FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2007

 

Verprügelt, verhungert, vergessen –

Wo bleibt das Frühwarnsystem für bedrohte Kinder?

von Udo Rappenberg

 

Verprügelt, verhungert, vergessen. Bilder aus den Akten von Polizei und Staatsanwaltschaft. Eine Galerie des Schreckens. In Deutschland sind Missbrauch und Misshandlung von Kindern tägliche Realität. Um das zu verhindern hatte Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen schon vor zwei Jahren angekündigt.

Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin: „Ich möchte ein Frühwarnsystem aufbauen.“

Ein zentraler Baustein sei die Vernetzung der Behörden, heißt es. Ein dreiviertel Jahr später wird der 2-jährige Kevin hier in Bremen verhungert in einem Schrank gefunden. Ursula von der Leyen mit nicht gerade neuen Erkenntnissen:

Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin: „Wir sehen im entsetzlichen Fall Kevin, dass die Zusammenarbeit der staatlichen Hilfen versagt hat. Wir sehen, dass wir Behörden haben, sowohl in der Jugendhilfe aber auch im Gesundheitswesen, die in solchen Fällen mit einem Tunnelblick arbeiten, das heißt die gucken nur auf ihr Arbeitsgebiet.“

Noch einmal ein halbes Jahr später ist es soweit: Die Familienministerin richtet ein Nationales Zentrum Frühe Hilfen ein.

Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin: „Es geht immer um dieselben Kinder. Deshalb ist eine der zentralen Aufgaben des Nationalen Zentrums diese beiden Kreisläufe aus dem Gesundheitswesen und der Jugendhilfe fester miteinander zu verbinden.“

report MÜNCHEN bittet im Nationalen Zentrum um ein Interview. Doch das wird abgelehnt, aus Termingründen, wie es heißt. Auch eine Drehgenehmigung wird verweigert. Am Telefon wird uns erklärt: Das Nationale Zentrum bestehe aus zwei Büros mit insgesamt vier Mitarbeitern. Vier Mitarbeiter um eine bundesweite Vernetzung hinzubekommen? Diese Peinlichkeit will man sich offenbar doch lieber ersparen.

Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe Direkt, zieht nach fast zwei Jahren fortwährender Ankündigungen der Bundesfamilienministerin eine erste Bilanz.

Georg Ehrmann, Deutsche Kinderhilfe Direkt: „Von einem effektiven Frühwarnsystem, das Kindern hilft und das solche schrecklichen Vorfälle verhindert, sind wir noch sehr weit entfernt. Insoweit hat sich nichts verändert.“

Vielleicht sieht man im Bundesfamilienministerium trotz immer neuer Fälle ja auch keinen allzu großen Handlungsdruck.

Wir besuchen eine Pflegefamilie irgendwo in Deutschland.
Die beiden Kinder sind schwer traumatisiert. Nur mit viel Glück haben sie überlebt. Die Pflegemutter erzählt, was ihnen von den eigenen Eltern angetan wurde.

Die Pflegemutter berichtet: „Nach der Geburt war der Junge dann auch alleine mit seinen Geschwistern in der Wohnung, öfter, ein bis zwei Tage, weil die Eltern beide die Wohnung verlassen haben. In der Zeit ist er nicht versorgt worden. Er hat gehungert und gedurstet natürlich und war alleine. Und wenn es dann Kontakt gab zu den Eltern, war das so, dass der Vater ihn, wenn er geweint oder geschrieen hat, vor Hunger wahrscheinlich auch manchmal, mit der Faust geschlagen hat auf den Kopf, so lange bis er still war.“

Typisch an dem Fall: Verschiedene Ämter hatten etwas gewusst, aber nicht gehandelt.

Die Pflegemutter erzählt weiter: „Also, da gibt es oft dann Schwierigkeiten innerhalb der Ämter, dass die sich gegenseitig nicht ernst nehmen. So war das bei meinem anderen Pflegesohn auch.“

Ursula von der Leyen redet viel von Vernetzung, doch bis jetzt gibt es kein Gesetz, das bundesweit einheitlich gegenseitige Informationspflichten der Ämter vorschreibt. Gerettet wurden diese Kinder erst durch einen Polizeieinsatz. Polizei und Staatsanwaltschaften aber spielten in von der Leyens Frühwarnsystem bisher keine große Rolle. Ein Interview vor der Kamera lehnt die Ministerin ab, aus Termingründen. Schriftlich wird erklärt: Man möchte sich mit Polizisten an einen runden Tisch setzen, um zu erörtern, wer in einem Frühwarnsystem welche Funktion einnehmen kann. Doch reicht das?

Rolf Jaeger, Bund Deutscher Kriminalbeamter: „Es ist zweifellos nach unseren Erkenntnissen so, dass viele der Täter auch in der Kriminalakte ein langes Register an Straftaten haben. Sie sind als Körperverletzer aufgetreten. Und in diesen Fällen sollte die Polizei die Jugendbehörden rechtzeitig informieren. Umgekehrt sollten sich die Jugendbehörden erkundigen, ob eine Person, bei der sie problematische Erziehungs- oder Gewaltprozesse beobachten, nicht schon bei der Polizei bekannt ist.“

Bislang aber sind Jugendämter noch nicht einmal dazu verpflichtet Straftaten an Kindern anzuzeigen.

Georg Ehrmann, Deutsche Kinderhilfe Direkt: „Mir sagte einmal ein Jugendamtsleiter wörtlich: 'Ich möchte doch nicht meine Klienten der Staatsgewalt ausliefern.'“

Viel zu tun für Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen. Einige Bundesländer haben inzwischen eigene Pflichtuntersuchungen eingeführt.

Georg Ehrmann, Deutsche Kinderhilfe Direkt: „Der Bund kann hier eigentlich mit Vorbildcharakter vorangehen. Das Thema Pflichtuntersuchungen ist ein kleiner Baustein, aber hier hätte der Bund schon tätig werden können. Es wird von den Experten lange gefordert, auch eine Anzeigepflicht der Jugendämter, dass eben die Jugendämter Delikte an die Polizei weiterleiten. Wir könnten datenschutzrechtlich die Rahmenbedingungen schaffen, dass endlich ein ungehinderter Datentransfer zwischen allen Behörden, die mit Kindern zusammen arbeiten, stattfindet. Hier steht immer noch der Datenschutz vor dem Kinderschutz. Das sind Dinge, die auf Bundesebene getan werden könnten.“

Wie es anders laufen könnte zeigt das Beispiel Duisburg. Hier reden Kriminalpolizisten, Staatsanwälte und Kinderärzte miteinander. Eine rechtliche Grauzone. Doch sie alle wollen Kinder retten und nicht auf Bundesgesetze warten. Die Kinderärzte haben eine Informationsdatei über Risikokinder eingerichtet.

Ralf Kownatski, Kinderarzt: „Eltern, die ihre Kinder misshandeln, wechseln häufig den Arzt. Aus diesem Grund haben wir uns in Duisburg vernetzt, damit dieses, wie wir auch sagen, Doktorhopping, möglichst vermieden wird und eine Datei ins Leben gerufen, auf die Kollegen in Duisburg zurückgreifen können.“

Heinz Sprenger, Kripo Duisburg: „Wenn ich nach der Zusammenarbeit hier in Duisburg gefragt werde, kann ich nur sagen: Sie bringt sehr große Erfolge, weil für mich jedes gerettete Kind in irgendeiner Weise einen Riesenerfolg darstellt. Sowohl die Kinderärzte, Polizei, Staatsanwaltschaftarbeiten so gut miteinander, und vor allen Dingen auch die Zusammenarbeit mit dem Gerichtsmediziner klappt sehr, sehr gut, so dass ich durchaus der Meinung bin und der festen Überzeugung bin, dass wir das eine oder andere Menschenleben schon retten konnten.“

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen von Bundesfamilienministerin von der Leyen hat sich übrigens noch nicht in Duisburg gemeldet, um von den Erfahrungen zu profitieren. Keine bundesweiten Pflichtuntersuchungen, keine funktionierende Vernetzung, keine Informationspflichten der Behörden untereinander, keine bundesweite Risikodatei, keine Anzeigepflicht der Jugendämter bei schweren Straftaten gegen Kinder. Der Fehler liegt im System. So lange das so bleibt, sterben laut Kriminalstatistik in Deutschland weiterhin pro Woche drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen.

s. report München unter http://www.br-online.de/daserste/report/archiv/2007/00431/

 

 

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