FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2006

 

Konzept für ein Netzwerk Kinderschutz

(Kinderschutz verbessern – Gewalt gegen Kinder entgegenwirken)

Drucksachen Nr’n. 15/4035, 15/4368 und 15/4583 - 2. Zwischenbericht

 

Der Senat legt nachstehende Mitteilung dem Abgeordnetenhaus zur Besprechung vor.

Das Abgeordnetenhaus hat in seiner Sitzung am 10.11.05 Folgendes beschlossen:

„Der Senat wird aufgefordert, ein integriertes Konzept zur Prävention, Beratung, Früherkennung, Krisenintervention und rechtzeitigen Hilfegewährung vorzulegen, das den Kinderschutz stärkt und der Gewaltanwendung gegen Kinder durch Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und Missbrauch entgegen wirkt.

Dieses Konzept soll insbesondere beinhalten

• das stadtweite und sozialraumbezogene Zusammenwirken von Einrichtungen zur Krisenintervention, Beratungs- und Hilfsangeboten sowie Anlauf- und Zufluchtsstellen,

• Maßnahmen zur Sensibilisierung, Qualifizierung und des Zusammenwirkens der Fachkräfte in Jugendhilfe, Schule, Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens und der Polizei insbesondere im Verdachtsfall,

• Maßnahmen der gezielten Information der Öffentlichkeit u.a. über Informations- und Beratungsstellen,

• eine Prüfung der erweiterten Möglichkeiten des SGB VIII mit dem Ziel, den Jugendämtern mehr Möglichkeiten zu gewähren, um Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor Kindeswohlgefährdungen durchsetzen zu können, als auch die Verpflichtung, solche Maßnahmen zu ergreifen.“

Bei der Entwicklung des Konzepts sollen Erkenntnisse und Erfahrungen der Jugendämter und der Einrichtungen der freien und öffentlichen Träger der Jugendhilfe einbezogen werden. Des Weiteren soll darauf eingegangen werden, inwieweit die Sozialraumorientierung erweiterte Möglichkeiten für eine Verbesserung des Kinderschutzes bieten kann.

Dem Abgeordnetenhaus ist bis zum 31.12.2005 zu berichten.“

Hierzu wird berichtet:

Die Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und der Senator für Bildung, Jugend und Sport haben im Dezember 2005 die Einsetzung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die ein Berliner Netzwerk zur Verbesserung des Kinderschutzes entwickeln soll. Die Arbeitsgruppe setzte sich zusammen aus je drei Vertretern/-innen der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport sowie je zwei Vertretern/-innen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Jugendämter der Bezirke sowie dem Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit. Die Federführung wurde der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport übertragen.

Die Arbeitsgruppe erhielt den Auftrag, eine Analyse der bestehenden Hilfen und Kontrollmöglichkeiten vorzunehmen, Verbesserungsvorschläge und Modelle anderer Städte zu prüfen, eigene Vorschläge zu entwickeln und einen Konzeptvorschlag für ein Netzwerk zu entwickeln, der mit den beteiligten Institutionen, Organisationen und Diensten abzustimmen ist. Um die Belange von Geburtskliniken, Hebammen und Kinderärzten frühzeitig in die Arbeit der Arbeitsgruppe einbringen zu können, hat die Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz eine Unterarbeitsgruppe mit Vertretern von Kliniken und Berufsverbänden eingerichtet.

Darüber hinaus hat der Senat zur Umsetzung des Konzepts für ein Netzwerk Kinderschutz zunächst Arbeitsgruppen eingerichtet, an denen verschiedene Senatsverwaltungen teilnehmen. Er beteiligt sich darüber hinaus auch an einer Arbeitsgruppe auf Bundesebene.

Um die Zusammenarbeit zwischen den Jugendämtern und den Familiengerichten in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren zu verbessern wurde bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport die zeitweilige Arbeitsgruppe „Kooperation Jugendamt-Familiengericht“ eingerichtet, in der die Jugendämter, Familienrichterinnen und -richter, die Senatsverwaltung für Justiz und die Senatsverwaltung für Bildung Jugend und Sport vertreten sind. Die Arbeitsgruppe hat im Januar 2006 Empfehlungen zur Zusammenarbeit zwischen den Familiengerichten und den Jugendämtern in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren vorgelegt, und erarbeitet derzeit eine Ergänzung der Empfehlungen für Fälle von Kindeswohlgefährdung.

Daneben finden bei der Senatsverwaltung für Justiz seit September 2005 regelmäßige Gespräche zwischen Vertretern von Jugendämtern, Familiengerichten, der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport sowie der Senatsverwaltung für Justiz statt, um aktuelle Probleme der Zusammenarbeit zu erörtern und zu lösen.

Beim Bundesministerium der Justiz wurde Anfang März 2006 die Arbeitsgruppe

„Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, die zur Aufgabe hat, die gesetzlichen Vorschriften zu gerichtlichen Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (insbesondere §§ 1666, 1631b BGB, § 34 JGG) mit dem Ziel zu überprüfen, familiengerichtliche Maßnahmen hinsichtlich schwerwiegend verhaltensauffälliger, insbesondere straffälliger Kinder und Jugendlicher zu erleichtern. Die Arbeitsgruppe, in der Berlin durch die Senatsverwaltung für Justiz, die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport sowie einen Familienrichter vertreten ist, wird sich auch mit der Frage befassen, wie der Informationsfluss und die Zusammenarbeit zwischen dem Familiengericht und den beteiligten Behörden (Jugendamt, Schule, Polizei, Jugendstaatsanwaltschaft, Jugendgericht) weiter verbessert werden können.

Die Arbeitsgruppe „Netzwerk Kinderschutz“ ist bislang zu folgendem Ergebnis gelangt:

1. Datenlage
Zur Feststellung des Ausmaßes von Vernachlässigung und Misshandlung und zur Verifizierung der behaupteten Zunahme beider Vorkommnisse sind die in den verschiedenen Bereichen vorhandenen Daten gesichtet worden. In drei Bereichen sind Daten vorhanden, bei der Polizei, bei der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz und bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport. In allen drei Bereichen liegen auf Grund von unterschiedlichen gesetzlichen Aufträgen, Falldefinitionen und Zugangswegen verschiedene Daten über das Ausmaß von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung vor. Da es an einheitlichen definitorischen Kriterien fehlt, geht in die jeweilige Erfassung auch ein Großteil persönlicher Wertungen ein.

Die Polizeistatistik weist für Berlin in 2004:
255 Fälle der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht (§ 171 StGB) sowie 554 Misshandlungen von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) davon 398 Misshandlungen von Kindern aus.

Die Statistik über den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Berlins weist für 2004:
739 Kinder mit Verdacht auf Kindesgefährdung aus, davon 626 wegen Vernachlässigung und 101 wegen Misshandlung

Die Hilfeplanstatistik der Berliner Jugendämter weist zum Stichtag 31.12. 2004:
3.760 Fälle, in denen eine Vernachlässigung des Kindes und 769 Fälle, in denen Anzeichen für Kindesmisshandlungen als Ursache für die Hilfeplanung angegeben wurden, aus.

Dieser Überblick zeigt schon, wie schwierig es ist, daraus Schlüsse über den tatsächlichen Umfang des Problems zu ziehen. Bei näherer Betrachtung der Daten wird diese Schwierigkeit noch deutlicher.

Die polizeilichen Daten gehen auf Hinweise und Anzeigen von Bürgern und verschiedenen Dienststellen zurück. Die Strafverfolgungsstatistik für rechtskräftig verurteilte Personen in Berlin weist für das Jahr 2003 fünf Verurteilte wegen eines Verstoßes gegen die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht (§ 171 StGB) und elf wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) aus. Für das Jahr 2004 sind elf Verurteilungen wegen § 171 StGB und sechs wegen § 225 StGB und für das Jahr 2005 neun Verurteilungen wegen § 171 und 13 wegen § 225 StGB verzeichnet.

Die wegen des Verdachts der Misshandlung von Schutzbefohlenen oder der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht geführten Verfahren müssen häufig wegen des Fehlens hinreichenden Tatverdachts eingestellt werden. Die vergleichsweisen geringen Verurteilungszahlen wegen dieser Strafvorschriften sind zudem darauf zurückzuführen, dass ihre strengen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht festgestellt werden können, was jedoch nicht bedeutet, dass das Tatverhalten sanktionslos bleibt. Die Verurteilungen erfolgen in diesen Fällen wegen anderer Delikte, insbesondere wegen vorsätzlicher oder gefährlicher Körperverletzung.

Die Verfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes ermittelt auch die Zahlen der wegen Straftaten zum Nachteil von Kindern Verurteilten, wobei diesen Daten aufgrund unzureichenden Meldeverhaltens nur eine eingeschränkte Aussagekraft zukommt. So weist die Statistik für das Jahr 2004 als Verurteilte von Straftaten, bei denen (allgemein) Kinder betroffen waren, für die Delikte vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) insgesamt 74 Verurteilungen, für die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) insgesamt 15 Verurteilungen und für die schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) eine Verurteilung aus.

Die Verurteiltenstatistik berücksichtigt zwar insoweit das Tatopfer, unterscheidet jedoch nicht nach der „Tatmodalität“ und Anzahl der Einzeltaten, so dass die Daten auch insoweit nur sehr eingeschränkt aussagekräftig sind und keinen vollständigen Überblick über die tatsächlichen Verurteilungen wegen „Kindesmisshandlung“ im engeren Sinn gewähren.“

Unabhängig davon ist die Bezugsgruppe für die in der Statistik des Landeskriminalamtes aufgeführten Fälle, wenn wir sie nur auf die Kinder beziehen, die Grundgesamtheit von 380.000 Berliner Kindern unter 14 Jahren. Demnach bewegen wir uns im Promillebereich (0,17%).

Die Zahlen des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) liegen teilweise altersdifferenziert vor. Von den 739 Kindern mit Verdacht auf Kindesgefährdung sind 309 Kinder unter 1 Jahr, 277 Kinder zwischen 1 und 6 Jahren und 153 Kinder über 6 Jahre. Bezieht man die 586 Kinder unter 6 Jahren auf die Gesamtzahl Berliner Kinder in dem Alter, so liegt man immer noch im Promillebereich (0,35%). Erst wenn man die 309 Kinder unter einem Jahr auf die Gesamtzahl der 29.809 Säuglinge von 2004 bezieht, überschreitet man die 1 % Marke (1,03%).

Die Zahlen der Jugendämter erhalten, wenn man sie altersdifferenziert betrachtet, auch eine andere Wertigkeit. Sie liegen bei Vernachlässigungen bei unter 6 Jährigen bei 695 Fällen, bei 6 bis 14 Jährigen bei 1.704 Fällen, bei 14 bis 18 Jährigen bei 1092 Fällen und bei über 18 Jährigen bei 269 Fällen. Die Fälle mit Anzeichen von Kindesmisshandlung gliedern sich wie folgt auf: Unter 6 Jahren waren es 91 Kinder, 6 bis 14 Jahre waren es 359 Kinder, 14 bis 18 Jahre waren es 258 Jugendliche und über 18 Jahre noch 61 Jugendliche.

Vergleicht man die Zahl der unter 6 Jährigen in beiden Fallgruppen mit der Zahl der Gesundheitsämter, so liegt diese Zahl mit 786 zu 586 deutlich höher, aber immer noch im Bereich unter einen Prozent (0,47 %).

Welche Schlüsse lassen sich aus den vorliegenden statistischen Daten ziehen?

1. Über den tatsächlichen derzeitigen Umfang des Problems Kindesvernachlässigung und Misshandlung lassen sich präzise Aussagen nicht treffen.

2. Alle drei Institutionen haben unterschiedliche Kriterien dafür, was unter Vernachlässigung und/oder Misshandlung zu verstehen ist. Darüber hinaus scheinen innerhalb der jeweiligen Bereiche außerdem unzureichend klare Definitionen zu bestehen, so dass vieles von persönlichen Wertungen abhängt.

3. Gesundheitsämter und Jugendämter erreichen - bezogen auf die Alterszusammensetzung - andere Zielgruppen, deshalb gibt es auch andere Fallverteilungen hinsichtlich des Alters. Die Jugendamtsdefinition bezieht sich z.B. beim misshandelten Kind unabhängig vom Alter auf das Kind in der Stellung in der Familie, bei der Polizeidefinition auf die gesetzliche Definition des Kindes bis 14 Jahre.

4. Die Hilfen anbietenden Dienste erreichen eine höhere Zahl der problematischen Fälle, wenn die höhere Fallzahl nicht nur durch die „weicheren“ Kriterien zustande kommt. Wenn das der Fall ist, würde das für einen stärker präventiven Einsatz dieser Dienste sprechen.

5. Die im Vergleich zu den anderen Altersgruppen hohe Zahl der vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst erfassten Fälle unter 1 Jahr (1,03% aller Säuglinge in 2004) kann auf die hohe Erreichbarkeit der Zielgruppe Säuglinge zurückgeführt werden. Von den 29.809 Säuglingen des Jahres 2004 wurde zu 20.371 (68%) ein Erstkontakt hergestellt, davon waren 13.508 Hausbesuche, 5.377 Telefonkontakte und 1.486 Sprechstundenbesuche. Für die Kinder über einem Jahr, die nicht so vollständig vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst erreicht werden, ist von einer höheren Dunkelziffer von Vernachlässigungs- und Misshandlungsfällen auszugehen.

Ebenso schwierig wie die Erfassung des Problemumfangs ist die Frage zu klären, ob die Zahl der Fälle zunimmt. Die Hilfeplanstatistik über die personenbezogenen individuellen Hilfeleistungen nach § 27 ff SGB VIII ist erstmalig 2001 erhoben worden. Erst ab 2004 sind spezifisch kinderschutzrelevante Merkmale auf gesamtstädtischer Ebene ausgewertet worden. Die Polizei und die Gesundheitsämter verfügen über längere Zeitreihen, die aber, wenn man sie nebeneinander legt, keine Aussagen zulassen. Da die Gesundheitsämter in der Statistik erst ab 2003 zwischen Vernachlässigung und Misshandlung differenzieren und vorher nur die Rubrik akute Kindesgefährdung ausweisen, sind die polizeilichen Fälle „Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht“ und „Misshandlung von Kindern“ zum besseren Vergleich zusammen gezogen worden.

Vergleich der Fallentwicklung beim Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und der Polizei bei Vernachlässigung und Kindesmisshandlung, Jahr, Kinder- u. Jugendgesundheitsdienst,  akute Kindesgefährdung, Landeskriminalamt, Misshandlung u. Verletzung der Fürsorge u. Erziehungspfl.

1998 1071 475

1999 1255 545

2000 800 400

2001 745 494

2002 ---1 503

2003 745 611

2004 739 653

Die in den Zahlen abzulesenden gegenläufigen Trends – Rückgang der Zahl der vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst erfassten akuten Kindesgefährdungen bei gleichzeitigem Anstieg der beim Landeskriminalamt registrierten Misshandlungen und Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflicht bei Kindern - sind wegen der unterschiedlichen zugrunde liegenden Datenerhebungsverfahren nicht vergleichbar.

Eine Zunahme der registrierten Fälle von Gewalt gegen Kinder in der Polizeistatistik ist am ehesten auf eine gestiegene Meldebereitschaft für derartige Vorkommnisse zurückzuführen, die durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Plakataktionen) gefördert wurde.

Ein Trend lässt sich daraus nicht ableiten. Eher sind die Zahlen ein Beleg für die weiter oben benannte allgemeine Erkenntnis, dass Statistiken dieser Art keine objektive Problemdarstellung liefern.

2. Ursachen
Über die Ursachen von Kindesvernachlässigungen und Kindesmisshandlungen gibt es eine umfangreiche Literatur, die hier nur in ihren wesentlichen Ergebnissen zusammengefasst werden muss.

In der Regel resultieren Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen aus Belastungssituationen, für die die Familienkonstellation über keine adäquaten Lösungsmöglichkeiten verfügt.

In ihrer Zusammenfassung der Ergebnisse der internationalen Forschung zählen Kindler und Liling in einem Artikel für die IKK-Nachrichten folgende Faktoren auf:

“Zu den wichtigsten aus dieser Forschung ableitbaren Risikofaktoren zählen Armut, Sucht und eine Geschichte schwerer psychischer Erkrankungen. Werden diese Risikofaktoren für sich genommen betrachtet, scheint bei betroffenen Eltern die Wahrscheinlichkeit von Misshandlung bzw. Vernachlässigung im Mittel drei- bis vierfach erhöht. Für eine Reihe weiterer Faktoren, wie etwa jugendliches Alter der Mutter oder mehrere zu versorgende Vorschulkinder im Haushalt, wurde wiederholt 1 Für das Jahr 2002 kann die Zahl akuter Kindesgefährdungen nicht angegeben werden, da in diesem Jahr nur 6 Bezirke eine Meldung abgegeben haben.

Ein zwei- bis dreifach erhöhtes Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsrisiko wurde gefunden. Aufgrund einer Wechselwirkung zwischen Stichprobengröße und Intensität bzw. Zeitaufwand, mit denen Familien untersucht werden können, beschränken sich die bislang genannten großen Studien auf relativ leicht erkennbare Risikofaktoren. Aus intensiveren Längsschnittstudien an kleineren Stichproben sind mehrere weitere starke Risikofaktoren (drei- bis sechsfach erhöhtes Risiko) bekannt, wie etwa Partnerschaftsgewalt, ausgeprägte Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Kind oder eine Geschichte eigener Misshandlungen bzw. Vernachlässigungen bei einem Elternteil.“ (Dr. Heinz Kindler und Susanna Lillig: „Früherkennung von Familien mit erhöhten Misshandlungs- oder Vernachlässigungsrisiken“ in: IKKNachrichten 1-2/2005 des Deutschen Jugendinstituts e.V.)

Auch wenn die Autoren auf die eingeschränkte Generalisierbarkeit gerade der kleineren Studien auf die Gesamtbevölkerung verweisen und die Befunde internationaler Studien nicht eins zu eins zu übertragen sind, so sind die Risikofaktoren, die sie aufzählen, dieselben, wie sie bei der Betrachtung von Fällen in Berlin immer wieder gefunden werden. Auch ihre Ausführung, dass das Zusammenwirken mehrerer Risikofaktoren einen sprunghaften Anstieg der Gefährdung nach sich zieht, ist evident.

Betrachtet man die vorliegenden Berliner Statistiken darauf, ob sich die Aussagen durch sie belegen lassen, so zeigen sich bei aller oben aufgeführten Einschränkung folgende Auffälligkeiten. Von den 339.700 Berliner Familien mit Kindern unter 18 Jahren bezogen 2004 31% Sozialhilfe.

Von den in der Hilfeplanstatistik der Jugendämter erfassten 16.926 Fällen der Hilfe zur Erziehung bezogen 46,4 % Sozialhilfe.

Von den in der Hilfeplanstatistik erfassten Fällen, bei denen Vernachlässigung oder Misshandlung Ursache für den Hilfeplan waren, bezogen 72,5 % Sozialhilfe.

Dies könnte ein Indikator für das Risiko Armut sein.

Von den 339.700 Berliner Familien mit Kindern unter 18 Jahren sind 46% alleinerziehend.

Der Anteil der Alleinerziehenden liegt in der Hilfeplanstatistik der Jugendämter für die Hilfen zur Erziehung bei 50,3 %. Bei Vernachlässigungen liegt der Anteil der Alleinerziehenden bei 60%, bei Misshandlungen bei 42,5 %.

Betrachtet man dazu die Auswertungen zu der Familienkonstellation „ein Elternteil lebt mit Stiefeltern oder Partner“, so kann bei aller Vorsicht auf das Risiko Familienkonstellation hingewiesen werden, welches im Bezug auf Vernachlässigungs- und Misshandlungsrisiko zu differenzieren ist.

17,2 % der Familien, die in 2004 Hilfe zur Erziehung in Anspruch genommen haben leben in der Kombination „ein Elternteil lebt mit Stiefeltern oder Partner“. Dieselbe Konstellation stellt aber 26,5 % der Fälle von Misshandlung in der Hilfeplanstatistik.

Zusammenfassend lässt sich sagen, aus der Hilfeplanstatistik lassen sich vorsichtig einige Hinweise ablesen, die in Einklang mit den Ergebnissen der internationalen Forschung über Risiken und Ursachen von Kindeswohlgefährdung liegen. Wichtiger aber ist, das sich kein Hinweis findet, der im Widerspruch zu den bekannten Theorien und Forschungen steht.

3. Vorhandene Angebote und Kontrollmöglichkeiten
Die Gewährleistung von Kinderschutz bzw. die Maßnahmen gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen ist keine neue Aufgabe. In Berlin steht dafür ein umfangreiches Hilfesystem zur Verfügung.

Beratungsangebote für Schwangere
In den allermeisten Fällen wird die Schwangerschaft von niedergelassenen Gynäkologen festgestellt. Im vertrauensvollen Arzt/Ärztin-Patientinnen-Gespräch besteht für die Ärztin/den Arzt durchaus die Möglichkeit, Hinweise auf soziale, psychische und familiäre Probleme zu erhalten. Da eine umfassende Beratung hierzu die Möglichkeiten eines Praxisbetriebs übersteigt, wird die Ärztin/der Arzt bei Anzeichen von Problemen die Patientin z.B. an eine Schwangerenberatungsstelle/ Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle verweisen. Derartige Beratungsstellen halten der öffentliche Gesundheitsdienst (Sozialmedizinscher Dienst) und Freie Träger (überwiegend gefördert aus Landesmitteln der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz) vor.

Die Beratungsstellen informieren über familienfördernde Leistungen und Hilfen für Kinder und Familien, einschließlich der besonderen Rechte im Arbeitsleben; soziale und wirtschaftliche Hilfen für Schwangere, insbesondere finanzielle Leistungen (Stiftungen „Mutter und Kind – Schutz des ungeborenen Lebens“ und „Hilfe für die Familie“, SGB II, SGB XII usw.) und unterstützen bei der jeweiligen Antragstellung.

Sie informieren auch zur pränatalen Diagnostik und zu Hilfemöglichkeiten, die vor und nach der Geburt eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen. Die Beratungsstellen bieten Lösungsmöglichkeiten für psychosoziale Konflikte.

Dieses umfangreiche Beratungsangebot wird dadurch möglich, dass viele dieser Beratungsstellen multidisziplinär besetzt sind (Ärztin/Arzt, PsychologIn, SozialarbeiterIn). Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Beratung und Weitervermittlung. In besonders schwierigen Fällen erfolgt aber auch eine Unterstützung bei der Geltendmachung von Ansprüchen (z.B. Hilfen bei der Antragstellung oder Begleitung zu Behörden).

Besondere Angebote von Geburtskliniken
Neben den oben genannten Beratungsangeboten sind geburtshilfliche Abteilungen von Krankenhäusern in die Betreuung von Schwangeren und Familien eingebunden. Da Entbindungen ganz überwiegend in geburtshilflichen Kliniken stattfinden, sollte dort besonderes Augenmerk auf folgende Ziele und Angebote gerichtet werden:

1. frühzeitige Erkennung von Risikokonstellationen (Schwangerenberatung)
2. Vermittlung von Hilfeangeboten
3. Kursangebote (Elternschule) vor und nach der Entbindung, die zur Förderung der Mutter-Vater-Kind Bindung beitragen.

Diese Ziele werden in der Arbeit der Babyfreundlichen Geburtskliniken umgesetzt. Die bestehenden Erfahrungen von Babyfreundlichen Krankenhäusern in der Nutzung von Vernetzungsstrukturen in der vor- und nachgeburtlichen Betreuung werden unter anderem in der besonders hohen Inanspruchnahme einer Hebammenbetreuung nach der Entbindung deutlich.

Mitglieder im Verein der WHO-UNICEF Babyfreundliche Krankenhäuser e.V. in Berlin sind das Humboldt-Klinikum, das Krankenhaus Lichtenberg, das Krankenhaus Havelhöhe und das St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof. Zahlreiche andere Geburtshilfliche Kliniken – auch aus dem Universitätsbereich - sind an einer Mitarbeit interessiert.

Beratung und Betreuung von Familien mit Neugeborenen durch den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD)
Das Angebot des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) ist rechtlich nicht auf eine flächendeckende Versorgung angelegt, sondern der in den Paragraphen 20 und 22 des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (GDG) vom 04.08.1994 formulierte Auftrag betont, dass der KJGD seine Aufgaben subsidiär und sozialkompensatorisch wahrnehmen soll. Er hat damit die schwierige Aufgabe, gerade die Familien, Kinder und Jugendlichen zu erreichen, die Probleme mit negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit haben, aber von sich aus keine Hilfe in Anspruch nehmen.

Der öffentliche Gesundheitsdienst bietet mit dem Erstkontakt die frühest mögliche Anbindung risikogefährdeter Familien. Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst steht dabei als Anlaufstelle zur Verfügung, um Hinweise über Gefährdungssituationen in Familien mit Kleinkindern entgegenzunehmen und ggf. an das Jugendamt weiterzuleiten.

Die Erstkontakte bei Familien mit Neugeborenen zur Ermittlung von Beratungs- und Behandlungsbedarf sind von besonderer präventiver Bedeutung. Durch frühzeitige Informationen über Hilfemöglichkeiten bzw. durch das Angebot konkreter Hilfen können Gesundheitsgefährdungen auch auf Grund von besonderen psychosozialen Belastungen vermieden werden.

Im Gegensatz zu der oben geschilderten grundsätzlich subsidiären und sozialkompensatorischen Ausrichtung werden die Erstkontakte bisher je nach personeller Ausstattung im Bezirk so flächendeckend wie möglich durchgeführt. Aus der Übersicht der im Jahr 2004 durchgeführten Erstkontakte geht hervor, dass es keinen Bezirk gibt, der überhaupt keine Erstkontakte anbietet und keinen Bezirk, der zu 100% die Familien mit Neugeborenen aufsucht. Grundlage für die Erstkontakte sind u.a. folgende Kriterien:
• junge, allein stehende Mütter
• minderjährige Mütter
• Mehrlingsgeburten
• Familien in ungünstigen Wohnverhältnissen
• Familien mit Migrationshintergrund
• kinderreiche Familien
• Familien in sozialen Brennpunkten
• Suchtmittelmissbrauch in der Familie
• Familien, bei denen bekannt ist, dass es schon beim ersten Kind Probleme gab
• Meldung bzw. Vermittlung durch andere Stellen oder Nachbarn

Beratung, Hilfen und Schutz durch die Jugendhilfe
Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz hat Jugendhilfe den Auftrag, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern und sie vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (vgl. §1 SGB VIII).

Die Wahrnehmung des Wächteramtes für das Kindeswohl ist Aufgabe des Jugendamtes. Das Jugendamt stellt im Rahmen seiner sozialpädagogischen Arbeit den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung gem. § 8a SGB VIII sicher. Die zentrale Aufgabe nimmt dabei der Allgemeine Sozialpädagogische Dienst (ASD) der Jugendämter wahr. Neben seinem Beratungs- und Hilfeangebot an Kinder und Eltern ist er auf Hinweise angewiesen. Seine Zuständigkeit für die Altersgruppe von 0 bis 27 Jahre macht flächendeckende Kontaktstrategien unmöglich. Die Jugendhilfe hat deshalb neben dem ASD eine Vielzahl von Angeboten öffentlicher, vor allem aber auch freier Träger entwickelt, die im Sinne des Kinderschutzes wirken.

Erziehungs- und Familienberatung
In jedem Berliner Bezirk existiert je ein Angebot von Erziehungs- und Familienberatung in freier und in öffentlicher Trägerschaft. Die freien Träger sind sowohl regional (und in diesem Kontext eingebunden in die bezirkliche Jugendhilfeplanung) tätig, als auch überregional, um durch die damit gesicherte Pluralität des Angebotes das Wunsch- und Wahlrecht der ratsuchenden Familien gemäß § 5 SGB VIII sicherzustellen.

Die Erziehungs- und Familienberatung ist eine spezifische Jugendhilfeleistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die eine ambulante Hilfe zur Erziehung nach § 28 SGB VIII konzeptionell und methodisch mit . Angeboten zur Beratung und Bildung auf Grundlage der Allgemeinen Förderung der Erziehung . Angeboten zur Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung. Angeboten zur Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge verbindet. Die Erziehungs- und Familienberatungsstellen sind demnach eine Möglichkeit präventiver Arbeit, aber noch wichtiger in der Behandlung schwieriger Familiensituationen in Partnerschaft mit dem ASD.

Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder
Dieses stationäre Angebot richtet sich an Mütter (Väter) bzw. an Schwangere, die Unterstützung bei der Erziehung und Pflege ihres unter 6 Jahre alten Kindes benötigen. Grundsätzliche Zielstellung der Hilfe ist die Verselbstständigung und Befähigung zur eigenverantwortlichen Lebensführung mit dem Kind, die Festigung der Bindung zwischen Mutter (Vater) und Kind und die Stärkung der Erziehungskompetenz. Das Angebot wird in unterschiedlicher Betreuungsdichte angeboten. Es dient insbesondere auch der Sicherung des Kindesschutzes. In Berlin werden in Mutter-Kind-Einrichtungen rund 440 Plätze vorgehalten.

Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen
Wenn Eltern (allein Erziehende) aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen die Betreuung ihres unter 14 Jahre alten Kindes nicht selbst wahrnehmen können, kann beim Jugendamt Unterstützung beantragt werden. Art und Umfang der Hilfen sind sehr vielfältig. Bei umfassendem Hilfebedarf können Kinder- oder Familienpfleger/-innen in der häuslichen Wohnung zum Einsatz kommen. Die Hilfe hat grundsätzlich eine versorgende oder pflegerische Ausrichtung und grenzt sich damit klar von der Zielrichtung der Hilfen zur Erziehung ab.

Überregionale Not- und Krisenangebote
Die Berliner Jugendhilfe verfügt über ein umfangreiches Not- und Krisendienstsystem, das jeder Zeit über eine Hotline zu erreichen ist. Bei akuten Problemen können sich Kinder und Jugendliche unbürokratisch und auch ohne Kenntnis ihrer Eltern an den Kindernotdienst im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und an den Jugendnotdienst im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf wenden. Dort ist auch seit Anfang des Jahres der Mädchennotdienst integriert, der insbesondere Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, berät.

Diese Einrichtungen stehen Kindern und Jugendlichen Tag und Nacht für schnelle Hilfe, Beratung und ggf. Unterbringung zur Verfügung. Sie sind rund um die Uhr telefonisch zu erreichen.

Neben der Hotline des Kinder- und Jugendnotdienstes gibt es die Krisentelefonnummer des Kinderschutz-Zentrums Berlin e.V. und die BIGHotline bei häuslicher Gewalt gegen Frauen. Die BIG – Hotline kooperiert eng mit dem Kinder- und Jugendnotdienst, wenn Inobhutnahmen der von häuslicher Gewalt mitbetroffenen Kinder und Jugendlichen notwendig sind.

Des weiteren stehen Kriseneinrichtungen mit einer spezifischen Ausrichtung zur Verfügung:
Papatya (Türkisch-Deutscher Frauenverein e.V.), eine überregionale Anlaufstelle für junge Migrantinnen. Der Träger bietet im Rahmen von Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII Schutz und Hilfe für Mädchen und junge Frauen aus der Türkei und anderen Herkunftsländern mit ähnlichem kulturellen Hintergrund an. Als Kriseneinrichtung mit geheimer Adresse, deren vordringliche Aufgabe es ist, Schutz zu bieten, werden vor allem Mädchen aufgenommen, die schwerwiegende Probleme in ihren Familien haben (u.a. Misshandlung und/oder sexuelle Gewalt, Zwangsverheiratung).
NEUhland e.V. – Hilfen für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche in der Beratungsstelle und Krisenwohnung
• Der Träger Wildwasser – Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen e.V. hält zwei Mädchenberatungsstellen für Mädchen vor, die von sexueller Gewalt betroffen sind, sowie für Eltern, Vertrauenspersonen, unterstützende Personen und Professionelle.
• Die Beratungsstelle des Trägers EJF Lazarus gAG – Kind im Zentrum richtet sich an sexuell missbrauchte Kinder, Jugendliche und ihre Familien sowie an Fachkräfte. Als eine spezialisierte Einrichtung unterstützt sie die Betroffenen bei der Bewältigung der Krise, welche die Offenlegung sexuellen Missbrauchs hervorruft, und bei der Bearbeitung der Folgen.
• Der Deutsche Kinderschutzbund - Landesverband Berlin e.V. hält eine Beratungsstelle für Maßnahmen der Prävention und Hilfen bei Gewalt in der Familie vor. Das Hilfeangebot richtet sich an Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte. Es reicht von aufsuchender Arbeit über intensive Beratung und Betreuung von Einzelfällen/Familien bis hin zur Informationsvermittlung für Betroffene und Fachleute.
• Das Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V. führt in seinen beiden Beratungsstellen telefonische Beratung, Krisenintervention, Familienberatung und Therapien für Kinder und Jugendliche sowie Eltern-Kind-Gruppen durch.

Alle Träger führen im Rahmen ihres Auftrages, das Kindeswohl zu schützen auch Projekte durch, die generell öffentlichkeitswirksam sind und gewaltpräventive Auswirkungen haben. Dazu gehören:
½ Präventive Angebote für Lehrer/-innen, Erzieher/innen und Eltern
½ Präventive Arbeit mit Schulklassen
½ Aufklärung der Öffentlichkeit durch Informationsveranstaltungen mit Eltern, Lehrern/-innen, Schülern/-innen, Erziehern/-innen, Sozialarbeitern/-innen, Ärzten/-innen, Studenten/-innen, Auszubildenden
½ Publikationen
½ Zusammenarbeit mit Medien.

Präventive Angebote - Elternbriefe
Im Auftrag des Senats erhält jede Frau in Berlin nach der Geburt ihres ersten Kindes automatisch die Elternbriefe des Trägers Arbeitskreis Neue Erziehung. Ab dem vierten Elternbrief kann durch die unterschriebene Rückantwort das kostenlose Abonnement der Elternbriefe fortgesetzt werden. Davon machen circa 74 % der Eltern in Berlin Gebrauch. Mit insgesamt 46 Elternbriefen werden Eltern bis zum 8. Lebensjahr ihres Kindes in allen relevanten Fragen der Entwicklung und Erziehung ihres Kindes beraten und begleitet. In diesen Briefen werden Eltern auch auf die Gesundheitsvorsorge für ihr Kind hingewiesen und immer rechtzeitig an die nächst fällige Vorsorgeuntersuchung erinnert. Auch wird über alle einschlägigen Hilfeangebote informiert. Die Elternbriefe werden auch in türkischer Sprache angeboten.

Aufsuchende Elternhilfe „HIPPY“ (“Home Instruction for Parents of Prescholl Youngsters”, Lizensprogramm aus Israel) HIPPY ist ein Eltern-Kind Programm, das sich an sozial benachteiligte Familien mit Kindern im Alter von 4-6 Jahren richtet. Es soll Migranteneltern befähigen, ihre Kinder selber erfolgreich auf die Schule vorzubereiten. In Berlin führt die Arbeiterwohlfahrt – Landesverband Berlin – das Projekt durch. Sie arbeitet überwiegend mit türkischen Eltern, deren Kinder schlecht oder gar nicht deutsch sprechen, keine Übung im Umgang mit Lernmaterial haben und hilflos bezüglich der Förderung ihrer Kinder sind. Ziel ist, die Lernfähigkeit der Kinder, die Erziehungskompetenz der Mütter (Eltern) zu fördern, durch die aktive Einbeziehung der Mütter (Eltern) die Mutter-Kind Beziehung zu stabilisieren und die deutschen Sprachkenntnisse zu verbessern. HIPPY läuft i.d.R. über zwei Jahre. Die Mütter lernen täglich etwa 15 Minuten mit ihrem Kind. Die Anleitung erfolgt über Hausbesucherinnen (sehr gut deutsch sprechende Migrantinnen), die regelmäßig die Mütter zu Hause besuchen. Finanziert wird das Programm über das Jugendamt oder den europäischen Flüchtlingsfond. Die Kosten betragen circa 1200, Familie pro Jahr. Das Programm wird als erfolgreich beurteilt. In Berlin nehmen die Bezirke Kreuzberg, Friedrichshain, Wedding, Neukölln daran teil.

Strohhalm e.V. führt in Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen ein Präventionsprogramm durch mit dem Ziel, Kinder zu Selbstbewusstsein zu verhelfen und sie in ihren Rechten und Kompetenzen zu stärken.

Kinderärzte und Hebammen
Kinderärzte
sind vor allem bei jüngeren Kindern die Institution, die von fast allen Eltern konsultiert werden. Ursache des Kinderarztbesuches ist zwar nur in Ausnahmen die Vernachlässigung oder Misshandlung, aber Kinderärzte sind als geschulte Fachkräfte in der Lage, auch schleichende Vernachlässigungen zu erkennen und Beulen und blaue Flecke auf ihre Ursachen zurückzuführen. Der Grundaspekt im Handeln des Kinder- und Jugendarztes ist die Vermittlung von adäquaten Hilfen für behinderte bzw. von (meist soziogen bedingter) Behinderung (Entwicklungsdefizite) bedrohter Kinder, welcher nur vor dem Hintergrund eines gewachsenen Vertrauens zwischen Eltern und Kinder- und Jugendarzt funktioniert.

Es bestehen in diesem Zusammenhang vielfältige regionale und individuelle Beziehungen mit den regionalen KJGD's im ÖGD und freien Trägern im Kinderschutzbereich. Selbstverständlich werden im Einzelfall das Jugendamt bzw. im als bedrohlich gesehenen Fall auch die Polizei eingeschaltet.

Kinderärzte verfügen aber über kein angeschlossenes Hilfesystem für überforderte Eltern. Über Ratschläge an die Eltern gehen viele Interventionen oftmals nicht hinaus. Auch heute reagieren Kinder- und Jugendärzte bereits, wenn sie bei den von ihnen untersuchten Kindern und Jugendlichen Hinweise für Vernachlässigung oder Gewaltanwendung feststellen.

Hebammen erreichen die Familien im günstigen Fall schon in der Schwangerschaft, danach können sie bis zu 8 Wochen nach der Geburt dort tätig werden, bei Stillproblemen oder auf ärztliche Verordnung auch länger. Zur Zeit werden ca. 60% der Familien erreicht. Hebammen arbeiten aufsuchend und beziehungsorientiert. Sie sitzen sozusagen auf der Bettkante der Schwangeren/ der Mutter und haben dadurch häufig eine besondere Vertrauensstellung in der Familie. Sie können frühzeitig den Bedarf an Hilfe erkennen und entsprechend an andere Institutionen weiterleiten.

Natürlich erlauben alle aufgeführten Maßnahmen auch, soweit sie mit den Familien in unmittelbaren Kontakt treten, eine soziale, teilweise auch medizinische (ärztliche Sprechstunde des KJGD) Kontrolle. Bei den helfenden Maßnahmen, die aufgrund von Vorkommnissen erfolgen, wird es eher eine Kontrolle vor Rückfällen sein.

Kontrollmöglichkeiten unabhängig von konkreten Maßnahmen oder Verdachtssituationen liegen im kinderärztlichen Handeln.

Reihenuntersuchungen
Vorsorgeuntersuchungen bei Kinder und Jugendlichen

U1 – U9
Von den Krankenkassen werden Vorsorgeuntersuchungen nach den Richtlinien über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres angeboten und überwiegend von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten durchgeführt. Sofern es unter sozialkompensatorischen Aspekten erforderlich ist, werden diese Untersuchungen subsidiär auch von den Ärztinnen und Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes durchgeführt. Die Inanspruchnahme dieser Leistungen ist freiwillig. Die Ergebnisse werden im gelben Untersuchungsheft des Kindes vermerkt. Die Teilnahme in Berlin (Datenbasis: Einschulungsuntersuchungen 2004) liegt für die im ersten Lebensjahr stattfindenden Untersuchungen U1 – U6 je nach Untersuchung zwischen 99% (U1 und U2) und 95% (U6). Für die im zweiten Lebensjahr liegende U7 beträgt die Teilnahme noch 90%. Die U8 und U9 im 4. und 5. Lebensjahr nehmen nur noch 80 % der Kinder wahr. Bei der Betrachtung von Subgruppen ist ein insgesamt niedrigeres_Inanspruchnahmeniveau jenseits der U2 in Abhängigkeit von der sozialen Lage festzustellen.

Untersuchung zur Aufnahme in die Kita
Verpflichtend ist die in § 9 Absatz 1 Kitabetreuungsreformgesetz vorgesehene ärztliche Untersuchung vor erstmaliger Aufnahme in eine Kindertageseinrichtung. (Nach längerer Abwesenheitszeit kann der Träger darüber hinaus eine ärztliche Untersuchung verlangen.) Sie dient dem gesundheitlichen Schutz aller Kinder in Tageseinrichtungen. Diese Untersuchung kann von niedergelassenen Ärzten/-innen durchgeführt werden.

§ 9 Abs. 2 Satz 1 KitaFöG sieht für alle Kinder zahnärztliche Reihenuntersuchungen vor.
In der Altersgruppe der dreieinhalb- bis viereinhalbjährigen Kinder führt der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst eine einmalige ärztliche Untersuchung auf Seh- und Hörstörungen sowie motorische und Sprachauffälligkeiten und eine Überprüfung des Impfstatus durch, soweit dies nicht auf Grund anderer Maßnahmen der Vorsorge entbehrlich ist.

Der Erfassungsgrad dieser Untersuchungen ist vom Grad des Kitabesuches abhängig. Die Versorgungsgrade lagen 2004 bei den 0,5 bis 3 Jährigen bei rund 48 % und bei den über drei Jährigen bei rund 90 %.

Schuleingangsuntersuchung
Von den Ärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes werden auf der Grundlage von § 55 Absatz 5 Schulgesetz (SchulG) in Verbindung mit § 22 Absatz 3 Gesundheitsdienstegesetz (GDG) Untersuchungen vor der Aufnahme in die Schule durchgeführt. Die Untersuchung ist verpflichtend. Die Ergebnisse werden den Eltern bzw. den Begleitpersonen während der Untersuchung mitgeteilt. Sofern die Untersuchungsergebnisse es erforderlich erscheinen lassen, dass das Kind ärztlich behandelt wird bzw. eine entsprechende weitere Diagnostik erforderlich ist, werden den Begleitpersonen schriftliche Mitteilungen ausgehändigt. Gleiches gilt für fehlende Impfungen sofern sie nicht während der Untersuchung vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst selbst durchgeführt werden.

Spezielle Untersuchungen während der Schulzeit
Auf der Grundlage von § 22 Absatz 3 GDG in Verbindung mit § 52 Absatz 1 SchulG führen die Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sogenannte zielgruppenorientierte Untersuchungen durch. Der Zeitpunkt bzw. die Klassenstufe, in der eine Untersuchung durchgeführt wird, ist von Bezirk zu Bezirk sehr unterschiedlich. Dies hängt u.a. von der jeweiligen Schwerpunktsetzung ab. Die Häufigkeit der Untersuchungen wird im übrigen von der personellen Ausstattung der bezirklichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienste bestimmt.

Gemäß § 52 SchulG sind die Aufgaben der Schulgesundheitspflege verbindliche Veranstaltungen der Schule. Die Untersuchungen dienen sowohl der individuellen Gesundheit als auch der Erhebung epidemiologischer Daten. Sofern die Untersuchungen behandlungsbedürftige Ergebnisse zeigen, erhalten die Eltern eine schriftliche Aufforderung, ihr Kind beim Kinderarzt oder bei einem Facharzt vorzustellen.

Dabei ist zu beachten, dass keine 100%ige Erfassung erfolgt, da Eltern ihre Kinder, wie bei anderen verpflichtenden Schulveranstaltungen (Z.B. Unterricht, zahnärztliche Untersuchungen usw.)schriftlich von der Teilnahme entschuldigen können.

Kita- und Schulbesuch
Natürlich stellt der Kita- und Schulbesuch auch eine soziale Kontrolle dar, vorausgesetzt Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen sind in der Lage, Anzeichen und Symptome zu erkennen und angemessen zu reagieren. Die in diesem Bereich durchgeführten Fortbildungen dienen u.a. der Wissensvermittlung zur Diagnostik und zu den Ursachen von Kindesvernachlässigung, damit mögliche Risiken für Kinder wahrgenommen und besser eingeschätzt werden können.

Bei unentschuldigtem Fehlen der Kinder in der Kita besteht gemäß VOKitaFöG eine Meldepflicht an das zuständige Jugendamt. Darüber hinaus dient das zum Jahresbeginn herausgegebene Schul- und Jugend-Rundschreiben 1/2006 über die gegenseitige Information und Zusammenarbeit von Jugendämtern und Schulen einer Verbesserung der gegenseitigen Informationsweitergabe bei Kindeswohlgefährdungen. Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen liegen insbesondere dann vor, wenn Schüler/-innen häufig zu spät kommen, häufig (entschuldigt oder unentschuldigt) fehlen und/oder andauernde oder schwerwiegende Verhaltsauffälligkeiten zeigen.

Mit dem neuen § 8a SGB VIII wird der Schutzauftrag des Jugendamtes konkretisiert. Kinder und Jugendliche sollen damit besser vor Kindeswohlgefährdungen geschützt werden. Durch die ausdrückliche Regelung der Befugnisse, der Form der Zusammenarbeit, des Umgangs mit Hinweisen auf Gefährdungssituationen und des Verfahrens der Risikoabschätzung wird eine bessere Grundlage für die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes durch die Jugendhilfe gewährleistet.

4. Defizite
Eine Analyse der vorhandenen Maßnahmen und Kontrollmöglichkeiten hat trotz eines beachtlichen Hilfesystems bestehende Lücken oder Unzulänglichkeiten aufgezeigt. Die in letzter Zeit öffentlich bekannt gewordenen Fälle weisen immer wieder auf Kooperationsdefizite zwischen Behörden hin. Obwohl die nachgehende Analyse einiger Fälle zu anderen Verläufen führte als in der öffentlichen Darstellung, bleibt doch zu konstatieren, dass Informationsverluste durch unklare Zuständigkeiten oder mangelnde Erreichbarkeit entstehen und dass es an notwendiger Dokumentation und Rückmeldung über die weitere Bearbeitung der Fälle mangelt.

Für den Bürger oder andere Kinderschutzfälle Meldende fehlt eine überregionale Anlaufstelle. Die vorhandenen Krisentelefone werden als jeweils personenspezifische Angebote nicht entsprechend angenommen. Die Erstkontakt-Angebote der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste sind nicht flächendeckend.Des weiteren fehlt für alle Bezirke eine einheitliche indikationsspezifische Ausrichtung.

Die freiwilligen U –Untersuchungen erreichen nicht alle Kinder, mit steigendem Alter immer weniger und sind nicht auf die Erkennung von Vernachlässigungen ausgelegt. Beides trifft auch für die Kita- Aufnahmeuntersuchung zu. Vor allem aber fehlt in Berlin ein Früherkennungs- und Interventionssystem für Hochrisikofamilien.

Nicht alle angeführten Kritikpunkte treffen auf alle Bezirke zu, einige haben Kooperationsverträge zwischen Gesundheitsamt und Jugendamt geschlossen, um Informationen und Abläufe zu sichern. Andere haben klare Handlungsanweisungen erlassen, die Informations- und Dokumentationspflichten festlegen. Aber in der Breite aller Bezirke fehlt es an einheitlichen Handlungsmustern. Der Leitfaden „Empfehlungen zum Aufgaben- und Kooperationsbereich Kinderschutz in Fällen von Vernachlässigung, sexueller Ausbeutung und bei häuslicher Gewalt“, den die Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Sport dazu erlassen hat, war nicht ausreichend und muss überarbeitet werden.

5. Lösungsansätze
5.1 Verpflichtende Reihenuntersuchungen
In der öffentlichen Diskussion von Lösungsmöglichkeiten wird immer wieder die verpflichtende Reihenuntersuchung genannt. Die Argumentation macht sich im wesentlichen an der Tatsache fest, dass nicht alle Eltern von den durch die Krankenkassen angebotenen Vorsorgeuntersuchungen Gebrauch machen. Will man Pflichtuntersuchungen als regelmäßiges Kontrollsystem installieren, muss man auch die Intervalle entsprechend verkürzen. Während im ersten Lebensjahr sechs Untersuchungen durchgeführt werden, sind die Abstände der weiteren Untersuchungen viel zu groß, um wirklich wirksam zu sein.

Pflichtuntersuchungen stellen unstreitig einen Eingriff in das Elternrecht nach Art. 6 GG dar, da die Eltern nicht selbst entscheiden könnten, welche Untersuchungen wann für ihr Kind durchgeführt werden sollen. Das Recht – aber auch die damit verbundene Pflicht – zur Pflege und Erziehung stellt Schutz und Abwehrrecht im Verhältnis zur öffentlichen Gewalt dar. Dadurch besteht das Recht, staatliche Eingriffe in Bestimmungsrecht und Handlungsweise der Eltern abzuwehren, wenn diese nicht durch das staatliche Wächteramt gerechtfertigt sind.

Das Elternrecht kann vom Staat nur dann begrenzt werden - im Sinne eines belastenden, einschränkenden Eingriffs - wenn dies durch den Schutzgedanken des Wächteramtes geboten ist und dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht (verhältnismäßig, geeignetes Mittel, keine milderen Mittel gegeben).

Es bestehen deshalb vor dem Hintergrund der gegebenen Sach- und Rechtslage erhebliche rechtliche Bedenken, ob die bestehenden verfassungsrechtlichen Grenzen bei der Einführung von Pflichtuntersuchungen eingehalten werden können.

Die rechtlichen Bedenken werden begleitet durch fachliche Bedenken:
• Unstrittig können bei Vorsorgeuntersuchungen auch Anzeichen für Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung erkannt werden. Fraglich ist allerdings, ob Kinder mit Misshandlungsspuren rechtzeitig zur Untersuchung vorgestellt werden.
• Entsprechend sind zumindest die Termine der Vorsorgeuntersuchungen auf die kindliche Entwicklung und nicht auf ein staatliches Überwachungssystem ausgerichtet. Sollte tatsächlich ein staatliches Überwachungssystem durch eine einfache Verpflichtung zu den empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen eingeführt werden, wären die Überwachungslücken derart, dass hier nur ein unvollständiger Schutz erreicht werden würde.
• Fraglich ist auch, ob und wie viele Fälle durch Pflichtuntersuchungen verhindert worden wären. Häufig waren bei den in Rede stehenden Fällen der Vergangenheit die betroffenen Kinder bzw. Familien dem Jugendamt oder anderen relevanten Akteuren bereits bekannt.
• Auch nach jetziger Rechtslage sind Ärzte nicht gehindert, bei konkreten Gefahren für das Kindeswohl ggf. nach § 34 StGB eine Meldung beim Jugendamt oder bei der Polizei zu machen.

Berlin hat sich deshalb der Bundesratsinitiative Hamburgs angeschlossen, die neben der Qualifizierung der U-Untersuchungen im Hinblick auf Kinderschutz, die Krankenkassen zu mehr Werbung und Benachrichtigung der Eltern auffordert; vor allem aber eine Mitteilung an die Jugendämter fordert, wenn Eltern die Untersuchungen nicht wahrnehmen.

Von einer solchen Initiative, die nur bundesweit umgesetzt werden kann, kann eine Verringerung der Nichtteilnahme an den U-Untersuchungen erwartet und durch eine Meldung der Nichtteilnahme letztlich eine Vollerfassung erreicht werden.

Weitergehende Initiativen wie die des Bundeslandes Brandenburg, die eine Meldepflicht für Kinderärzte vorsieht und des Bundeslandes Saarland, das die Auszahlung des Kindergeldes an die Teilnahme bei den Vorsorgeuntersuchungen koppeln will, werden im Land Berlin als nicht wirklich hilfreich und rechtlich nicht durchsetzbar eingeschätzt.

Kindesvernachlässigungen sind oft ein schleichender Prozess, Misshandlungsspuren sind oft nicht eindeutig. Eine Meldepflicht, wie sie Brandenburg für Kinderärzte fordert, muss ja, wenn sie sinnvoll sein soll, über die Möglichkeiten nach § 34 StGB hinausgehen. Damit gerät der Arzt in eine neue Rolle, die im Widerspruch zum Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient steht. Anders ausgedrückt, wenn bekannt wird, dass der Arzt auch bei Verdachtsfällen zur Meldung an das Jugendamt verpflichtet wird, muss die Untersuchung zur Pflichtuntersuchung werden, weil sonst alle Eltern mit schlechtem Gewissen die Untersuchung meiden werden.

Die Koppelung der Vorsorgeuntersuchung an die Auszahlung von Kindergeld gibt der Untersuchung auch einen anderen Rechtsstatus. Sie wirft Rechtsfragen auf, die schwer lösbar erscheinen, wie z. B. die Frage, kann man Eltern die Leistung entziehen, die der Förderung der Familie dienen und auf die sie einen vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Anspruch im Sinne des Leistungsausgleichs haben. Organisatorische und praktische Probleme einer solchen Lösung sollen hier gar nicht erst erörtert werden.

Im Fazit wäre eine Lösung nach dem Hamburger Vorschlag eine sinnvolle Hilfe, um eine mögliche Dunkelziffer aufzuhellen.

5.2 Indikatorenmodell
Das Indikatorenmodell ist ein Lösungsansatz, der versucht an Hand von Indikatoren Familien mit hohem oder höherem Risikopotential zu identifizieren, um ihnen rechtzeitig Hilfen anbieten zu können. Es findet in der Früherkennung und Frühintervention in verschiedenen Modellen Anwendung. Das Düsseldorfer Modell hat in der Diskussion entsprechende Beachtung gefunden, obwohl es selber noch in den Anfängen steckt und alle Probleme noch nicht gelöst hat. Das Modell und ähnliche Modelle in anderen Städten basieren auf einer Kooperation von Kliniken, Hebammen, Gesundheitsdiensten und Jugendämtern. Die Hebammen und Geburtskliniken melden mit Zustimmung der Mütter auf der Basis eines vereinbarten Kriterienkatalogs die Familien an den Jugendgesundheitsdienst, bei denen ein Risiko hinsichtlich der Versorgung und Pflege gesehen wird. Der Jugendgesundheitsdienst leitet in Verbindung mit dem Jugendamt dann die nötigen unterstützenden Hilfen ein.

Mit einem solchen System kann der bei den bestehenden Kapazitäten ohnehin nicht mehr flächendeckende Hausbesuch des KJGD nach der Geburt qualifiziert werden. Hinsichtlich möglicher Risiken und Verläufe hat die Arbeitsgruppe folgendes Modell entwickelt, um die Ansatzmöglichkeiten aufzuzeigen, an denen Risikofaktoren erkannt werden können.

Beispiele für Schwangerschaftsverläufe
Ein solches Modell für Berlin zu entwickeln, stellt wegen der Größe der Stadt eine erhebliche Herausforderung dar, sollte aber doch in Angriff genommen werden. Sinnvoll im Sinne präventiver Intervention wäre es, eine solche Strategie mit einem speziellen Hilfeangebot zu verbinden, das eine Ergänzung zu den bestehenden Angeboten ist.

5.3 Aufsuchende Elternhilfe‘‘ - Präventiver Kinderschutz vor und nach der Geburt
Die „Aufsuchende Elternhilfe‘‘ kann eine Strategie sein. Mit diesem Hilfeansatz können eine Reihe der bisherigen Versorgungslücken und Problemzonen geschlossen werden. Das übergreifende Ziel ist die eigenverantwortliche Lebensgestaltung der werdenden Eltern/Mütter.

Die Familie soll in die Lage versetzt werden:

o eine angemessene Versorgung und Erziehung ihres Kindes / ihrer Kinder zu gewährleisten,
o Verständnis für die Bedürfnisse ihres Kindes zu entwickeln,
o seine Entwicklung durch eine gesunde Lebensweise zu fördern und
o seine Signale richtig zu interpretieren.

Durch eine enge Zusammenarbeit der Betreuer/innen mit dem öffentlichen Träger sollen Hemmschwellen und Nutzungsbarrieren der Familie gegenüber Institutionen abgebaut und die Familien zu einer späteren Teilnahme an Selbsthilfegruppen angeregt werden.

„Aufsuchende Elternhilfe“ beginnt mit der Schwangerschaft und erstreckt sich über den Zeitraum der Geburt hinaus. Der Beginn sollte möglichst mit dem Beginn des fünften Schwangerschaftsmonats einsetzen, da die Schwangerschaft aufgrund ihrer Funktion als Anpassungsphase eine fruchtbare Zeit für Eltern/Mütter ist, die mit den Veränderungen einhergehenden Chancen zu nutzen. Eine freiwillige Annahme (Motivation und Mitarbeit) des Hilfeangebotes und der Wunsch, das Kind auszutragen, ist Voraussetzung.

Zielgruppen sind
- werdende Mütter und Eltern mit Risikofaktoren im Übergang zu ihrer ersten Elternschaft,
- alleinstehende schwangere Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Lage dieser komplexen Lebenssituation „hilflos“ gegenüberstehen,
- junge werdende Mütter, die aufgrund ihres Alters über wenig Bewältigungsstrategien verfügen,
- ausländische werdende Mütter und Eltern, die beispielsweise im hiesigen gesellschaftlichen System wenig Orientierung haben,
- suchtmittelmissbrauchende und -abhängige werdende Mütter und Eltern.

Das Projekt gliedert sich in Kontakt-, Haupt- und Abschiedsphase und sollte einen Zeitraum von 10 bis 12 Monaten haben.

„Aufsuchende Elternhilfe“ findet in enger Kooperation und Zusammenarbeit mit dem Sozialmedizinischen Dienst, dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und dem Allgemeinen Sozialpädagogischen Dienst statt. Die Zuweisung erfolgt durch den öffentlichen Träger.

Dieses Modell auf die genannten Risikogruppen bezogen oder aber bereits durchgeführte andere Modelle aufsuchender Elternhilfe müssen erprobt werden.

5.4 Verbindliche Kooperationsvereinbarungen
Eine Hilfe bei Kindesvernachlässigung und –misshandlung kann nur dann wirksam erbracht werden, wenn alle Ursachen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dies erfordert die Beteiligung und Vernetzung aller Fachkräfte, Dienste und Disziplinen. Die Prävention von Vernachlässigung setzt einen möglichst frühen Zugang zu Familien voraus. Einrichtungen und Dienste außerhalb der Jugendhilfe, die Kontakt zu „werdenden“ oder „jungen“ Familien haben, sind die Dienste der Gesundheitshilfe, – Ärzte, Hebammen, Krankenhäuser, Kinder- und Jugendgesundheitsdienste, Angebote der Suchthilfe.

Risikohafte Entwicklungen - sowohl vor als auch nach der Geburt eines Kindes - frühzeitig zu erkennen, um schnell, professionell und angemessen intervenieren zu können, setzt verbindliche Kooperationsvereinbarungen zwischen den beteiligten Professionen und Institutionen voraus. Hierbei kommt dem Jugendamt eine besondere koordinierende Bedeutung zu.

Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst einerseits und die regionalen Sozialpädagogischen Dienste des Jugendamtes andererseits nehmen gesundheitsbezogene bzw. sozialpädagogisch definierte Beratungs- und Betreuungsaufgaben mit dem Ziel der Gewährleistung von Kindeswohl wahr.

In den Bezirken sind deshalb verbindliche Kooperationsvereinbarungen zwischen dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und dem Jugendamt - Fachbereich Familienunterstützende Hilfen – abzuschließen. Ziel der Kooperationsvereinbarung ist es, ein sehr klar und strukturiert gegliedertes staatliches Kontakt- und Hilfeangebot abzusichern, das zum einen niedrigschwellig ist, zum anderen jederzeit die Gewähr bietet, bei fehlender Verständigung mit oder ohne Kooperation der Eltern Fehlentwicklungen mit den gebotenen hoheitlichen Maßnahmen (Inobhutnahme bzw. Anrufung des Familiengerichts) entgegen zu steuern.

5.5 Verlässliche Melde- und Informationsstruktur
Die Einrichtung einer verlässlichen Melde- und Informationsstruktur zwischen den bezirklichen Jugendämtern und den beteiligten Partnern ist durch die Benennung fester verantwortlicher Ansprechpartner zu sichern. Für jede Schule, jede Kita muss bekannt sein, wer im Jugendamt und Gesundheitsamt verantwortliche/r Ansprechpartner/in in Kinderschutzfällen ist. Für das gesamte Jugendamt und Gesundheitsamt soll dieser Ansprechpartner als Kinderschutzbeauftragter/in (Kinderschutzkoordinator/-in) fungieren. Ihm/Ihr obliegt die Verantwortlichkeit für die einheitliche Information und die Dokumentation der im Jugendamt bzw. Gesundheitsamt bekannt gewordenen Kinderschutzfälle. Er/Sie ist der verantwortliche Partner für die Kooperation mit dem KJGD bzw. dem Jugendamt.

5.6 Hotline – Kinderschutz
Für Dritte vor allem ratsuchende Bürger ist eine Hotline – Kinderschutz einzurichten Aufgaben der Hotline:
- zentrale Einwahlnummer für Ratsuchende, Bürger, Einrichtungen und Institutionen
- Erreichbarkeit rund-um-die-Uhr
- gleichbleibende qualifizierte Ansprechpartner/-innen, auch in den Abwesenheitszeiten der Jugendämter/Gesundheitsämter (18.00 Uhr – 08.00 Uhr)
- Übernahme des Erstkontaktes (Bereitschaftsdienst) für die Zeit, in der die Jugendämter/Gesundheitsämter nicht besetzt sind
- Klärung der örtlichen Zuständigkeit für den Fall und Überleitung an das zuständige Jugendamt und Gesundheitsamt in der Zeit von 08.00 – 18.00 Uhr. Parallel erfolgt eine Mitteilung an die zuständigen Kinderschutzkoordinatoren/-innen.
- Ansprechpartner für Schule, Kita, Polizei, Kliniken, Gerichte, Bürger, Beratungsstellen in öffentlicher und freier Trägerschaft
- Datenerhebung und Evaluation.

Es ist zu prüfen, ob die Hotline beim Kindernotdienst eingerichtet werden kann. Dieser verfügt über die entsprechenden Kenntnisse und ist als regionalisierte Bezirksaufgabe die richtige Struktur für diese Aufgabe.

6. Maßnahmenvorschläge für ein Netzwerk Kinderschutz.
Die Arbeitsgruppe „Netzwerk Kinderschutz“ schlägt dem Senat die Umsetzung folgender Maßnahmen vor:
- Prüfung, ob der Kinderschutz gesetzlich besser verankert werden kann und wie eine verbindliche Kooperation mit dem Jugendamt künftig zu regeln ist
- Festlegung verbindlicher Definitionen von „Risikofaktoren“ für die Zusammenarbeit von Entbindungskliniken, Hebammen und KJGD, Regionalem Sozialdienst des Jugendamtes, Sozialmedizinischer-Dienst, niedergelassenen Kinderärzten in schriftlicher Form und daraus folgernde Vereinbarung über erforderliche Arbeitsschritte. Aufbau eines Früherkennungs- und Interventionssystems
- Prüfung des Aufbaus eines Modellprojektes „Aufsuchende Elternhilfe“ – präventiver Kinderschutz vor und nach der Geburt als eine Möglichkeit, neben den bestehenden Hilfeangeboten auf spezielle Problemlagen zu reagieren
- Abschluss verbindlicher Kooperationsvereinbarungen zwischen den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten und bezirklichen Jugendämtern sowie Festlegung eines gemeinsamen schriftlichen Begleitplanverfahrens mit jährlicher Fortschreibung
- Festlegung verbindlicher Kooperationsvereinbarungen aller am Netzwerk Kinderschutz Beteiligten
- Abschluss von Zielvereinbarungen mit den politischen Leitungsebenen hinsichtlich Umfang und Erfüllung der Qualitätskriterien zu den Produkten „Ersthausbesuch“ und „gesundheitlicher Kinderschutz“
- Erstellung einheitlicher Standards und Fachkriterien Berlinweit für die Durchführung der gesundheitsbezogenen Hausbesuche und der zu vermittelnden Hilfeangebote
- Prüfung der Einrichtung einer Hotline beim Kindernotdienst und von „Bereitschaftsstellen Kinderschutz“ (Koordinierungsstellen) in den Jugendämtern und Gesundheitsämtern (KJGD) der Bezirke als Ansprechstellen für Träger, Bürger, Eltern und andere Akteure
- Bereitstellen von verbindlichen Ansprechpartnern für Kita und Schule durch das Jugendamt als „Koordinationsstelle Kinderschutz“
- Fertigung und Erlass einer VO nach § 9 KitaFöG (Kita-Untersuchungen)
- Umsetzung der Meldepflicht der Kitas bei unentschuldigtem Fehlen der Kinder gemäß VOKitaFöG
- Sicherstellung der Berlinweiten Umsetzung der Vorgaben des § 8a SGB VIII (Vorgabe für Jugendämter, Leistungsverträge, Zuwendungen)
- Prüfung der Änderung der melderechtlichen Grundlage (DvO-Meldegesetz) mit dem Ziel der Datenweitergabe an die Jugendämter
- Überarbeitung des Leitfadens „Empfehlungen zum Aufgaben- und Kooperationsbereich Kinderschutz in Fällen von Vernachlässigung, sexueller Ausbeutung und bei häuslicher Gewalt“ incl. Hinweise auf vorhandene Regelungen (u.a. Betretungsrecht der Wohnung gem. ASOG) sowie des Leitfadens „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Was ist zu tun?
- Entwicklung eines, zwischen den beteiligten Senatsverwaltungen (SenBJS, SenGesSozV) abgestimmten Konzeptes zur einheitlichen Erfassung und Auswertung der Daten zu Gewalt gegen Kinder. Dieses soll die Dokumentation des Ist-Zustandes und Evaluierung von Maßnahmen zur Verbesserung des Kinderschutzes ermöglichen.

Die Arbeitsgruppe „Netzwerk Kinderschutz“ wird die vorgeschlagenen Maßnahmen auf ihre Umsetzungsmöglichkeiten hin prüfen. Auswirkungen auf den Haushaltsplan und die Finanzplanung:
Das Vorhaben hat keine Auswirkungen auf den Haushaltsplan und die Finanzplanung, da es sich lediglich um Prüfaufträge handelt. Dem Abgeordnetenhaus wird bis zum 30.06.2006 berichtet.

Der Senat von Berlin
Klaus Böger
Senator für Bildung, Jugend und Sport
Dr. Heidi Knake-Werner
Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

 

 

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