FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 

PISA 2003
Der Bildungsstand der Jugendlichen
in Deutschland

Ergebnisse des
zweiten internationalen Vergleichs

herausgegeben vom

PISA-Konsortium Deutschland

Waxmann-Verlag 2004
(416 Seiten, 19,90 Euro)

 

Mitglieder des PISA-Konsortiums sind die Professoren:
Manfred Prenzel, Leibniz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel
Jürgen Baumert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Werner Blum, Universität Kassel
Rainer Lehmann, Humboldt-Universität Berlin
Detlev Leutner, Universität Duisburg-Essen
Michael Neubrand, Ossietzky-Universität Oldenburg
Reinhard Pekrun, Ludwig-Maximilians-Universität München
Hans-Günter Rolff, Institut für Schulentwicklungsforschung, Universität Dortmund
Jürgen Rost, Leibniz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel
Ulrich Schiefele, Universität Bielefeld
Zahlreiche weitere Wissenschaftler wurden als Autoren hinzugewonnen.

Der Bericht referiert die Ergebnisse der zweiten PISA-Erhebung:
"Der vorliegende Band berichtet über die internationalen Ergebnisse der zweiten PISA- Erhebung. Er beantwortet die Frage, wie Deutschland in PISA 2003 abgeschnitten hat. Dieser nationale Bericht unterscheidet sich von den zeitgleich erscheinenden internationalen Berichten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, 2004a; OECD, 2004b) durch eine andere Perspektive: Vom Bericht des PISA-Konsortiums Deutschland erwartet man, dass er die internationalen Befunde aufgreift und diese aus einer nationalen Sicht bespricht. Selbstverständlich muss der nationale Bericht die Ergebnisse für Deutschland ausführlicher und differenzierter behandeln als der internationale Report. Außerdem nutzen wir die Gelegenheit, erste Befunde aus Zusatzerhebungen in Deutschland vorzustellen, mit denen die Ergebnisse des internationalen Vergleichs ergänzt und besser eingeordnet werden können. Weitere nationale Berichte folgen." (S. 13)

Die Überschriften der Hauptkapitel lauten:

  1. PISA 2003 - eine Einführung
  2. Mathematische Kompetenz
  3. Lesekompetenz
  4. Naturwissenschaftliche Kompetenz
  5. Problemlösen
  6. Vertrautheit mit dem Computer
  7. Schülermerkmale im Fach Mathematik
  8. Kompetenzen von Jungen und Mädchen
  9. Soziale Herkunft
  10. Schule und Unterricht
  11. Von PISA 2000 zu PISA 2003
  12. Technische Grundlagen

In der Einführung wird ein Überblick geliefert, der dem Leser die Orientierung sehr erleichtert:

Inhaltsbereiche:

  • PISA untersucht die Kompetenzen von fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Mathematik {Schwerpunktgebiet 2003), Lesen und Naturwissenschaften. Die Erhebungen beruhen auf einem Testansatz, der in allen Inhaltsbereichen zwischen Konzepten. Prozessen und Situationen beziehungsweise Kontexten unterscheidet. Die Testkonzeption ist an einer Vorstellung von lebenslangem Lernen orientiert und betont das Verstehen und die flexible, situationsgerechte Anwendung des Wissens.
  • Neben bereichsspezifischen werden bereichsübergreifende Kompetenzen untersucht. Im Zentrum dieser so genannten Cross-Curricular-Competencies steht 2003 das Problemlösen. Neben den Tests zur Problemlösekompetenz ergänzen Erhebungen zu Lernstrategien, Lernmotivation und zur Vertrautheit mit Informationstechnologien den fächerübergreifenden Untersuchungsbereich.

Erhebungsverfahren:

  • Die Erhebung erfolgte an einem Testtag an der Schule, in Gruppen und unter Aufsicht.
  • Die Tests bestehen aus Mehrfachauswahlfragen (Multiple-Choice). Sie werden mit Fragen kombiniert, die von den Schülerinnen und Schülern mit eigenen Worten oder Darstellungen beantwortet werden müssen (offene Fragen). Die Einzelfragen (Items) sind thematisch zu Aufgaben gruppiert. die sich auf eine durch einen kurzen Text beschriebene Situation beziehen.
  • Die reine Testzeit für jeden Schüler beziehungsweise jede Schülerin betrug zwei Stunden.
  • Die Schülerinnen und Schüler erhielten Testhefte mit unterschiedlichen Aufgabenpaketen. Auf diese Weise kann insgesamt Itemmaterial für mehr als sechseinhalb Stunden Testzeit eingesetzt werden. Der größte Teil dieser Testzeit (3.5 Stunden) entfiel 2003 auf das Schwerpunktgebiet Mathematik.
  • Die Schülerinnen und Schüler bearbeiteten weiterhin einen Fragebogen (30 Minuten), der sich auf ihre Herkunft und Umgebung, ihre Lerngewohnheiten und Motivation bezieht. Optional ist ein weiterer Fragebogen zur Vertrautheit mit Computern und zu Vorstellungen über die eigene Bildungskarriere (15 Minuten) .
  • Die Schulleitungen wurden gebeten, einen Fragebogen zu Merkmalen ihrer Schule (z.B. Ressourcen, Qualifikation der Lehrkräfte, Schulklima) auszufüllen.

Stichprobe:

  • International wurden in den 41 an PISA teilnehmenden Staaten (30 OECD-Staaten und 11 Partnerländer) ca. 250 000 Schülerinnen und Schüler getestet.
  • Die teilnehmenden Schulen und die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler wurden mit einem Zufallsverfahren gezogen.

Ergebnisse:

  • Ein Profil von wichtigen Kompetenzen, über die Fünfzehnjährige verfügen
  • Informationen über Zusammenhänge zwischen Kompetenzen und Merkmalen der sozialen Herkunft
  • Erste Einschätzungen der Veränderungen in den Kompetenzen zwischen den Erhebungen in den Jahren 2000 und 2003

Optionen für Ergänzungen und Erweiterungen:

  • Auch 2003 konnten internationale Optionen (z.B. ergänzende Fragebögen) gewählt werden.
  • Die internationale Erhebung konnte durch nationale Komponenten (erweiterte Stichproben, zusätzliche Testtage und Erhebungsverfahren) ergänzt werden.

Ausblick:

  • Der Schwerpunkt der nächsten Erhebung im Jahr 2006 wird auf dem Bereich Naturwissenschaften liegen. Im Jahr 2009 soll dann wieder die Lesekompetenz im Zentrum stehen.
  • In zukünftigen Erhebungen sollen zumindest zum Teil computerbasierte Erhebungen stattfinden, um das Fähigkeitsspektrum besser abbilden zu können.

Teilnehmende Staaten (Staaten, die an PISA 2000 und 2003 teilnahmen, sind kursiv):

OECD: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Irland, Italien, Japan, Kanada, Korea, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten
Partnerstaaten: Brasilien,
Hongkong-China, Indonesien, Lettland, Liechtenstein, Macao-China, Russische Föderation, Serbien und Montenegro, Thailand, Tunesien, Uruguay.
(S. 15/16)

Alle Kapitel schließen mit Zusammenfassungen ab, auf die sich diese Rezension überwiegend bezieht. In der Zusammenfassung des 2. Kapitels zur Mathematischen Kompetenz heißt es:
     "Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei PISA 2003 im Bereich des Durchschnitts aller OECD-Staaten. Der deutsche Mittelwert von 503 Skalenpunkten unterscheidet sich nicht signifikant vom OECD-Mittelwert (500 Punkte). Die Situation stellt sich somit für 2003 etwas entspannter dar als in 2000. Allerdings muss man auch 2003 die Position am OECD-Durchschnitt weiterhin als unbefriedigend für Deutschland ansehen, gibt es doch eine Reihe von Nachbarstaaten (Niederlande, Belgien, Schweiz) und andere nordeuropäische Länder (Finnland), die weit höhere Maßstäbe beim durchschnittlichen Kompetenzniveau in Mathematik setzen. ....
     Nach wie vor ist die Leistungsstreuung innerhalb Deutschlands sehr hoch, höher als in den meisten anderen Staaten. Strukturell weniger auffällig ist dabei das obere Leistungsspektrum. Besonderer Förderungsbedarf zeigt sich für die Schülerinnen und Schüler im unteren Bereich des Kompetenzspektrums. Insbesondere dort ist im Vergleich zu PISA 2000 keinerlei Veränderung in den Hauptschulen zu beobachten. Mehr als ein Fünftel der deutschen Schülerinnen und Schüler befinden sich in der sogenannten Risikogruppe, die in der Mehrzahl die Hauptschule oder die Integrierte Gesamtschule besuchen." (S. 89/90)

Folgende Passage entnehmen wir der Zusammenfassung des Kapitels über die Lesekompetenz:
     "Vergleicht man die Testleistungen in 2000 und 2003 anhand der gemeinsamen Aufgaben, dann erreicht Deutschland nun einen höheren Punktwert. Der Unterschied ist jedoch gegenüber PISA 2000 nicht signifikant. Die empirisch zulässige Aussage lautet daher: Die Lesekompetenz liegt 2003 auf dem gleichen Niveau wie in PISA 2000. Auch im internationalen Vergleich zeichnet sich ab, dass eine Steigerung der Lesekompetenz in einem kurzen Zeitraum nicht leicht zu erzielen ist. .... Bei einer detaillierten Betrachtung der deutschen Ergebnisse sind auch in PISA 2003 dieselben Probleme zu erkennen wie in PISA 2000: Die Lesekompetenz streut in Deutschland stärker als in anderen Ländern, der Vorsprung der Mädchen vor den Jungen bleibt unverändert, die Anteile von Schülerinnen und Schülern, die aufgrund ihrer Lesekompetenz äußerst schlechte Voraussetzungen für eine Bildungs- und Berufskarriere mitbringen, bewegen sich in der gleichen Größenordnung wie 2000. Gerade dieser letzte, stabile Befund, der für fast ein Viertel der Jugendlichen - und für ein funktionierendes Gemeinwesen wie eine konkurrenzfähige Wirtschaft - erhebliche Probleme vorhersagt, gibt weiterhin Anlass zur größten Besorgnis." (S. 108)

Zur naturwissenschaftlichen Kompetenz lautet das Resumé:
     "Das Niveau der naturwissenschaftlichen Kompetenz unserer fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler scheint sich in den vergangenen 3 Jahren deutlich geändert zu haben. Der Mittelwert liegt jetzt bei 502, das sind 15 Kompetenzpunkte mehr als im Jahr 2000. Allerdings zeigt der jetzige Wert, der dicht am Mittelwert aller OECD-Staaten liegt, keineswegs, dass nun die Ziele des naturwissenschaftlichen Unterrichts in Deutschland zufriedenstellend erreicht wären. Hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Kompetenz im Durchschnittsbereich von 30 OECD-Staaten zu liegen, lässt noch nicht erkennen, dass die Jugend in Deutschland auf die zukünftigen Anforderungen angemessen vorbereitet ist, sei es im wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Wettbewerb oder sei es für die Bewertung von technologischen Innovationen. ....
     Als äußerst problematisch wird jedoch angesehen, dass der untere Leistungsbereich von dieser Kompetenz- oder Leistungssteigerung ausgeschlossen ist. Der Anstieg von 15 Punkten wurde zum überwiegenden Teil von Schülerinnen und Schülern erreicht, die ohnedies schon zum oberen Viertel der Kompetenzverteilung gehören. Die Hauptschule liegt nach wie vor mit einem sehr großen Abstand hinter dem Gymnasium (1,8 Standardabweichungen). Die Hälfte aller Hauptschüler gehört zur Risikogruppe, also zu jenen Jugendlichen, von denen befürchtet werden muss, dass sie den Anschluss an die naturwissenschaftlich-technisch orientierte Berufswelt nicht schaffen. An den Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen ist eine tendenzielle Steigerung der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler zu verzeichnen, an Haupt- und Realschulen nicht. Es stellt sich daher auch anhand der neuen Daten die Frage, ob ein Teil der nachwachsenden Generation von weiterführenden Bildungsprozessen ausgeschlossen wird." (S. 143/144)

Zur fächerübergreifenden Kompetenz Problemlösen ergab die Untersuchung:
"Im internationalen Vergleich schneiden die Fünfzehnjährigen in Deutschland erfreulich gut ab: Mit 513 Punkten liegt die analytische Problemlösekompetenz deutlich und statistisch signifikant über dem OECD-Mittelwert, und es gibt nur sechs OECD-Staaten, in denen die Fünfzehnjährigen eine statistisch signifikant höhere Problemlösekompetenz erreichen. Die Verteilung der deutschen Schülerinnen und Schüler auf die drei Stufen der Problemlösekompetenz gibt jedoch Anlass zur Sorge: Eine Risikogruppe von 14 Prozent erreicht die Stufe 1 nicht. Dabei handelt es sich um Fünfzehnjährige, für die bezweifelt werden muss, dass sie auf den Einstieg in einen Beruf, der fächerübergreifendes Denken und das Lösen komplexer Probleme erfordert, gut vorbereitet sind." (S. 174)

Überraschendes gibt es über die Vertrautheit mit dem Computer zu berichten:
     "Besondere Aufmerksamkeit verdient der Befund, dass in Deutschland mehr als 20 Prozent der Fünfzehnjährigen so gut wie keine Idee darüber entwickelt haben, für welche Zwecke der Computer ein geeignetes Hilfsmittel darstellen (Unerfahrene) beziehungsweise wie man ihn angemessen nutzen könnte (Unerfahrene und Freizeitnutzer). Diesen Schülerinnen und Schülern scheint es in ihrer bisherigen Entwicklung an Lern- und Übungsgelegenheiten gefehlt zu haben, Computer und Internet als sinnvolles Hilfsmittel im Alltag oder als Lernwerkzeug für die Schule zu entdecken. Für diese Gruppen sind erhebliche Probleme in ihrem zukünftigen Ausbildungs- und Berufsleben zu befürchten. Wie gezeigt wurde, spielen mangelnde Zugangsmöglichkeiten für diese Defizite nur eine untergeordnete Rolle." (S. 189)

Die Differenzen zwischen Mädchen und Jungen sind in Deutschland größer als in den meisten Vergleichsländern.
     "Eine solide Lesekompetenz ist grundlegend für den Erwerb von Wissen in jedweder Domäne. Der Kompetenzrückstand von Jungen im Lesen erschwert ihnen am Ende der Grundschulzeit den Zugang zu den weiterführenden Schulen. .... Wie PISA 2003 zeigt, sind über ein Viertel der Jungen (und knapp ein Sechstel der Mädchen) auch gegen Ende der Pflichtschulzeit in dieser Schlüsselkompetenz noch nicht auf ausreichend hohem Niveau, um den Anforderungen einer sich ständig ändernden Berufswelt zu genügen. ....
     Hier [in Mathematik] sind es besonders die Mädchen, die ihr Leistungspotential nicht ausschöpfen können. Der Unterricht in Deutschland scheint demnach den Schülern, vor allem aber auch den Schülerinnen nicht in dem Maße zur Entwicklung ihrer mathematischen Kompetenz verhelfen zu können, wie dies in anderen Staaten, etwa den Niederlanden, der Fall ist." (S. 221)

Im deutschen, sehr hierarchischen Schulsystem spielt die Soziale Herkunft eine besonders schicksalhafte Rolle.
   "In Deutschland vermittelt insbesondere der Besuch verschiedener Schulformen das Niveau an Kompetenzen und Fähigkeiten, das Jugendliche über die Schulzeit erreichen. Der Besuch verschiedener Schulformen hängt auch von Merkmalen der sozialen Herkunft ab. Ein deutlicher Zusammenhang zeigt sich für den Besuch des Gymnasiums: Die relativen Chancen, ein Gymnasium zu besuchen, sind auch bei einer Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeit und der mathematischen Kompetenz für Jugendliche aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status deutlich erhöht. .... Auch die Wahrscheinlichkeit, zur so genannten Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern zu gehören, deren Kompetenzen als gering für eine erfolgreiche Teilhabe in modernen Wissensgesellschaften angesehen werden, hängt von Merkmalen der sozialen Herkunft ab. Der für Deutschland ausgewiesene soziale Gradient weist auf einen deutlichen Zusammenhang von sozialer Herkunft mit den erworbenen Kompetenzen von Jugendlichen hin." (S. 253)

Zu den Schul- und Unterrichtsformen werden folgende Diagnosen gestellt:  
"In Hauptschulen und Integrierten Gesamtschulen wird über mangelnde Ressourcen und Probleme mit dem Verhalten und der Arbeitshaltung von Schülerinnen und Schülern geklagt. In Gymnasien und Realschulen werden diese Aspekte vergleichsweise positiv eingeschätzt, wobei im Gymnasium jedoch Defizite im sozialen Klima wahrgenommen werden. ....
     Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des internationalen Vergleichs, dass deutsche Schulen über vergleichsweise eingeschränkte Entscheidungsspielräume verfügen, kommt der Nutzung vorhandener Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Bereitstellung möglichst guter Lernbedingungen eine hohe Bedeutung zu. Die Auswertungen zeigen jedoch, dass von diesen Möglichkeiten vergleichsweise wenig Gebrauch gemacht wird. Dass diese noch am ehesten von Haupt- und insbesondere Integrierten Gesamtschulen genutzt werden, wurde erwähnt. Hiervon abgesehen, sind für alle untersuchten Merkmale (Evaluationspraxis, qualitätsbezogenes Handeln der Schulleitung, Entwicklung von Schulprogrammen, Konsens und Kooperation) noch große Entwicklungspotentiale sichtbar. In Bezug auf die existierenden Schulprogramme fällt beispielsweise auf; dass konkrete Unterrichtskonzepte bei fast der Hälfte der befragten Schulen nur am Rande behandelt werden. Gerade diese stellen aber vermutlich die wichtigste Maßnahme zur Verbesserung der Schülerkompetenzen dar. Insgesamt wird deutlich, dass die vorhandenen Handlungsspielräume bei weitem nicht ausgeschöpft werden. ....
     Das aufgrund fachdidaktischer und pädagogisch-psychologischer Kriterien als Optimalform klassifizierte Unterrichtsmuster, das sich durch kognitive Herausforderung und kognitive Selbständigkeit bei gleichzeitiger persönlicher Unterstützung auszeichnet, wurde in weniger als einem Fünftel der PISA-Klassen gefunden. Stattdessen überwiegt vor allem in den Hauptschulklassen und Schulen mit mehreren Bildungsgängen eine Remedialform des Unterrichts, die durch Engführung und geringe kognitive Selbständigkeit gekennzeichnet ist. Bringt man diese Beobachtung mit den problematischen PISA-Befunden zum unteren Leistungsbereich in Zusammenhang, so ist nicht auszuschließen, dass die geringe Ausschöpfung des kognitiven Potentials besonders in dieser Schülergruppe zu einem gewissen Teil durch die wenig herausfordernde Gestaltung ihres unmittelbaren Lernkontextes bedingt ist." (S. 312 ff)

Im Unterkapitel »Wichtige Erkenntnisse aus PISA 2003« bieten die Autoren einen nachdenklichen und vor allen Dingen differenzierten Rückblick:
     "Betrachtet man die durch PISA 2000 ausgelöste Bildungsdiskussion, dann richtet sich das öffentliche Interesse darauf: nun Befunde zu erfahren, die - hoffentlich - eine Verbesserung erkennen lassen. Mit dem PISA-Schock verbunden war die weithin geteilte Auffassung, dass diese Ergebnisse aus dem Jahr 2000 nur eine düstere Prognose für die gesellschaftliche Entwicklung und für die individuellen Lebenschancen in Deutschland zulassen. Die im Bildungssystem verantwortlich Handelnden stehen seit PISA 2000 unter einem erheblichen öffentlichen Erwartungsdruck. Dabei wird leider selten wahrgenommen, dass PISA kumulative Effekte von Lernbiographien im Bildungssystem misst, die sich über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren erstrecken. Die erhoffte schlagartige Besserung von Ergebnissen, die Deutschland im internationalen Vergleich wieder als Bildungsnation ausweist, muss deshalb Wunschdenken bleiben. Entscheidend wird es sein, langfristig und kontinuierlich auf Verbesserungen hinzuarbeiten.
     Vor diesem Hintergrund ist eine erste positive Erkenntnis aus PISA 2003, dass sich die Bildungsergebnisse für Deutschland in keiner Weise verschlechtert haben. Die Befürchtung eines negativen Trends, im internationalen Vergleich den Anschluss zu verlieren, wird durch die Ergebnisse der aktuellen Erhebungsrunde nicht gestützt.
     Hervorzuheben ist zugleich eine zweite wichtige Erkenntnis: Sowohl im internationalen Vergleich als auch im Vergleich über die Erhebungen finden wir interessante Unterschiede zwischen den Kompetenzen. Es gibt keine Hinweise auf eine Stärkung der Lesekompetenz in Deutschland seit PISA 2000. Weder für Jugendliche aus Familien der oberen Sozialschichten noch für das Gymnasium sind Fortschritte in der Lesekompetenz der Fünfzehnjährigen von 2000 zu 2003 beobachten.
     Günstiger im Vergleich zu 2000 stellt sich bei PISA 2003 das Ergebnis für den Bereich der naturwissenschaftlichen Kompetenzen dar. Hier kann tatsächlich ein leichter Anstieg der durchschnittlichen Kompetenz statistisch abgesichert werden. Auch im Bereich der mathematischen Kompetenz kann für eine der beiden Teilskalen, die PISA 2000 und 2003 verbinden, ein signifikanter Anstieg festgestellt werden. Die Unterschiede in den Kompetenzwerten, die Deutschlands Schülerinnen und Schüler für die mathematischen Teilskalen erzielen, spiegeln curriculare Schwerpunktsetzungen, aber auch deutsche Unterrichtstraditionen, die mathematischen Teilgebieten unterschiedliches Gewicht beimessen, wider. ....
     Eine weitere wichtige Erkenntnis aus PISA 2003 und dem Vergleich mit PISA 2000 betrifft die Heterogenität in den Leistungen. Die Leistungsstreuung hat sich seit 2000 keineswegs verringert; die Anteile von Schülerinnen und Schülern, denen ungünstige Voraussetzungen für ein Weiterlernen beziehungsweise eine berufliche Ausbildung bescheinigt werden, sind in etwa gleich geblieben. Für fast ein Viertel der Jugendlichen gilt diese Risikoprognose in den Kompetenzbereichen. Hervorzuheben ist weiterhin, dass die für Deutschland statistisch abgesicherten Kompetenzzuwächse nicht in gleichem Maße von allen Jugendlichen getragen werden. Es sind vor allem die Kompetenzstärkeren, die ihre Kompetenzen weiter verbessert haben, wenn auch nicht im Lesen. Besorgnis erregend ist, dass keine Kompetenzanstiege in den Gruppen leistungsschwächerer Jugendlicher zu verzeichnen sind. Eine Verbesserung des durchschnittlichen Leistungsniveaus ist auf Dauer aber nur möglich, wenn die große Streuung zwischen kompetenzschwachen und kompetenzstarken Teilgruppen reduziert wird, und zwar durch eine bemerkbare Verbesserung der unteren Leistungsbereiche. ....
     Schließlich ist zu betonen, dass wir keine Hinweise auf eine beginnende Entkopplung von Kompetenz und Merkmalen der sozialen Herkunft finden konnten. Die Befunde gleichen denen aus dem Jahr 2000 in jeder Hinsicht. Auch hierin zeigt sich, dass die Veränderungen in den letzten drei Jahren vorwiegend auf Veränderungen bei den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern zurückgehen, die tendenziell eher den sozial stärkeren Schichten angehören. Der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Kompetenzniveau wird daher also eher noch enger, und es besteht die Gefahr, dass die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten noch weiter zunehmen. Eine Ausnahme bildet das Lesen. Hier zeichnet sich 2003 eine leichte Stärkung der Lesekompetenz bei den Jugendlichen aus sozioökonomisch schlechter gestellten Schichten ab." (S. 366-368)

Bilanzierende Bewertung:
Die Autoren erliegen nicht der Versuchung, mit agitierenden Alarmgebärden in die gegenwärtige Bildungsdebatte einzugreifen, sondern befleißigen sich der sachlichen Darstellung, und ihre Empfehlungen vermeiden ebenfalls den Gestus plakativer Forderungen.

Ihre Befunde aber sind zutiefst beunruhigend. Es sei denn, wir wollen darauf verzichten, Exportweltmeister zu bleiben und üppig zu konsumieren. Eine andere Hoffnung resultiert daraus, daß die Pisa-Kriterien gar nicht das erfassen, was die Unternehmer in ihren Stellenangeboten verlangen: Kreativität, Flexibilität, Dynamik, Teamfähigkeit etc. (s.
Ökonomische Anmerkungen zur Pisa-Studie).

Die Reformvorschläge der Autoren richten sich vorrangig an die Schulen und die dafür verantwortlichen Bildungspolitiker. Aus Sicht der sozialen Praxis wäre hinzuzufügen, daß es gleichgewichtig auf die Eltern ankommt und zwar nicht, ob sie sich die Rolle der emsigen Schulassistenten zuweisen lassen, sondern ob sie - notfalls auch gegen die Schule - in der Lage sind, ihre Kinder in liebevoller Empathie zu seelisch gesunden Menschen heranreifen zu lassen.

Alle Fachleute, Journalisten, Politiker und Eltern, die sich an der schicksalhaft wichtigen bildungspolitischen Diskussion beteiligen wollen, sollten diesen Bericht des PISA-Konsortiums gründlich gelesen haben.

Kurt Eberhard (Febr. 2005)

s.a. Sachgebiet Erziehungskrise/Bildungskrise

 

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