FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Erfahrungsbericht / Jahrgang 2007

 

Die Macht der Institutionen

  Erfahrungen aus unserer Arbeit als Pflegeeltern

 

Unser Pflegesohn A. kam mit 6 Jahren zu uns. In seiner Herkunftsfamilie hatte er vielfache traumatische Erfahrungen machen müssen, es besteht u.a. der Verdacht, dass er von seinen drogenabhängigen leiblichen Eltern an Männer für sexuelle Handlungen "vermietet" wurde. Außerdem wurde er geschlagen, erlebte Gewalt an seiner leiblichen Mutter, wurde von seinem Stiefvater mit einer Pistole bedroht und ist fast verhungert.

Er lebte ca. zwei Jahre in einer Kinderschutzwohnung in X., dann nahmen wir ihn zu uns.

Seine Verhaltensgestörtheit war offensichtlich. Deshalb gaben wir ihn auch nicht gleich in eine Vorschule, sondern behielten ihn für ein halbes Jahr bei uns zuhause. Als der Schuleintritt nahte, ließen wir ihn für einige Monate den Kindergarten besuchen, damit er Kontakt zu seinen zukünftigen Klassenkameraden bekommen und an seine neue Lebenssituation herangeführt werden konnte.

Eine Woche nach der Einschulung versuchte ich, ein Gespräch mit seiner Klassenlehrerin zu führen, um sie mit den Verhaltensweisen unseres Pflegesohns vertraut zu machen, auch darauf hinzuweisen, daß es möglicherweise schwierige Situationen geben könnte. Sie tat mich als "überbesorgte Mutter" ab, sie sei eine Lehrerin mit Erfahrung und würde schon auf mich zukommen, wenn es etwas zu besprechen gäbe.

Schon bald fiel A. in der Schule auf, tat all die Dinge, die viele traumatisierte Kinder in der Schule tun:
Er zerriss in der Schule seine Hosen – die Lehrerin: "Können Sie bitte dafür sorgen, dass Ihr Sohn anständig gekleidet in der Schule erscheint?"
Er wälzte sich vor dem Unterricht im Matsch – die Lehrerin: "Ihr Sohn erscheint ungewaschen und unsauber im Unterricht."
Er kotete kleine Mengen ein – die Lehrerin: "Ihr Sohn riecht unangenehm, bitte sorgen Sie dafür, dass er sich regelmäßig wäscht!"

Diese drei Beispiele (es gibt dutzende) zeigen bereits die Unfähigkeit der Lehrerin, A. und unsere heilpädagogische Arbeit zu verstehen.

Wir wurden immer wieder in die Schule bestellt, unsere Erklärungen und Erläuterungen aber mit demonstrativem Desinteresse ignoriert. Zitat der Elternratsvorsitzenden: "Jetzt lebt er schon seit einem Jahr bei Euch, jetzt muss es doch mal langsam besser werden!" So dachten auch seine Lehrer, und es vergingen die ersten zwei Schuljahre mit harten und frustrierenden Auseinandersetzungen mit dem Kollegium jener Dorfschule.

Nach zwei Jahren hatte jedoch zumindest seine Klassenlehrerin etwas mehr von A. verstanden, und die beiden begannen behutsam, ein Band zueinander zu knüpfen. Aber nach kurzer Krankheit starb diese ganz plötzlich. Sie konnte sich nicht einmal mehr von den Kindern verabschieden. Uns Eltern wurde untersagt, über die Ursachen ihres Todes mit den Kindern zu sprechen. Daran habe ich mich natürlich nicht gehalten. A. schrieb ihr einen liebevollen Abschiedsbrief, den er mit einem Luftballon in den Himmel schickte: "Liebe Frau B., ich bin sicher, dass du es da, wo du jetzt bist, besser hast. Ich wünsche dir, dass es dir gut geht und du keine Schmerzen mehr hast."

Seiner neuen Lehrerin war schon nach ca. 6 Wochen klar, dass A. auf eine Sonderschule gehöre. Seine Leidensgeschichte interessierte sie nicht. In einer Gesamtkonferenz mit allen Lehrern verkündete der Schulleiter: "Ich habe schon ganz andere Kinder von der Schule bekommen!" Es gelang uns – wie immer ohne Unterstützung der zuständigen Sozialarbeiterin – diese Absichten zu vereiteln, und A. wurde nach dem 4. Schuljahr mit einer Realschulempfehlung an die weiterführende Schule überwiesen.

Die Grundschulzeit werden wir nicht vergessen. Zwei Jahre lang bin ich jeden Mittag in die Schule gegangen, habe A. und seine leibliche Schwester, die auch bei uns lebt, aus den Klassenzimmern abgeholt, die Hausaufgaben notiert, die Schulsachen eingesammelt und wurde täglich mit Beschwerden von frustrierten Lehrerinnen überhäuft, ohne dass auch nur ein Hauch von Verständnis zu spüren war, ohne dass die Sozialarbeiterin auch nur einmal bereit war, ein Gespräch mit den LehrerInnen zu führen.

Wir Eltern standen allein im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Schule und unserem Konzept, das Heilung durch Beziehung, also Beziehung vor Erziehung in den Mittelpunkt stellt. Die Kinder sollten sich angenommen und verstanden fühlen, erstmal Sicherheit gewinnen. Deshalb reagierten wir nicht mit Vorwürfen und Strafen auf ihr schulisches Fehlverhalten, sondern versuchten immer wieder, mit ihnen darüber behutsam zu sprechen. Weil wir uns weigerten, den Druck weiterzuleiten, den die Lehrerinnen auf unsere Kinder ausübten, waren wir bei ihnen als Eltern verschrien, denen nichts an ihren Kindern liegt. Unser Anliegen war, dass die Kinder langsam Vertrauen fassen sollten in eine Welt, die sie vorher als sehr lebensbedrohlich erlebt hatten.

Seinem Psychotherapeuten, den wir ihm vermittelt hatten, schilderte A. einige widerwärtige Erlebnisse aus der frühen Kindheit. Manches Mal wurde mir schlecht, wenn der Therapeut in den Elterngesprächen bestimmte Details erwähnte.

In der Realschule wurde A's Verhalten nicht besser – im Gegenteil: er begann, andere Kinder zu attackieren. Was in der Grundschule eher wie Hilflosigkeit und mangelhafte Selbstkontrolle aussah (zum Beispiel exzessives Ausrasten, wenn jemand ihn festhielt), wich nun gezielten Einschüchterungen, Provokationen und Verletzungen.

Wieder wurden wir einbestellt und wieder versuchten wir vergeblich, Verständnis für A. und für unsere Arbeit zu erwecken. Seine Klassenlehrerin hatte eine merkwürdige Beziehung zu ihm: mich schrie sie manches Mal am Telefon an, wenn A. wieder Mist gebaut hatte, in der Schule umarmte sie ihn jedoch und kam fast "als einzige mit ihm klar". Ich ahnte, was das zu bedeuten hatte - aber was ich dazu sagte, wurde auch hier nicht wirklich ernst genommen.

Die Eltern der Klassenkameraden machten mobil, wollten A. loswerden. Ich koordinierte ein Treffen mit dem Schulpsychologen, den Lehrern und zwei Damen vom Jugendamt.
Die Klassenlehrerin: "A. ist in unserer Schule nicht mehr tragbar".
Die Dame vom Jugendamt: "Ja, was sollen wir denn da machen - wir sind doch nur das Jugendamt."
Der Schulpsychologe: "Wir haben hier ein Kind mit einer ADHS, suchen Sie bitte den Kinderarzt auf zwecks Verschreibung von Ritalin!"
Mein Antrag auf stundenweise sozialpädagogische Begleitung gem. niedersächsischem Schulgesetz wurde wegen Geldmangel zurückgewiesen.
Die zuständige Sozialpädagogin ließ sich nach diesem Besuch in der Schule nicht mehr blicken und fragte auch nicht nach, wie es mit A. weitergegangen sei.

Treudoof, wie ich bin, übermittelte ich ihr jedoch mit schöner Regelmäßigkeit alle relevanten Informationen, Telefonnummern, Ergebnisse und Überlegungen aus Gesprächen mit den Lehrern und Lehrerinnen, Zeugnisse und alles, was ich über das niedersächsische Schulgesetz herausgefunden hatte; führte Gespräche mit Pädagogen der Förderschule im Nachbarort und erlebte: keine Reaktion, erst recht keine Unterstützung.

Eines Tages fanden wir leere Schnapsflaschen unter A's Bett. Da war er gerade 12 Jahre alt. Kommentar der Sozialarbeiterin: "Aber das ist doch ganz normal, daß die in dem Alter auch mal Schnaps trinken!" Ich: "Das haben meine leiblichen Kinder mit 12 Jahren jedenfalls nicht gemacht." Sie: "Na, da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher!"

Die Eltern der Klassenkameraden trafen sich in der Dorfkneipe, um zu beratschlagen, wie man A. aus der Klasse bekäme. In der Woche darauf würgte A. in der Schule während der Pause ein anderes Kind, so daß diesem Kind schlecht wurde und es sich hinlegen musste. A. ließ erst von ihm ab, als Klassenkameraden eingriffen. Seine Lehrerin rief mich an und schrie: "Das sag ich Ihnen, da kommt was auf Sie zu!"

Als A. nach Hause kam, versuchte ich mit ihm über den Vorfall zu sprechen. Er hatte keine Beziehung zu dem Ereignis, konnte sich die allgemeine Aufregung nicht erklären, empfand sein Verhalten selbst als "Spaß machen" und verließ den Kontakt zu mir, indem er den Kopf wegdrehte und seine Augen zur Decke richtete. Auf meinen Satz: "Wir müssen jetzt etwas unternehmen, denn was Du da tust, tust du wegen Deiner Vergangenheit, das wird nicht besser, sondern immer schlimmer, wenn wir das jetzt so stehen lassen" sackte er körperlich zusammen, wurde blass, und sein Gesicht fiel buchstäblich auseinander.  Im weiteren Gespräch hielt er für möglich, dass er sich selbst oder jemand anderen verletzen könnte.

Ich telefonierte mit seinem Therapeuten, und wir waren uns einig, dass jetzt ein diagnostischer Klinikaufenthalt dringend angezeigt sei. Ich rief deshalb in der zuständigen Klinik unseres Landkreises an. Diese Klinik ist eine 'Klinik der Grundversorgung' und somit in unserem Landkreis als einzige Klinik Ansprechpartner für kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle.

Die Dame in der Rezeption auf meine Mitteilung, dass es sich hier um einen psychiatrischen Notfall handele: "Geben Sie mir bitte Ihre Adresse, dann sende ich Ihnen unseren Fragebogen zu." Auf meinen nochmaligen Hinweis, dass hier ein Notfall vorliege, verband sie mich widerwillig mit einer Psychologin. Dieser schilderte ich den Vorfall in der Schule, stand Rede und Antwort bei der Erfragung aller Geburtsdaten aller Familienmitglieder, berichtete etwas von A's Vorgeschichte und die momentane Situation. Die Psychologin: "Geben Sie mir bitte Ihre Adresse, dann senden wir Ihnen einen Fragebogen zu."  Mit dem Hinweis, Selbst- oder Fremdgefährdung sei nicht auszuschließen, betonte ich abermals die Eilbedürftigkeit.

Daraufhin verband sie mich mit dem Chefarzt Dr. D., der mich nicht zu Wort kommen ließ, sondern mir folgende Aufträge erteilte: "Senden Sie mir bitte per fax sämtliche Schulzeugnisse ab Klasse 1, die Schullaufbahnempfehlung, den Impfpass, das Kinderuntersuchungsheft und eine schriftliche Stellungnahme aller seiner Lehrer." Ich sammelte und sendete. Im nächsten Telefonat fragte Dr. D., wer das Sorgerecht habe. Ich antwortete: "Wir, die Pflegeeltern." Dr. D.: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Faxen Sie mir bitte die Bestallungsurkunde.“ Währenddessen saß A. desolat im Esszimmer, und ich wusste nicht, was er als nächstes tun würde.

Ich faxte die Bestallungsurkunde. Erneutes Telefonat, diesmal mit der Psychologin: "Bitte sagen Sie mir Ihre Telefonnummer, wir faxen Ihnen jetzt unseren Fragebogen." Ich: "Unser Faxgerät ist nicht in Ordnung, ich kann zwar Faxe senden, aber nicht empfangen, bitte senden Sie mir den Fragebogen als eMail." Nein, das sei nicht möglich, und wie das denn sein könne, daß man ein Faxgerät habe, das nicht in Ordnung sei.

Danach rief ich unsere zuständige Sozialarbeiterin an und schilderte ihr die momentane Situation. Sie nahm alles gelassen auf und fragte, was sie immer fragt: "Was sagt Ihr Mann dazu?"

Erneutes Telefonat mit Dr. D.: Das sei ja nun schlecht, also nicht mal ein intaktes Faxgerät, aber naja, die anderen Sachen seien ja angekommen. Nun konnte ich erstmals zusammenhängend schildern, was der Grund meines Anrufes war. Erneutes Abfragen der Geburtsdaten aller unserer leiblichen und Pflegekinder. Bei einem der zehn Kinder hatte ich mich im Geburtsjahr versehen. Dr. D.: "Moment bitte, gerade eben um 14 Uhr 12 sagten Sie noch, Ihr Sohn sei im Jahr 19… geboren, was stimmt denn nun?"

 - An dieser Stelle werden meine Erinnerungen undeutlich!

Anruf der Psychologin: "Da Ihr Faxgerät ja kaputt ist und Sie deshalb keine Faxe empfangen können, lässt Herr Dr. D. Ihnen ausrichten, dass wir Ihnen unseren Fragebogen mit der Post zusenden und Sie diesen bitte ausgefüllt an uns zurücksenden, damit wir Ihnen einen Termin für ein Vorgespräch nennen können."

Nun begriff sogar ich: "Jetzt reicht`s. Genau diese Situation hatte ich mit Herrn Dr. D. vor zwei Jahren schon mal. Ich weise nachdrücklich darauf hin, dass wir hier über ein Kind in einer massiven Notsituation sprechen." (Vor drei Jahren wurde ich mit einer magersüchtigen, suizidalen Jugendlichen ebenfalls abgewiesen – trotz vorliegender Klinikeinweisung.)

Die Psychologin: "Moment, ich spreche mit Herrn Dr. D., ich rufe Sie gleich zurück." Nach ca. 10 Minuten: "Zufällig hat gerade ein Patient abgesagt, also Sie können dann heute Nachmittag mit Ihrem Pflegesohn herkommen."

Am Abend Anruf von Dr. D.: "Also wir haben ja nun alle Unterlagen von Ihnen, aber damit ich hier tätig werden kann, brauche ich noch eine richterliche Einweisung. Wenn A. sich aber weigern sollte, in der Klinik zu bleiben, dann kann ich auch mit einer richterlichen Einweisung nicht tätig werden, dann müsste A. in eine andere Klinik." Ich: "Welche andere Klinik?" Dr. D.: "Das werden Sie dann erfahren, das wird dann eine andere Klinik hier im Einzugsbereich sein."

Am nächsten Tag fanden wir den zuständigen Familienrichter, der aber keine richterliche Einweisung ausstellte, sondern mal eben zum Telefon griff und kurz mit Dr. D. telefonierte. Augenblicklich hatte sich die Forderung nach einer richterlichen Einweisung erledigt.

Während dieser Malaisen hatte ich unserer Sozialarbeiterin mehrmals auf den Anrufbeantworter Bericht erstattet. Es erfolgte kein Rückruf, auch nicht in den Wochen danach. In diesem zurückhaltenden Arbeitsstil war sie durchgängig zuverlässig.

Das Behandlungskonzept der Klinik war für A. okay: viel Bewegung, Sport, Schwimmen, Mototherapie. Erstes telefonisches Gespräch mit der Stationserzieherin: "Wir erwarten hier eine kontinuierliche Elternmitarbeit. Sie kommen bitte regelmäßig jeden Sonntag zu Besuch, holen das Kind ab und unternehmen etwas mit ihm." Ich bestätigte die Wichtigkeit der Elternmitarbeit, wies aber auch auf meine organisatorischen Schwierigkeiten hin.

Die Erzieherin: "Wir sind hier keine Aufbewahrungsanstalt für Kinder, um die sich die Eltern nicht kümmern wollen. Es ist hier das Konzept, daß sonntags zwischen 14 und 17 Uhr die Station geschlossen ist und alle Kinder von ihren Eltern abgeholt werden. Die Erzieher sind dann auch nicht da."

Das Gespräch mit der Psychologin verlief etwas fruchtbarer, sie konnte nachvollziehen, dass man A. nicht einen sonntäglichen 'Ein Kind braucht seine Mutter-Mythos' aufzwingen kann, wenn er selbst vielleicht gerade ganz anders empfindet.
Außerdem sollte ich bei jedem Besuch unterschreiben, dass ich für die Zeit die "volle Verantwortung" übernehme. Ich erklärte, dass ich in anbetracht der Impulsivität und Körperkraft des Jungen dazu gar nicht in der Lage sei.
Rückruf der Erzieherin: sonntags nachmittags sei jetzt jemand von den Erziehern auf der Station und im Notfall erreichbar.
Na, also!

gez. N. N. – eine sehr erfahrene Pflegemutter, deren Name der Redaktion bekannt ist

 

 

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