FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 


Daniel J. Siegel

Wie wir werden die wir sind

Neurobiologische Grundlagen
subjektiven Erlebens
und die Entwicklung des Menschen
in Beziehungen

Junfermannnsche Verlagsbuchhandlung, 2006
(416 Seiten, 39.90 Euro)


Daniel J. Siegel ist Kinderarzt und Kinderpsychiater und z.Z. als Professor der Psychiatrie an der University of California in Los Angeles tätig.

Über den Aufbau und Inhalt des vorliegendes Werkes heißt es in der Einleitung:
»Das Buch besteht aus zwei generellen Arten von Informationen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen werden so zusammengefaßt und zu einer Synthese verbunden, daß eine Verständnisgrundlage für eine 'interpersonale Neurobiologie' des sich entwickelnden Geistes entsteht. Durch diese wissenschaftliche Grundlage entsteht eine neue interdisziplinäre Synthese fundierten Wissens. Aus diesem Verständnisrahmen lassen sich dann konzeptuelle Implikationen und neue Hypothesen ableiten, die sich aus den vorgestellten Forschungsresultaten, klinischen Fakten und Synthesen der Erkenntnisse verschiedener Disziplinen ergeben.
     Jedes Kapitel des Buches beschäftigt sich mit einem wichtigen Bereich menschlichen Erlebens: Gedächtnis/Erinnern, Bindung, Emotion, Repräsentation, Geisteszuständen, Selbstregulation, interpersonaler Verbundenheit und Integration. Durch die Darstellung der Informationen in der angegebenen Reihenfolge erhalten wir die Möglichkeit, in den Erörterungen über Gedächtnis/Erinnern und Bindung einen Überblick darüber zu gewinnen, wie Erleben den Geist formt, bevor wir uns den damit verwandten Themen Emotion und Repräsentation zuwenden. Die komplizierteren Prozesse der mentalen Zustände und komplexen Systeme schließen sich ganz natürlich an und bereiten uns auf eine eingehende Auseinandersetzung damit vor, wie der Geist die Fähigkeit entwickelt, in den Bereichen der Selbstregulierung, der Muster interpersonaler Verbundenheit und mentaler Integration funktionsfähig zu werden.« (S.18/19)

Dementsprechend lauten die Kapitelüberschriften:

1. Einleitung: Geist, Gehirn und Erleben
2. Gedächtnis und Erinnern
3. Bindung
4. Emotionen
5. Repräsentationen: Verarbeitungsmodi und die Konstruktion der Realität
6. Mentale Zustände: Kohäsion, subjektives Erleben und komplexe Systeme
7. Selbstregulierung
8. Interpersonale Verbundenheit
9. Integration

Die ersten Kapitel sind interdisziplinär recherchierte Mosaiksteine für eine übergreifende biopsychosoziale Synthese, wie sie sonst nirgends geboten wird.

Die folgenden Textproben stammen aus dieser synthetischen Zusammenschau:
»Die Fähigkeit, die Appraisal- und Arousal-Prozesse des Geistes zu regulieren, ist für die Selbstorganisation unverzichtbar. Deshalb ist die Emotionsregulierung eine so zentrale Fähigkeit, und Menschen entwickeln sie in ihrer frühen Kindheit in dyadischen Beziehungen. Bindungsstudien deuten darauf hin, daß interpersonale Kommunikation, die die autonome Selbstregulierung fördert, mit gesunder Abhängigkeit beginnt. In Beziehungen dieser Art sind die beteiligten Erwachsenen sensibel für die Signale des Kindes, die Kommunikation ist kontingent, und reflexiver Dialog ermöglicht es dem Kind, Kohärenz und die Fähigkeit zur Mentalisierung zu entwickeln. Die Selbstorganisationsfähigkeit entsteht im Rahmen von Erlebnissen interpersonalen emotionalen Einklangs. In emotionaler Hinsicht steht im Zentrum von Bindungsbeziehungen die Verstärkung gemeinsam erlebter positiver und die Verringerung negativer affektiver Zustände. Durch das Erleben dieser dyadischen Zustände lernt das Kind, stärkere emotionale Intensitäten und gemeinsame affektive Kommunikation auszuhalten. .....
     Durch eine starke Verödung (pruning) der kortikolimbischen Strukturen kann die Fähigkeit des Gehirns, Erregungszustände zu modulieren, stark beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist es für die Betroffenen oft nützlich, wenn sie lernen, neokortikale Verstandesfähigkeiten zu nutzen, um anfängliche dysregulierend wirkende Reaktionen zu beobachten und dann adäquat zu intervenieren. Was bedeutet dies? Wenn Menschen den Bereich ihres Toleranzfensters verlassen, büßen sie die Fähigkeit, rational zu denken, ein. Diese anfängliche Reaktion zu verändern kann schwierig sein, wenn sie in den Schaltkreisen tiefer Hirnstrukturen verankert ist, beispielweise in jenen der Amygdala, die schon früh im Leben enkodiert werden. Doch vermag der Neokortex, diese Reaktionen außer Kraft zu setzen und das Erregungsniveau der tieferen Strukturen auf ein erträglicheres Maß zu senken. Dies ist mit Hilfe verschiedener Selbstgesprächsstrategien möglich, die sich bildlicher Vorstellungen, des inneren Dialogs und evokativer Erinnerungen (beispielsweise der Evokation des beruhigend wirkenden Bildes einer Bindungsfigur) bedienen. Im Laufe der Zeit und bei geduldiger Übung läßt sich so die Häufigkeit und Intensität der Ausbrüche in den 'niederen Modus' außerhalb des Toleranzfensters liegender reflexartiger Zustände deutlich verringern und die für den Wiederherstellungsprozeß erforderliche Zeitspanne verkürzen.« (S. 302 - 304)

Die nun folgenden Ausführungen erinnern sehr an die Kommunikationskultur der Aktionsforschung, in der es ebenfalls darauf ankommt, statt eines Kompromisses zwischen Individualität und Kollektivität eine komplexe Synthese höherer Ordnung zu finden:
»Innere Prozesse und interpersonale Beziehungen, welche die Differenzierung von Subkomponenten und die Integration eigenständiger Komponenten nach sich ziehen, sind einer gesunden und anhaltenden intrapersonalen und interpersonalen Entwicklung förderlich. An dieser Stelle erscheint mir der Vergleich mit einem Chor passend. Im einen Extremfall singt jedes Chormitglied völlig unabhängig von den anderen sein eigenes Lied. Die Kakophonie, die dadurch entsteht, ist dem nicht erfolgten Zusammenschluß der einzelnen Chormitglieder zu einem funktionellen Ganzen zuzuschreiben. ..... Im anderen Extremfall jedoch entsteht durch die Abstimmung aller Sänger aufeinander nichts weiter als eine Verstärkung der von allen Beteiligten gespiegelten Klänge. Deshalb mag das vorgetragene Musikstück zwar wohltuend (und laut) klingen, doch trägt es nichts zur Maximierung der Komplexität bei, die möglich wäre, wenn eigenständige Sänger sich zu einem von Resonanz geprägten Integrationsprozeß zusammenfinden würden. Weder durch Unabhängigkeit noch durch Nachahmung entsteht Komplexität. Wenn jeder einzelne Sänger über gut entwickelte individuelle Fähigkeiten verfügt, ermöglicht die Integration allen zusammen, zu einem funktionellen Ganzen beizutragen, das sich einerseits durch Kontinuität und Ebenmaß und andererseits durch Flexibilität und Spontaneität auszeichnet. ..... Diese reziproken und kooperativen Prozesse sind möglicherweise charakteristisch für die gesunde anhaltende Entwicklung des individuellen Geistes, dyadischer Beziehungen und nährender Gemeinschaften.« (S. 338/339)

Im letzten Abschnitt des Buches betont der Autor noch einmal die Verflechtung intra- und interpersonaler Kommunikation und ihre neurobiologischen Grundlagen sowie die zentrale Bedeutung autobiographischer Erzählungen - ohne zu merken, wie sehr er damit in die Nähe psychoanalytischer Erkenntnisse gerät.
»Auf Kohärenz hinzuarbeiten, ist eine Lebensaufgabe. Deshalb ist Integration ein Prozeß, kein irgendwann endgültig erreichtes Resultat. Integration gleicht eher einem Verb als einem Substantiv. Vielleicht sollte man den Prozeß der Integration besser als eine Form von Resonanz verstehen, definiert als die wechselseitig einander beeinflussenden Interaktionen von zwei oder mehr relativ unabhängigen und differenzierten Wesenheiten. Diese Resonanz ermöglicht es zwei Systemen, die Aktivitäten des jeweils anderen zu verstärken und zu co-regulieren. Im Geist eines Menschen fördert die Integration das spontane Fließen von Energie und Information im gesamten Gehirn. Diese Spontaneität ist nicht gleichbedeutend mit zufälliger Aktivierung, sondern beinhaltet den flexiblen Einfluß verschiedener Prozeßschichten aufeinander. Im Gegensatz dazu erzeugen Muster unsicherer Gebundenheit Inkohärenz, insofern die Anpassung an unzulängliche elterliche Betreuung die Resonanzfähigkeit der Betroffenen - sowohl innerhalb ihres eigenen Geistes als auch hinsichtlich des Austauschs mit dem Geist anderer Menschen - stark eingeschränkt hat.
     Autobiographische Erzählungen können Integration oder Inkohärenz verdeutlichen. Eine kohärente Erzählung läßt eine Verbindung links- und rechtshemisphärischer Prozesse erkennen. Die interpretierende linke Hemisphäre folgt dem inneren Drang, das, was sie weiß, in Form einer Geschichte darzustellen. Ist der Zugang zu den Repräsentationsprozessen der rechten Hemisphäre eingeschränkt, wirkt die resultierende Erzählung inkohärent. Können die mentalisierenden, primär-emotionalen, somatosensorischen und autobiographischen Prozesse der rechten Hemisphäre genutzt werden, ist die linke Hemisphäre in der Lage, durch Integration einer kohärenten Lebensgeschichte 'Sinn zu erzeugen'. Bilaterale Integration fördert kohärente Narrationen.
     Die vielschichtige Resonanz kontingent kommunizierender dyadischer Zustände ermöglicht es Menschen, neue integrative Fähigkeiten zu entwickeln. Zwei Menschen treten durch den Fluß von Energie und Information beider Seiten beider Gehirne miteinander in Verbindung. Dieser Fluß verläuft in bestimmten Kommunikationsmustern. Wie an Bindungsbeziehungen zu beobachten ist, hängt die Entwicklung des Geistes von einer Grundlage kontingenter kollaborativer Kommunikation ab. Die Fähigkeit zur Integration von Kohärenz zu erwerben, entsteht durch dyadische Kommunikation. Emotionaler Einklang, reflektierender Dialog, Co-Konstruktion von Erzählungen, Memory-talk und die interaktive Wiederherstellung der Verbindung sind allesamt wichtige Elemente sicherer Gebundenheit und funktionsfähiger interpersonaler Beziehungen.
     Deshalb beinhalten Verbindungen zwischen zwei Menschen auf der Ebene des Geistes eine dyadische Form von Resonanz, bei der Energie und Information frei zwischen den Gehirnen beider Beteiligter fließen. Ist solch ein Prozeß voll aktiviert, entsteht ein überwältigendes Gefühl lebendiger Verbundenheit. Im Falle ungehinderter und vollentfalteter interpersonaler Kommunikation - wenn die geistige Verbindung zwischen beiden Beteiligten in voller Stärke hergestellt ist - manifestiert sich ein überwältigendes Gefühl der Unmittelbarkeit, Klarheit und Authentizität. In solchen herausragenden Augenblicken dyadischer Resonanz wird die Fähigkeit von Beziehungen, den Geist zu nähren und zu heilen, besonders deutlich. (S. 366/367)

Bilanzierende Bewertung:
Trotz seiner entschieden neurobiologischen Grundorientierung vermeidet Siegel den bei vielen seiner Kollegen obwaltenden naturwissenschaftlichen Reduktionismus und stellt seine weitreichenden interdisziplinären Kenntnisse in den Dienst einer überzeugenden Psychologie des Geistes. Clarice Kestenbaum von der Columbia University ist voll zuzustimmen:
»Diese erstaunliche Synthese aus Ergebnissen neurobiologischer Forschung und klinischem Sachverstand könnte der Diskussion über die Geist-Gehirn-Dichotomie für alle Zeiten ein Ende machen. Das Buch ist wundervoll aufgebaut und beschreibt äußerst gut lesbar die Gehirnentwicklung, die zerebrale Informationsverarbeitung, die Modelle verschiedener Gedächtnisfunktionen und die Bedeutung der Bindung für die menschliche Entwicklung. Außerdem erklärt Siegel, wie gesunde Beziehungen und psychotherapeutische Interventionen Menschen eine zweite Chance zur Neutralisierung der Wirkung dysfunktionaler Muster und unsicherer früher Bindungen eröffnen können. Das Buch eignet sich für alle im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Neurowissenschaften Tätigen, und es kann Studenten der Medizin und Ärzten in der Ausbildung zum psychiatrischen Facharzt ausgezeichnete Dienste erweisen.«

Kurt Eberhard  (März, 2006)

 

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