FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2004

 

Eindrücke aus dem 15. Tag des Kindeswohls

 

Die diesjährige Jahrestagung der »Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes« fand am 14. Juni in Münster zu dem Thema »Traumatische Erfahrungen in der Kindheit – langfristige Folgen und Chancen der Verarbeitung in der Pflegefamilie« statt. 600 Teilnehmer, ungefähr drei mal (!) so viele wie im Vorjahr, zeigten Interesse an der von Gisela Zenz und Ludwig Salgo moderierten Tagung. Nach der Begrüßung durch den Gastgeber Ulrich Stiebel folgten vier Referate mit jeweils anschließenden Fragen aus dem Hörerpublikum.

Im ersten Referat gab Gert Jacobi einen Überblick über 222 kindliche Patienten nach schwerer und schwerster Misshandlung, die er im Zeitraum von 1967 bis 1998 an der Frankfurter Universitätskinderklinik ärztlich betreute. 31 der 222 Kinder verstarben in Folge der Misshandlungen – das sind 14%. 121 der Kinder waren bei Diagnosestellung unter ein Jahr alt. Mit ganz wenigen Ausnahmen waren die Misshandlungen keine einzelnen Gewaltakte, sondern Wiederholungstaten. Gert Jacobi kommentierte »...die Vorstellung, dass man durch Erziehungshilfen oder eine fürsorgerische oder psychotherapeutische Betreuung einer Misshandlungsfamilie das Problem aus der Welt schaffen kann, ist eine ziemlich verbreitete Vorstellung, in der Regel jedoch reines Wunschdenken... Der gröbste Fehler in der Betreuung eines chronisch misshandelten, jungen Kindes ist der, zu meinen, dass man seiner Mutter hilft, über ihre Aggressivität hinwegzukommen, indem man es wieder an sie zurück gibt.«

Laut einer UNICEF-Studie von 2003 starben in Deutschland in den vergangenen 5 Jahren 523 Kinder durch Gewalt, davon 148 vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Aus den Todesziffern wird für verschiedene Länder die Dunkelziffer von schweren Misshandlungen ermittelt, für Deutschland 1:1.500, d.h. etwa 157.000 schwere Misshandlungen pro Jahr. Bereits 1981 konnten Thorbeck und Jacobi nachweisen, dass bei fast jeder tödlichen Kindesmisshandlung das Geschehen hätte verhindert werden können, wenn nicht eine Amtsperson (Arzt/Sozialarbeiter/Richter) versagt hätte. Diese Beobachtung hat sich bis heute weiter verfolgen lassen und gilt auch für schwerste Misshandlungen mit nicht tödlichem Ausgang. Jacobi gab viele weitere  Detailinformationen und schätzte, dass »...wir für die Folgen der Misshandlungen für die Kinder allein zwischen 1.500.000.000 und 3.000.000.000 Euro pro Jahr ausgeben müssen.«

Ulrich Tiber Egle referierte im Anschluss über die Langzeitfolgen von frühem Stress für die Gesundheit. Berücksichtigt man die Ergebnisse von Longitudinalstudien, so zeichnet sich eine umschriebene Zahl gesicherter psychosozialer Belastungsfaktoren ab (niedriger sozioökonomischer Status; schlechte Schulbildung der Eltern; Arbeitslosigkeit; große Familien und sehr wenig Wohnraum; Kontakte mit Einrichtungen der ‚sozialen Kontrolle’ (z.B. Jugendamt); Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils; chronische Disharmonie in der Primärfamilie; mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr; unsicheres Bindungsverhalten nach 12./18. Lebensmonat; psychische Störungen der Mutter/des Vaters; schwere körperliche Erkrankung der Mutter/des Vaters; chronisch krankes Geschwister; alleinerziehende Mutter; autoritäres väterliches Verhalten; Verlust der Mutter; längere Trennung von den Eltern in den ersten 7 Lebensjahren; anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung bzw. Trennung der Eltern; häufig wechselnde frühe Beziehungen; sexueller und/oder aggressiver Missbrauch; Kontakte zu dissozialen Gleichaltrigen in der Schule; Altersabstand zum nächsten Geschwister kleiner als 18 Monate; hohe Risiko-Gesamtbelastung; vulnerableres männliches Geschlecht), die bei kumulativer Einwirkung Langzeitfolgen haben. Egle meint, dass »...früh einwirkende Kindheitsbelastungsfaktoren, wie frühe Bindungsstörungen und andere Auswirkungen fehlender Feinfühligkeit für die Bedürfnisse des Kindes seitens seiner primären Bezugsperson sowie Misshandlung und Vernachlässigung zu einer erhöhten Stressvulnerabilität führen, bei der eine verstärkte CRH-Ausschüttung biologisch eine zentrale Rolle spielt. Diese löst über die Aktivierung von HPA- und LC-NE-Achse eine Kaskade biologischer Prozesse aus, welche im Rahmen von Feedback-Mechanismen zu Schädigungen im Hippocampus und Cortex präfrontalis und letztlich zu einer lebenslangen Dysfunktion des Stressverarbeitungssystems führen.«

Für Deutschland fehlen genaue Zahlen zur Häufigkeit psychosozialer Risikofaktoren bei Kindern. Er kritisierte, dass zu wenig empirisch gesichertes Wissen über die Bedeutung kompensatorischer Schutzfaktoren (dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson; sicheres Bindungsverhalten; Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen; Entlastung der Mutter; gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust; überdurchschnittliche Intelligenz; robustes, kontaktfreudiges Temperament; internale Kontrollüberzeugungen; soziale Förderung (Jugendgruppen, Schule, Kirche); verlässlich unterstützende Bezugsperson im Erwachsenenalter; lebenszeitlich spätere Familiengründung) für klinisch bedeutsame Langzeitfolgen zur Verfügung steht und es deshalb schwierig ist, im breiteren Umfang gezielt Präventionsmaßnahmen aufzubauen. 

Martin Dornes referierte am Nachmittag über die seelischen Folgen traumatischer Erfahrungen in der Kindheit. Bei der ‚leichten Gewaltanwendung’ berichten die späteren Alterskohorten von weniger Schlägen als die früheren. Nach Dornes Auffassung gab es aber »...einen festen ‚Bodensatz’ von Misshandlung, der im Unterschied zur leichteren Gewalt gegen Kinder von der allgemeinen Liberalisierung der Erziehungsmethoden in den letzten 30 Jahren nicht erreicht wurde.«

Dornes gab einen großen Überblick über eine Fülle von Studien und ging zunächst der Frage nach, ob Personen, die als Kinder misshandelt wurden, später als Eltern dazu neigen, ihre eigenen Kinder wieder zu misshandeln. In verschiedenen Arbeiten schwanken, je nach Erhebungsmethode, die intergenerationellen Transmissionsraten zwischen 18% und 70%.
»Oliver (1993) hat die Literatur umfassend gesichtet und kommt zu dem Ergebnis, dass etwa ein Drittel die Misshandlung weitergibt, bei einem weitern Drittel das Risiko dazu besteht, falls die Lebensumstände schwierig sind oder werden, und das letzte Drittel sich erfolgreich vom Wiederholungszwang befreit hat. Diese Angaben konvergieren mit den Befunden von Egeland et al. (1988), die in ihrem bindungstheoretisch inspirierten, methodisch und therapeutisch vorbildlichen Projekt ebenfalls herausfanden, dass etwa ein Drittel die Misshandlung weitergibt, bei einem zweiten Drittel aufgrund von Hausbesuchen und Gesprächen der allerdings nicht dokumentierbare Verdacht auf Misshandlung bestand und das letzte Drittel die Misshandlung nicht wiederholt.«

In der zweiten Frage ging es um die Folgen für die (erwachsene) Persönlichkeitsorganisation. Misshandelte Kinder haben ein gestörtes, insbesondere aggressiveres Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen und die Wahrscheinlichkeit dafür, (gewalt-)delinquente Jugendliche oder Erwachsene zu werden ist um das zwei bis vierfache erhöht. Weiter: »Als immer wieder bestätigte Faustregel kann gelten, dass die Auswirkungen um so gravierender sind, je früher die Misshandlung beginnt, je schwerer sie ist und je länger sie anhält. Fortwährend misshandelte oder vernachlässigte Kinder zeigen ... mit zwei bis sechs Jahren folgende Probleme: Sie sind weniger einfühlsam und reagieren auf den Kummer anderer mit Aggression statt mit Empathie. ... Sie schlafen schlecht ein, sind hypermotorisch und können sich nicht konzentrieren. Sie sind unaufmerksam, geben schnell auf und tun sich schwer, andere um Hilfe zu bitten. Sie begegnen neuen Bekanntschaften eher distanzlos oder misstrauisch als offen und sind wegen ihrer unsicheren Bindung in ihrem Neugier- und Explorationsverhalten eingeschränkt. ... Entsprechend sind sie oft weniger intelligent, sprachlich gehandikapt und mäßig in der Schule. Am stärksten betroffen ist die Subgruppe der vernachlässigten Kinder. Sie zeigt die meisten negativen und die wenigsten positiven Affekte in der sozialen Interaktion, verfügt über die geringste Impulskontrolle und hat in IQ-Tests die niedrigsten Werte. Diese Ergebnisse sind alarmierend, weil Vernachlässigung wahrscheinlich die häufigste Form der Kindesmisshandlung ist, ... aber auch die in der Öffentlichkeit am wenigsten wahrgenommene. ... Signifikant häufiger als in vergleichbaren Kontrollgruppen von Erwachsenen, die als Kinder nicht misshandelt wurden, treten bei in der Kindheit Misshandelten auf: Gewalttätigkeit in und außerhalb der Ehe (vor allem bei Männern), Drogenmissbrauch, schwere selbstdestruktive Formen des Alkoholismus, Suizidalität, Angst, Depression und die Neigung zur Somatisierung.« (vgl. a. Dornes, 1997, S. 231 ff.)

In Untersuchungen wird immer wieder auf eine wechselnd große Zahl von Individuen hingewiesen, die trotz Misshandlung in der Kindheit im Erwachsenenalter erstaunlich wenig Beeinträchtigungen aufweisen. Dornes schätzt, dass »...die Zahl der für resilient Gehaltenen sinken wird, aber ein mehr oder weniger großer Rest bleibt, der von den ungünstigen Kindheitserfahrungen erstaunlich wenig betroffen ist. Fonagy et al. (1997, S. 255) schätzen ihn in ihrer retrospektiven Untersuchung auf 4%.«

Dornes forderte ‚Behandlungsanstrengungen’, weil »...eine Gesellschaft, die vor diesem Problem kapituliert oder es verdrängt, mit der Wiederkehr des Verdrängten in Gestalt von Delinquenz, Drogenabhängigkeit, Aggressivität und Persönlichkeitsstörungen unterschiedlicher Stärke bestraft wird. Die durch Unterlassung von Hilfsmaßnahmen doppelt und erneut Misshandelten werden ihre Misshandlung auf alle Fälle merklich zum Ausdruck bringen....«.

Das Abschlussreferat hielt Hildegard Niestroj. Sie berichtete über die notwendigen Hilfen für das Kind in der neuen Eltern-Kind-Beziehung und die Chancen der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen in der Pflegefamilie. Niestroj zog somit eine praktische Konsequenz aus den Referaten der Vorredner, indem sie feststellte und forderte, für »...ein Kind, das unerträglichen Erfahrungen mit schwerer Bedrohung mit Angst vor Vernichtung und damit einer andauernden Kindeswohlgefährdung durch die eigenen Eltern ausgesetzt gewesen ist, kann die Eltern-Kind-Beziehung keinen Bestandsschutz beanspruchen. Wegen seiner schweren Gefährdungslage müssen die schädigenden Lebensbedingungen beendet und das Kind vor weiterer Traumatisierung dauerhaft geschützt werden.«

Sie berichtete weiter über die Schwierigkeiten für ein Kind, nach extrem beängstigenden Beziehungserfahrungen, Bindungsangeboten zu vertrauen, und den daraus resultierenden Anforderungen für eine Integration in die Pflegefamilie. Besonders wichtig sei: Distanz zu den angstauslösenden Beziehungspersonen der Vergangenheit. Dies gelte auch für Besuchskontakte. Pflegeeltern seien über die Vorerfahrungen so genau wie möglich zu informieren. Das Kind benötige seitens der Pflegeeltern eine solidarische Haltung, echtes Mitgefühl und die Möglichkeit, sich von den früheren Bezugspersonen zu distanzieren. Pflegeeltern müssten bereits im Vorfeld und im Rahmen von Bewerberseminaren für die ‚Übertragungsneigung’ eines traumatisierten Kindes sensibilisiert sein. Für die Traumaverarbeitung habe die Stabilisierung des Kindes wesentliche Bedeutung, also der Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen Beziehung, die Unterstützung des Kindes in ihm gemäßen Bewältigungsformen und das Schaffen einer sicheren sozialen Umgebung. Sie berichtete weiter über den anstrengenden Alltag von Pflegeeltern sowie über die Wichtigkeit korrigierender Erfahrungen in der neuen Eltern-Kind-Beziehung. Abschließend gab Niestroj stichwortartig konkrete Hinweise, die im Umgang mit traumatisierten Kindern zu berücksichtigen seien.

Alle Beiträge können ab Herbst 2004 in der im Schulz-Kirchner-Verlag (www.schulz-kirchner.de) erscheinenden Dokumentation »Traumatische Erfahrungen in der Kindheit – langfristige Folgen und Chancen der Verarbeitung in der Pflegefamilie« nachgelesen werden.

Christoph Malter, Juli 2004

 

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