FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 


Joachim Bauer

Warum ich fühle, was du fühlst

Intuitive Kommunikation

und das Geheimnis der Spiegelneurone

Hoffmann und Campe, 2005

(192 Seiten, 19.95 Euro)

Prof. Dr. Bauer ist Internist, Psychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Hochschullehrer für Psychoneuroimmunologie am Universitätsklinikum Freiburg. 1996 erhielt er den Organon-Forschungspreis. Die Motive zu seinem Buch werden im Klappentext wie folgt skizziert:
»Warum können wir uns intuitiv verstehen, spontan fühlen, was andere fühlen, und uns eine Vorstellung davon machen, was andere denken? Die Erklärung dieser Phänomene liegt in den Spiegelneuronen, die erst vor kurzem entdeckt wurden. Sie ermöglichen uns emotionale Resonanz mit anderen Menschen, versorgen uns mit intuitivem Wissen über die Absichten von Personen in unserer Nähe und lassen uns deren Freude oder Schmerz mitempfinden. Sie sind die Basis von Empathie, "Bauchgefühl" und der Fähigkeit zu lieben. Aber: sie müssen von Geburt an trainiert werden - und das hat erhebliche Konsequenzen für alle Lebensbereiche«

Das Inhaltsverzeichnis kündigt an, daß zunächst die Funktionen der Spiegelneuronen und dann ihre Bedeutung auf verschiedenen Feldern der Wissenschaft und Praxis beschrieben werden:

  1. Resonanzphänomene des Alltags: warum ich fühle, was du fühlst
  2. Die neurobiologische Entdeckung: was Spiegelneurone leisten
  3. Wie sich das Kind in die Welt spiegelt und das Problem des Autismus
  4. Spiegelneurone und die Herkunft der Sprache
  5. Dein Bild in mir, mein Bild in dir: Spiegelung und Identität
  6. Spiegelsysteme mit Leidenschaft: Flirt und Liebe
  7. Der intersubjektive Bedeutungsraum: Soziale Gemeinschaft und sozialer Tod
  8. Umwelten für Jugendliche und die Chancen der Schule
  9. Spiegelneurone in der Medizin und Psychotherapie
  10. Beziehungsalltag und Lebensgestaltung: was sich von den Spiegelzellen lernen lässt
  11. Gene, Gehirn und die Frage des freien Willens
  12. Spiegelung als Leitgedanke der Evolution
    Anhang: Literatur, Personen- und Sachregister

Das zweite Kapitel ist das mit Abstand längste. In ihm werden gründlich und gut verstehbar die Forschungsergebnisse zur Physiologie und Psychologie der Spiegelneuronen dargestellt. Es endet mit folgender Zusammenfassung:
»Nervenzellen des Gehirns, die im eigenen Körper einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel eine Handlung oder eine Empfindung, steuern können, zugleich aber auch dann aktiv werden, wenn der gleiche Vorgang bei einer anderen Person nur beobachtet wird, heißen Spiegelnervenzellen bzw. Spiegelneurone. Ihre Resonanz setzt spontan, unwillkürlich und ohne Nachdenken ein. Spiegelneurone benutzen das neurobiologische Inventar des Beobachters, um ihn in einer Art inneren Simulation spüren zu lassen, was in anderen, die er beobachtet, vorgeht. Die Spiegelresonanz ist die neurobiologische Basis für spontanes, intuitives Verstehen, die Basis dessen, was als 'Theory of Mind' bezeichnet wird. Sie ist nicht nur in der Lage, bei der in Beobachterposition befindlichen Person Vorstellungen anzuregen, Gedanken und Gefühle hervorzurufen, sie kann unter bestimmten Voraussetzungen auch den biologischen Körperzustand verändern.«
(S. 55/56)

Am deutlichsten werden uns Funktionen, wenn sie nicht funktionieren. Die ausgeprägtesten Defekte der Resonanzfunktion zeigen sich im Autismus, der im dritten Kapitel behandelt wird:
»Schwierigkeiten, bei sich oder anderen Gefühle wahrzunehmen und diese zu spiegeln, nennen Fachleute Alexithymie. Schwere Störungen der emotionalen Resonanz werden, wenn sie krankhafte Züge annehmen, als Autismus bezeichnet. ....
     Die Defizite von Kindern und Erwachsenen, die an Autismus leiden, zeigen sich exakt im Bereich jener Fähigkeiten, die auf der Funktion der Spiegelneurone basieren. Erste Untersuchungen, zum Beispiel eine Studie von Hugo Theoret und Kollegen, zeigen, dass es sich um eine Störung der Spiegelsysteme handelt. Bereits im zweiten Lebensjahr zeigen autistische Kinder eine verminderte Fähigkeit, spontane Gesichtsausdrücke oder Gesten zu imitieren. Auch ist bei ihnen die Tendenz zur spontanen Ausrichtung der eigenen Aufmerksamkeit auf die der Bezugsperson (die 'joint attention') massiv vermindert. Autistische Kinder haben große Schwierigkeiten, sich in die Sicht und die Lage anderer zu versetzen und deren Perspektive zu reflektieren. Ihr Vermögen, die Gefühle von Mitmenschen zu erkennen und zu berücksichtigen, ist stark beeinträchtigt, und sie haben ernste Probleme mit der Fähigkeit, eine 'Theory of Mind' zu entwerfen. ....
     Tatsächlich kompensieren zahlreiche autistische Kinder - und dies ist auch ein Kennzeichen mancher autistischer Erwachsener - ihre Defizite im intuitiven Verstehen zwischenmenschlicher Situationen, indem sie eine hochkomplexe analytische Intelligenz ausbilden, mit der sie, wenn auch umständlich und zeitverzögert, 'ausrechnen', was andere spontan erfassen.
     Vieles spricht dafür, dass der autistischen Störung eine Funktionseinschränkung verschiedener Spiegelneuronensysteme zu Grunde liegt. Allerdings ist unklar, ob es sich um eine primäre Dysfunktion im Bereich der biologischen Grundausstattung handelt oder ob autistische Kinder in den Monaten nach ihrer Geburt, warum auch immer, weniger Gelegenheit zu wechselseitiger spiegelnder Kommunikation hatten. Es ist möglich, dass beides eine Rolle spielt, so wie dies auch bei einigen anderen neuropsychiatrischen Syndromen der Fall ist. Minimale Defizite in den biologischen Anlagen können es den Bezugspersonen erschweren, spiegelnden Kontakt zu ihrem Säugling zu finden, und umgekehrt erleiden die angeborenen Spiegelsysteme einen entscheidenden frühen Trainingsausfall, wenn sie nicht in Funktion treten können.« (S. 72-74)

Ebenso interessant und lehrreich sind die anderen Unternehmungen des Autors, die vielfältigen Bedeutungen der Spiegelneuronen zu demonstrieren. Das letzte Kapitel, das bemerkenswerte Hypothesen zur evolutionstheoretischen Relevanz der Spiegelneuronenforschung enthält, endet mit folgendem Absatz:
»Angesichts der vielfältigen Spiegelungsphänomene, die von der DNA bis zum Menschen reichen, könnte man daran denken, Spiegelung und Resonanz als das Gravitationsgesetz lebender Systeme zu bezeichnen. 'Survival of the fittest' ist möglicherweise nicht das einzige Leitprinzip der Evolution, sondern wäre zu ergänzen durch ein weiteres, eigenständiges biologisches Kernmotiv: die Suche nach Passung, Spiegelung und Abstimmung zwischen biologischen Systemen. Aus Letzterem haben sich die differenzierten, intuitiven kommunikativen Phänomene entwickelt, die wir beim Menschen beobachten können. Zumindest für den Menschen gilt: Nicht dass wir um jeden Preis überleben, sondern dass wir andere finden, die unsere Gefühle und Sehnsüchte binden und spiegelnd erwidern können, ist das Geheimnis des Lebens.« (S.173)

Bilanzierende Bewertung:
Joachim Bauer ist zu danken, daß er die weitverstreuten empirischen Befunde zur Spiegelneuronenforschung aufgesucht, souverän gebündelt und auf sehr lesbare Art dargestellt hat. Vor allen Dingen ist er nicht der naheliegenden Gefahr der einseitigen Biologisierung psychischer Resonanzphänomene erlegen. Er ist und bleibt mitfühlender Psychotherapeut. Sein Buch kann allen Lesern empfohlen werden, denen an einer empirisch-naturwissenschaftlichen Sicht zentraler, für die soziale Praxis höchst bedeutungsvoller seelischer Basalfähigkeiten gelegen ist.

Kurt Eberhard  (August, 2005) 

 

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