FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 


Günther Deegener und Wilhelm Körner (Hrsg.)

Kindesmisshandlung
und Vernachlässigung

Ein Handbuch

Hogrefe-Verlag, 2005

(874 Seiten, 80 Euro)


Prof. Dr. Deegener ist Psychologischer Psychotherapeut in der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Homburg. Dr. Körner ist Psychologischer Psychotherapeut in Münster. Sie haben 51 Autoren verschiedener Fachrichtungen aus Wissenschaft und Praxis für ihr ebenso wichtiges wie gewichtiges Handbuch gewonnen:

Meinrad Matthäus Armbruster; Prof. Dr., Dipl.-Psych., FB Sozial- und Gesundheitswesen, FH Magdeburg-Stendal

Dirk Bange, Dr., Dipl.-Päd., wiss. Mitarb. b.d. Beh. f. Schule, Jug. und Berufsbild., Hamburg

Verena Bartels, Psychol. Psychotherapeutin, Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern, Mannheim-Süd

Doris Bender, Dr., Diplom-Psychologin, Psychol. Institut, Universität Erlangen-Nürnberg

Hanspeter Bernhardt, Dipl.-Psych., Mediator BAFM, freiberufliche Praxis in München

Renate Blum-Maurice, Sozialwissenschaftlerin, Familien- und Kindertherapeutin im Kinderschutz-Zentrum Köln

Gisela Braun, Dipl.-Päd., AG Kinder- und Jugendschutz, Nordrhein-Westfalen, Köln.

Kai-D. Bussmann, Dr., Prof. für Strafrecht und Kriminologie, Univ. Halle-Wittenberg

Christoph Butterwegge, Prof. Dr., Seminar für Sozialwissenschaften, Universität Köln

Chnstiane Deneke, Dr., Oberärztin an der Kinder- und Jugendpsychiatr. Univ.-Klinik Hamburg-Eppendorf

Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht, Erfurt

Torsten Feddeler; Diplom-Pädagoge, Algermissen.

Tilmann Fürniss, Prof. Dr., Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatr. Univ.klinik Münster

Gabriele Gloger-Tippelt, Prof. Dr., Erziehungswissenschaftliches Institut Univ. Düsseldorf

Johannes Gröll, Prof. Dr., Pädagogische Fakultät der Universität Bielefeld

Jochen Hardt, Priv.-Doz., Dr., Univ.-Klinik für Psychosom. Medizin/Psychotherapie, Mainz

Luise Hartwig, Prof. Dr., Diplom-Pädagogin, FH Münster, FB Sozialwesen

Ute Heidelbach, Diplom-Sozialarbeiterin, Sozialer Dienst Osnabrück

Gregor Hensen, Dipl.-Päd., Dipl.-Soz.päd., wiss. Mitarb. im Inst. f. soziale Arbeit, Münster.

Bernd Herrmann, Dr., Facharzt f. Kinder- und Jug.medizin, Kinderklinik Kassel

Erwin Jordan, Dr. phil. habil., Lehreinheit Erziehungswiss., Universität Münster

Friedrich Kassebrock, Psychologischer Psychotherapeut, Beratungsstelle Bethel, Bielefeld.

Heinz Kindler, Dr., Deutsches Jugendinstitut e.V., München.

Monika Klinkhammer; Dr., Dipl.-Päd., Supervisorin und Gestalttherapeutin, Bonn.

Ursula Klotmann, Dipl.-Päd., Familientherapeutin, Supervisorin, Neustadt/Weinstraße.

Gabriele Koch, Dipl.-Psych., Inst. f. Fortbild., Forschung und Entwicklung, FH Potsdam

Lilith König, Dipl.-Psych., Erziehungswiss. Inst. Universität, Düsseldorf

Renate Libal, Fachärztin f. Offentl. Gesundheitswesen, Pirmasens.

Friedrich Lösel, Prof. Dr., Dipl.-Psych., Inst. f. Psychologie, Univ. Erlangen- Nürnberg

Christiane Ludwig-Körner; Prof. Dr., Inst. f. Fortbild., Forschung und Entwickl. FH Potsdam

Günter Machann, Dr., Dipl.-Päd. H.U.G.O Verein f. ambul. Erziehungshilfen, Berlin

Franz Moggi, Dr., Fachpsychologe f. Psychotherapie, Universitäre Psychiatr. Dienste Bern

Celine Nanzel; Dipl.-Sozialarb., Mediatorin , freiberufliche Praxis in Bern

Sabine Nowara, Prof. Dr., Dipl.-Psych., Institut f. Rechtspsychologie, Waltrop

Gunter A. Pilz. Prof. Dr., Inst. f. Sportwiss. der Universität Hannover

Martin Poss, Diplom-Sozialpädagoge, Familientherapeut, Berlin.

Wolfgang Raack, Dr., Direktor des Amtsgerichts Kerpen

Barbara Rebe, Dipl.-Psych., H.U.G.O. Verein f. ambul. Erziehungshilfen, Berlin.

Wulfhild Reich, Dipl.-Päd., Jug.amt Stuttgart, Dienststelle Qualität und Qualifizierung

Helga Rühling, Psychol. Psychotherapeutin, Beratungsstelle Bethel

Runheide Schultz, Dipl.-Soz.arb., Interdisz. Arb.gem. Kindeswohlgefährdung Hannover

Beate Severin, Diplom-Pädagogin, Algermissen.

Andreas Striebich, Dipl.-Psych., Berliner Institut f. Familientherapie, Berlin

Sigrid Tschöpe-Scheffler, Prof. Dr., Fak. f. Angewandte Sozialwiss. der FH Köln

Franziska Vogt-Sitzler, Psychol. Psychother., Kinder- und Jug.psychotherapeutin, Bremen

Sabine Wagenblass, Dr., Dipl.-Päd., wiss. Mitarb. im Inst. f. soziale Arbeit, Münster

Ece Wendler, Dipl.-Psych., Gesprächs- und Familientherapeutin, Beratungsstelle  Stuttgart.

Annegret Werner, Dipl.-Päd., Deutsches Jugendinstitut e.V., München.

Reinhard Wiesner, Prof. Dr. Dr., Bundesmin. f. Fam., Senioren, Frauen und Jug., Berlin

Michael Winkler; Prof. Dr., Inst. f. Erz.wiss. Universität Jena

Martin Zobel, Dr., Psychol. Psychotherapeut, Wiss. Mitarb. der Kliniken Daun/Eifel;  Rhein. Inst. f. angew. Suchtforschung Koblenz

In ihrem Vorwort stellen sich die Herausgeber folgende Aufgabe:
   "Nachdem der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach vorangegangener fast völliger Tabuisierung in den letzten 20 Jahren zu Recht in Öffentlichkeitsarbeit und Forschung sowie bei Diagnostik, Therapie und Prävention sehr stark im Vordergrund stand, erscheint es heute dringend notwendig, wieder eine Integration der (sich ganz überwiegend überlagernden) verschiedenen Formen der Kindesmisshandlungen und der gewaltförmigen Beziehungen gegenüber Kindern und Jugendlichen (körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, seelische Gewalt, Vernachlässigung, erlebte Gewalt unter den Eltern, Gewalt in der Schule) darzustellen. Parallel dazu haben sich in den letzten 15 Jahren (auch als Folge einiger Gerichtsurteile und eines gewachsenen Drucks der Öffentlichkeit im Rahmen von Kindeswohlgefährdungen) die Anforderungen und Aufgabenstellungen an die in Jugendhilfe und Kinderschutz Tätigen qualitativ und quantitativ stark erhöht.
     In diesem Zusammenhang schien uns ein Standardwerk über alle Formen der Kindesmisshandlung zu fehlen, das die verschiedenen Strömungen, Professionen und Praxisfelder zusammenfassend darstellt. Diese Lücke versuchen wir mit dem vorliegenden Handbuch zu füllen."

Das Inhaltsverzeichnis annonciert 45 Beiträge:

I. Teil: Geschichte der Kindesmißhandlung

1.   Gewalt gegen Kinder in der Geschichte - Dirk Bange

2.   Geschichtlicher Abriss zur Kindesmisshandlung und Kinderschutzarbeit von
     C. H. Kempe bis heute - Tilman Fürniss

II. Teil:  Formen, Häufigkeiten und Folgen von Kindesmisshandlungen

3.   Formen und Häufigkeiten der Kindesmißhandlung - Günther Deegener

4.   Häufigkeiten unterschiedlicher Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend sowie
     Beziehungen zum psych. Befinden im Erwachsenenalter - Renate Libal & G. Deegener

5.   Folgen von Kindesmisshandlung: Ein Überblick - Franz Moggi

6.   Auswirkungen von Partnerschaftsgewalt auf Kinder: Forschungsstand und
     Folgerungen für die Praxis - Heinz Kindler & Annegret Werner

7.   Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom - Sabine Nowara

8.   Misshandlung und Vernachlässigung durch psychisch kranke Eltern
     - Christiane Deneke

9.   Misshandlung und Vernachlässigung durch süchtige Eltern - Martin Zobel

10. Individuelle und strukturelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit einer
     Behinderung - Friedrich Kassebrock & Helga Rühling

11. Kindesmisshandlung und Vernachlässigung in Migrantenfamilien - Ece Wendler

12. Gewalt und Gewaltprävention in der und durch die Schule - Gunter A. Pilz

13. Kinderarbeit - Franz Josef Düwell

III. Teil: Erziehung, Gewalt und Recht

14. Das erzieherische Gewaltverhältnis und Kindesmißhandlung - Johannes Gröll

15. Verbot elterlicher Gewalt gegen Kinder - Auswirkungen des Rechts auf gewaltfreie
     Erziehung - Kai-D. Bussmann

16. Rechtliche Konsequenzen des neuen Rechts auf gewaltfreie Erziehung
     - Kai-D. Bussmann

17. Kindeswohl und Kindeswille -Interessenvertretung des Kindes - Wolfgang Raack

18. Rechtliche Grundlagen der Intervention bei Misshandlung, Vernachlässigung und
     sexuellem Mißbrauch - Reinhard Wiesner

IV. Teil: Bedingungen und Ursachen der Kindesmisshandlung

19. Erziehungsstile und kindliche Entwicklung: entwicklungshemmendes versus
     enwicklungsförderndes Erziehungsverhalten - Sigrid Tschöpe-Scheffler

20. Misshandlung von Kindern: Risikofaktoren und Schutzfaktoren - Doris Bender &
     Friedrich Lösel

21. Bindungsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Misshandlungs- und
     Missbrauchserfahrung - Gabriele Gloger-Tippelt & Lilith König

V. Teil: Handlungskonzepte bei Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und
             sexuellem Missbrauch

22. Forschungsstand zur Intervention - Jochen Hardt

23. Verfahren zur Einschätzung der Gefahr zukünftiger Misshandlung bzw.
     Vernachlässigung: ein Forschungsüberblick - Heinz KindIer

24. Kooperation der verschiedenen Dienste bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung
     und sexuellem Mißbrauch - Meinrad Armbruster & Verena BarteIs.

25. Geschlechtsspezifische Hilfen bei Kindesmißhandlung - Luise Hartwig

26. Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) im sozialpädagogischen Handlungsfeld von
     Kindesmisshandlung, sexuellem Missbrauch und Vernachlässigung - Ute HeideIbach

27. Medizinische Diagnostik bei Kindesmißhandlungen -  Bernd Herrmann

28. Psychosoziale Diagnostik von Kindesgefährdung - Runheide Schultz

29. Qualifiziertes Erkennen und Beurteilen - vom Aktenvermerk zum qualifizierten
     Beobachtungskatalog - Erwin Jordan

30. Erkennen - Bewerten - Handeln, ein Diagnoseinstrument bei Kindeswohlgefährdung:
     der Stuttgarter Kinderschutzbogen - WulfhiId Reich

31. Inobhutnahme als sozialpädagogische Krisenintervention - Gregor Hensen

32. Ressourcenfindung in der Arbeit mit vernachlässigenden Familien - (un)möglich in der
     Sozialpädagogischen Familienhilfe? - Martin Poss

33. Familienaktivierung - Torsten FeddeIer & Beate Severin

34. Aufsuchende Familientherapie im Kinderschutz - Günter Machann,
     Barbara Rebe
& Andreas Striebich

35. Konzepte der Erziehungsberatung bei elterlicher Gewalt - Wilhelm Körner & Franziska
     Vogt-Sitzler

36. Familien-Mediation im Kinderschutz - Hanspeter Bernhardt & Céline Nanzer

37. Die Kinderschutz-Zentren - Konzept und Praxis hilfeorientierten Kinderschutzes -
     Renate Blum-Maurice :

38. Betreuter Umgang als Maßnahme des Kinderschutzbundes bei der Indikation familiärer
     Gewalt - Ursula Klotmann & Monika Klinkhammer

39. Stationäre Erziehungshilfen und Pflegefamilien als neuer Lebensort - Michael Winkler

VI. Teil:  Prävention

40. Prävention und Intervention in der frühen Kindheit - Christiane Ludwig-Körner
     Gabriele Koch.

41. Soziale Frühwarnsysteme - frühe Hilfen für Kinder und Familien - Sabine Wagenblass

42. Innovative Formen der Stärkung der Elternkompetenz: Elternbriefe, Elternkurse,
     Elternbildung - Sigrid Tschöpe-Scheffler & Günther Deegener

43. Zwei Elternkurse: 'Starke Eltern - Starke Kinder'und 'Triple P': Darstellung, Vergleich
     und kritische Auseinandersetzung - Günther Deegener & Sigrid Tschöpe-Scheffler

44. Prävention gegen sexuellen Missbrauch an Kindern - Gisela Braun

45. Familien- und Sozialpolitik gegen Kinderarmut - Christoph Butterwegge 

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Sachwortverzeichnis  [12 Seiten à 3 Spalten!]
 

Da es aussichtslos wäre, über alle Beiträge referieren zu wollen, wird hier das 39. Kapitel über stationäre Erziehungshilfen und Pflegefamilien von Michael Winkler herausgegriffen, weil es inhaltlich die Interessen unserer Leserschaft am besten trifft und in Form und Inhalt die Qualität der übrigen Beiträge recht gut repräsentiert.

Nachdrücklich weist der Autor auf den hohen Anteil vernachlässigter, mißhandelter und mißbrauchter Kinder im Klientel der Jugendhilfe hin:
     "In ihrer für den 10. Kinder- und Jugendbericht erstellten und in diesen aufgenommenen Expertise errechnen Schilling und Krahl für die im Rahmen von Jugendhilfeangeboten betreuten Minderjährigen, dass bei rund 87.000 Kindern unter zwölf Jahren schwerwiegende Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung zu vermuten sind, die in die Nähe von Vernachlässigung oder Gewalterfahrung führen; nach den Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik hat jedes 125. Kind unter zwölf Jahren Ablehnung, Vernachlässigung oder Gewalt erlebt. Dieser Befund erhellt das Dunkelfeld, denn 'die Kinder- und Jugendhilfestatistik weist damit auf eine deutlich höhere Zahl hin als die polizeiliche Kriminalstatistik' (Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 1998, S. 112). .... Trotz aller Unsicherheit über die Zahl der Betroffenen kann man davon ausgehen, daß Kinder vor ihrer Fremdplazierung vernachlässigt oder mißhandelt waren." (S. 712/713)

Er stellt nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Intensität der Schädigungen heraus:
     "Nicht nur eher literarisch angelegte Zeugnisse zeigen ein erschreckendes Maß an Traumatisierung .... Aus dieser Situation entstehen physisch-gesundheitliche Belastungen wie psychische Deprivationen, die nicht selten in die Nähe psychiatrisch zu diagnostizierender Symptome führen; legt man Befunde der Gehirnforschung und der Entwicklungspsychologie zu Grunde, muss man als Folge früher Vernachlässigung und massiver Misshandlung davon ausgehen, dass Schädigungen auch der neuronalen Entwicklung eingetreten sind." (S. 716/717)

Leider zieht Winkler keine praktischen Konsequenzen aus diesen alarmierenden Befunden, aber er erkennt durchaus die begrenzten Möglichkeiten ambulanter Hilfen:
     "Auf der einen Seite steht die Einsicht in die Möglichkeit einer so weit 'verwirkten Elternschaft' (vgl. Faltermeier, 2001), dass 'therapeutische und sozial unterstützende Hilfen für Familien mit einer langen Geschichte von Misshandlungen und/oder schwerwiegender Vernachlässigung [...] keineswegs immer erfolgreich sind. [...] Die schwerwiegende Traumatisierung eines Kindes bei hohem Wiederholungsrisiko verlangt fast immer eine dauernde Fremdunterbringung. Der Verbleib oder auch die Rückführung des Kindes in seine eigene Familie kann in solchen Fällen nur unter besonders zu begründenden Umständen und mit sehr spezifischer Unterstützung [...] ins Auge gefasst werden' (
Zenz, 2000). ..... So hat die Hilfe-Orientierung des KJHG auch dazu geführt, 'den weiterbestehenden Auftrag zur Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes für das Kind zu vernachlässigen. Konkret: die Notwendigkeit von Kontrolle in Verbindung mit Hilfe oder auch von weitergehenden Eingriffen zum Schutz von gefährdeten Kindern (Herausnahme aus der Familie) wird häufig zu spät oder gar nicht erkannt' (Zenz, 2000). (S. 713/714)

Die Vorteile der Pflegefamilie charakterisiert der Autor wie folgt:
"Sie [die Familienorientierung] hat einerseits dazu geführt, in der Regel die nur mühsam verständliche Situation eines objektiv organisierten Lebenszusammenhangs in einer Institution vermeiden zu wollen und für misshandelte und missbrauchte Kinder eher Pflegefamilien oder familienähnliche Lebenszusammenhänge als neuen Ort anzubieten. Die jüngere Forschung zur Situation von Pflegekindern bestätigt dies auch für höhere Altersgruppen. Pflegefamilien sind demnach in der Lage, die Kinder im Prozess der Bildung sowohl von Identität wie auch von Autonomie zu fördern, ihnen dabei Bindungs- wie Ablösungsmöglichkeiten anzubieten. Voraussetzung scheint zu sein, dass die Pflegefamilien selbst in Netzwerke und außerfamiliale Milieus eingebettet sind, die den Kindern und Jugendlichen gleichsam Ankermöglichkeiten eröffnen (Hildenbrand, 2003)." (S. 720)

Im folgenden warnt er vor Angeboten, die Familienstrukturen nur imitieren:
     "Ein zweites Dilemma besteht darin, dass vernachlässigte und misshandelte Kinder einen hohen Bedarf an kontinuierlichen, qualitativen tragfähigen Bindungen haben, die sie als exklusiv und langfristig gesichert erleben können - auch wenn sie diese selbst häufig radikal in Frage stellen, um Enttäuschungen zu entgehen (
Malter, 2001). Zugleich aber rufen insbesondere familienähnliche Unterbringungsangebote mit ihren als-ob-Strukturen Enttäuschungen hervor, weil sie nahezu zwangsweise die Ersetzbarkeit von Kindern und Betreuern verdeutlichen (vgl. Bühler-Niederberger & Niederberger, 1988; Winkler, 2003): Heime leiden unter dem Strukturfehler eines organisierten Verrats, der aber durch exklusive Verantwortung kompensiert werden kann (Liegel, 1992)." (S. 722)

Eine weitere Forderung Winklers kann ein bindungstheoretisch orientiertes Heim mit zuverlässigen Beziehungsangeboten wahrscheinlich besser erfüllen als eine bemühte, aber durch massiv-destruktive Symptome irritierbare Pflegefamilie (es sei denn, sie wird sorgfältig psychologisch begleitet und steht in kontinuierlichem Erfahrungsaustausch mit anderen Pflegeeltern):
     "Systematische Forschung wie Erfahrungsberichte unterstreichen, dass für vernachlässigte, misshandelte und missbrauchte Kinder wie Jugendliche das Gefühl sicherer Beziehungen und die Chance zum Aufbau sicherer Beziehungen entscheidend sind, um ihre Traumata zu überwinden und erfolgreich Identität wie Autonomie zu gewinnen. Gleichwohl muss der Lebenszusammenhang hier sehr sorgfaltig, vor allem strapazierfähig, gestaltet werden. Es müssen Beziehungen entstehen, in welchen sich die Kinder selbst aushalten; sie müssen Sicherheit und Bindung erleben, mit diesen experimentieren können, sie sogar infrage stellen dürfen, ohne sie zu verlieren." (S. 724)

Die bereits angemerkte geringe Gewichtung der neuropsychologischen Forschung und die damit einhergehende Unterbewertung der therapeutischen zugunsten der pädagogischen Aufgaben durchzieht das ganze Buch. Sucht man im Sachwortverzeichnis nach dem Stichwort 'Traumaforschung', findet man nur eine Seitenangabe und dort nur folgende Vertröstung:
     "Die Themen, mit denen die Kinderschutz-Zentren sich auf diesem Hintergrund zurzeit beschäftigen, sollen hier nur stichwortartig genannt werden, können aber sicher in kommenden Publikationen vertieft werden.
     In der therapeutisch-beraterischen Arbeit spielt die Rezeption der neueren Erkenntnisse der Bindungsforschung und der neurobiologisch begründeten Traumaforschung eine besondere Rolle, die möglicherweise auch eine neue Auseinandersetzung mit den Prinzipien hilfeorientierten Handelns mit sich bringen (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren, 2003)." (S. 678)

Im übrigen aber werden alle die schwierigen Probleme der Kindesmißhandlung und Vernachlässigung gründlich und sehr praxisnah behandelt. Die zahlreichen Hilfsdienste und Institutionen, die mit vernachlässigten, mißhandelten und mißbrauchten Kinder zu tun haben, werden um die Anschaffung dieses informativen Handbuchs kaum herumkommen.

Kurt Eberhard  (April, 2005)

 

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