlaß, nicht das ganze Kind oder sich selbst infrage stellen
  • Die Unverbindlichkeit des Kindes respektieren und durch eigene Verbindlichkeit ersetzen
  • Bei Umdeutungsversuchen der Realität immer die Wirklichkeit benennen.
  • Dem Kind helfen, heißt, statt Kampf trösten, statt einander hochzuschaukeln, Ruhe bewahren, aber in der Sache konsequent bleiben. Damit zeigen Erwachsene dem Kind, daß sie sich für es verantwortlich fühlen.
  • Reibungsflächen vermeiden, sich grundsätzlich entscheiden, an welchen Stellen ich fest bleibe und an welchen Stellen des Alltags ich die Dinge locker nehme.

Wir beeinflussen den Realitätssinn und den Kontakt zur Wirklichkeit eines Kindes positiv, wenn wir:

  • selbst Modell sind und nicht lügen oder das Kind täuschen,
  • uns selbst mit anderen Erwachsenen offen auseinandersetzen, klar und eindeutig sprechen und handeln,
  • das Kind klar informieren und rechtzeitig auf bevorstehende Ereignisse vorbereiten,
  • das Kind an Realitäten beteiligen, die das Kind selbst betreffen,.
  • keine falschen Vorhersagen treffen,
  • feste Rituale und Strukturen schaffen, damit die Kinder sich ein Stück in einer sie verwirrenden Welt zurechtfinden.,
  • nicht ironisch sind und dem Kind nichts vormachen

Um das alles zu leisten brauchen die Annehmenden Energiequellen außerhalb der Kinder, Hilfe, Stärkung ihres Selbstwertgefühls durch Solidarität mit anderen Erwachsenen. Zudem benötigen sie kontinuierliche professionelle Unterstützung.

Kinder mit unsicheren Normen und mangelndem Realitätsbezug brauchen Menschen, die sich besonders klar, sicher und durchschaubar verhalten. So lernen sie ganz langsam – wie sonst Menschen eine Fremdsprache erlernen – neue zwischenmenschliche Normen und Regeln. Doch die alten Regeln bleiben – wie die Muttersprache – weiterhin verfügbar.
Weinbach, den 1. Juli 2002
Irmela Wiemann

s.a. Zusammenleben mit seelisch verletzten Kindern - ein Kommentar zu Irmela Wiemann
s.a
Zusammenleben mit seelisch verletzten Kindern - eine überarbeitete Fassung

Zur Autorin:

Irmela Wiemann, Jahrgang 1942, ist Diplom-Psychologin und Familientherapeutin. Seit 1974 arbeitet sie in der Kinder-Jugend-Elternberatung der Kommunalen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe der Stadt Frankfurt am Main. Sie hat über 25-jährige Praxiserfahrung in der Beratung und Begleitung von Pflege-, Adoptiv-, und Herkunftsfamilien, gestaltet Fortbildungen und Seminare im Auftrag vieler Jugendämter und freier Träger. Ihr neuestes Buch: Wie viel Wahrheit braucht mein Kind? Von kleinen Lügen, großen Lasten und dem Mut zur Aufrichtigkeit in der Familie, Reinbek 2001

 

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Weitere Informationen: http://www.irmelawiemann.de
 

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