FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Norbert Herschkowitz
& Elinore Chapman-Herschkowitz

Klug, neugierig und fit für die Welt

Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung

in den ersten sechs Lebensjahren

Verlag Herder, 2004, 2. Aufl.

(335 Seiten, 24,90 Euro)


Der Klappentext verspricht ein "Grundlagenbuch für alle, die wissen wollen, wie man Kinder optimal in ihrer Entwicklung unterstützt." Für diese Aufgabe sind die Autoren ein ideales Team: Elinore Chapman-Herschkowitz ist praktische Pädagogin in der Lehrerausbildung, Prof. Dr. Norbert Herschkowitz ist Kinderarzt und Neurowissenschaftler, beide zusammen haben zwei Kinder aufgezogen.

In der Einleitung skizzieren sie ihr Programm:
   "Unser Buch beginnt mit einer kurzen Darstellung des Lebens, das Ihr Baby im Mutterleib führt. Wir geben einen Überblick über die eindrucksvolle Entwicklung des Gehirns und des Verhaltens während der Schwangerschaft, die das Baby auf das Leben in der Welt vorbereitet. In den drei folgenden Teilen des Buches beschäftigen wir uns chronologisch mit den sich herausbildenden Fähigkeiten und dem heutigen Wissensstand über die Entwicklung des Gehirns.
     Über die allgemeinen Informationen zur Gehirnentwicklung hinaus also zu den Prozessen, die bei allen Kindern in ähnlichen Zeitabschnitten stattfinden  bringen wir Ihnen neue Forschungsergebnisse nahe, die zur Erklärung der Individualität des Kindes beitragen. Wir ergänzen die Darstellung um praktische Beispiele, die Ihnen helfen, die Persönlichkeit des Kindes besser zu verstehen und seinen individuellen Werdegang zu verfolgen. ....
     Jedes Kapitel schließt mit praktischen Überlegungen. In den mit 'Fragen und Antworten' überschriebenen Abschnitten gehen wir auf Fragen ein, die Eltern oder Besucher unserer Vorträge an uns gerichtet haben. Die Fragen beziehen sich auf Themen des Al1tags, beispielsweise: Fördert pränatale Stimulation die Gehimentwicklung? Wie wichtig ist eine frühe Einschulung? Warum sind die Kinder in derselben Familie so verschieden? Die Antworten greifen auf das im Buch erörterte Material zurück und beruhen auf dem gegenwärtigen Wissensstand.
     Damit Sie sich im komplizierten Netzwerk des Gehirns zurechtfinden, haben wir am Ende des Buches einige Abbildungen zusammengestellt, denen die Namen von Zentren und Regionen des Gehirns von Erwachsenen zu entnehmen sind. Wenn Ihnen ein Wort im Text nicht geläufig ist, können Sie es hier oder im Glossar im Anhang nachschlagen." (S. 22/23)

Das Inhaltverzeichnis dokumentiert den klaren, chronologisch orientierten Aufbau des Buches:

Teil I: Ein Kind macht sich bereit für die Welt
Kapitel l: Das Leben im Mutterleib
Kapitel 2: Das Neugeborene
Teil II: Das erste Lebensjahr
Der erste Geburtstag
Kapitel 3: Die ersten Wochen zu Hause
Kapitel 4: Erkundungen
Kapitel 5: Geborgenheit und Zusammensein
Teil III: Das zweite Lebensjahr
Der zweite Geburtstag
Kapitel 6: Entdeckungen
Kapitel 7:Du und Ich
Teil IV: Drei bis sechs Jahre
Der sechste Geburtstag
Kapitel 8: Bereit für die Schule
Kapitel 9: Zusammenleben
Kapitel 10: Wege zur Persönlichkeit
Kapitel 11: Sieben Orientierungshilfen für Eltern
Anhang
Die Zentren und Regionen des Gehirns
Meilensteine der Entwicklung in den ersten sechs Jahren
Glossar
Weiterführende Literatur

Das erste Kapitel liefert wichtige Informationen zum Einfluß von Streß auf die Entwicklung des Embryos, deren allgemeine Kenntnis und Beachtung viele Tragödien verhindern könnte:
     "In den frühen 1970er Jahren begannen Wissenschaftler, diese Frage systematisch zu untersuchen. In Kanada beschäftigten sich Forscher mit der Beziehung zwischen den Stresssituationen einer Mutter während der Schwangerschaft und der postnatalen Entwicklung des Babys. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Mütter, die während der Schwangerschaft ständig unter starken persönlichen Spannungen, vor allem unter Eheproblemen, zu leiden hatten, Kinder zur Welt brachten, die stärker zu Ekzemen neigten und Stufen der motorischen Entwicklung später erreichten als Kinder von Müttern mit einer entspannteren Schwangerschaft. Außerdem waren die Babys mürrischer, nervöser und konnten sich schlechter beruhigen. Die Autoren vermuteten, dass Veränderungen im Hormonsystem der Mutter infolge des Stresses Einflüsse auf das ungeborene Kind haben könnten.
     Der Alltag ist voller kurzzeitiger Ereignisse, die man  je nach Persönlichkeit  als 'stressig' bezeichnen könnte: Man bekommt einen Schreck durch einen Überschallknall, das zweijährige Kind rennt auf die Straße, der Chef kritisiert den Bericht, an dem man das ganze Wochenende gesessen hat. Das Nervensystem reagiert auf diese Ereignisse, indem es verstärkt Adrenalin in die Blutbahn ausschütten lässt. Das kann dazu führen, dass weniger Blut in die Gebärmutter fließt, ähnlich wie es beim Rauchen der Fall ist. Der Fötus nimmt die Veränderung wahr und 'fühlt mit': Sein Nervensystem produziert ebenfalls mehr Adrenalin, was zu einer kurzzeitigen Veränderung des Herzschlags und der Körperbewegungen führt. Ein anderer Weg, auf dem die Stimmung der Mutter den Fötus beeinflussen kann, ist das Hormon Cortisol, das der Körper in Stresssituationen ausschüttet. Ein Teil davon gelangt direkt zum Fötus, ein weiterer Teil stimuliert das endokrine System des Babys über die Plazenta. Gelegentliche Stresssituationen oder kleine Sorgen haben keinen langfristigen Effekt auf die Entwicklung des Babys.
     Anhaltender und starker Stress während der Schwangerschaft kann hingegen Auswirkungen haben. Eine verringerte Blutzufuhr über die Plazenta kann das Wachstum des Babys hemmen. Das Neugeborene ist dann zu klein oder zu leicht für sein Alter. In neueren Untersuchungen wurde ein hohes Maß von Angst seitens der Mutter, vor allem in den späteren Phasen der Schwangerschaft, mit einer Reihe von Verhaltensproblemen in Verbindung gebracht, die in der frühen Kindheit auftreten. Hierzu gehören Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen, besonders bei Jungen, und emotionale Probleme bei Mädchen und Jungen." (S. 41-43)

Im Kapitel 'Geborgenheit und Zusammensein' wird dargestellt, wie emotionale Frustrationen sich auf das Gehirn und seine psychischen Funktionen auswirken:
   "Wenn die Menschen, die sich um die Kinder kümmern, diese missachten oder nicht hinreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen, können die Kinder später Lernschwierigkeiten oder zwischenmenschliche Probleme entwickeln. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Interaktion eines Babys mit denjenigen, die für es sorgen, sich auf sein Stressniveau auswirkt. In einem Test wurden neun Monate alte Kinder für 30 Minuten von ihren Müttern getrennt und unter die Aufsicht eines ihnen unbekannten Babysitters gestellt. Wenn der Babysitter freundlich und einfühlsam war und mit den Kindern spielte, zeigten sie kein erhöhtes Cortisol im Speichel. Wenn sich der Babysitter dagegen kalt und distanziert zeigte, wurde ein erhöhter Cortisolspiegel gemessen, insbesondere bei den Kindern, die als häufig verstimmt oder leicht erregbar geschildert worden waren. ....
     Wie ein Kind auf ein bestimmtes Stresserlebnis reagiert, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Grund dafür, dass manche Kinder stärker reagieren als andere, sind Unterschiede im Temperament. Während das Kind jedoch heranwächst, kommt seinen früheren Erfahrungen eine immer größere Bedeutung zu. Eine gesunde Beziehung zwischen dem Kind und den Bezugspersonen, die sich um es kümmern, liefert eine solide Grundlage, auf der es lernen kann, mit unerfreulichen Ereignissen zurechtzukommen und sein inneres Gleichgewicht immer wieder zu finden." (S. 134)

Die beträchtliche prognostische Relevanz mangelhafter Impulskontrolle wird im neunten Kapitel hervorgehoben:
"Die Fähigkeit eines Kindes, seine Impulse unter Kontrolle zu halten, verdient besondere Aufmerksamkeit, weil fehlende Selbstkontrolle im Kindergartenalter mit späterem antisozialen Verhalten assoziiert sein kann. Richard E. Tremblay und seine Kollegen von der Universität Montreal fanden heraus, dass Jungen, die im Kindergarten eine bestimmte Kombination von Verhaltensmustern aufwiesen, als Heranwachsende zu antisozialem Verhalten neigten. Die drei Merkmale waren hohe Impulsivität, geringe Ängstlichkeit und ein geringes Bedürfnis nach Bestätigung und Anerkennung von Erwachsenen. Jungen, die die ersten beiden Eigenschaften aufwiesen, aber ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung zeigten, neigten als Jugend1iche weniger zu antisozialem Verhalten als Jungen mit den beiden ersten Eigenschaften und wenig Bedürfnis nach Bestätigung. Möglicherweise waren die Beziehungen der ersten Gruppe zu ihren Eltern und anderen Bezugspersonen ein ausschlaggebender Faktor bei der Prägung ihres Verhaltens. Die Autoren der Studie empfehlen, Vorschulkindern mit einem Risikoprofil mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wichtig ist es, nicht nur einen charakteristischen Aspekt des Verhaltens zu berücksichtigen, sondern mehrere Eigenschaften zusammen, sowie ihre Entwicklung über einen längeren Zeitraum. Es muss auch klar hervorgehoben werden, dass Vorhersagen mit äußerster Vorsicht zur Kenntnis genommen werden müssen. Ein bestimmtes Profil in einem jüngeren Alter führt nicht zwangsläufig zu einem bestimmten Verhalten in einem späteren Alter. Eine günstige soziale Umgebung kann  auch bei Vorhandensein einer negativen Konstellation das Risiko einer antisozialen Entwicklung senken." (S. 257/258)

Das letzte Kapitel bietet einen ausführlich erläuterten Katalog von sieben Fähigkeiten, die bis zur Schulreife angestrebt werden sollten:
1. Persönliche Beziehungen aufbauen
2. Kommunizieren
3. Werte entwickeln
4. Ziele setzen und durchhalten
5. Kreativ handeln statt nur konsumieren
6. Verantwortung für sich und andere übernehmen
7. Die persönliche Sichtweise ausweiten
(S. 300)

Danach folgt ein besonders wertvoller Anhang, der u.a. eine wirklich verständliche Einführung in die Physiologie des menschlichen Gehirns und vier übersichtliche Entwicklungs-Schemata ("Meilensteine der Grobmotorik, der Feinmotorik, der Sprache, des Spiels und des Alltagslebens"), allerdings leider kein Sachwortregister enthält.

Bilanzierende Bewertung:
Dem Elternpaar Herschkowitz ist ein leicht lesbares, gleichwohl wissenschaftlich seriöses Lehrbuch der Kinderpsychologie gelungen, das deshalb ein vorzügliches Geschenk ist für junge Eltern oder Paare, die es werden wollen.

Kurt Eberhard (Dez. 2004)

 

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