FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2001

 

Franz Petermann, Kay Niebank, Herbert Scheithauer (Hrsg):

Risiken in der frühkindlichen Entwicklung -

Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre

Hogrefe-Verlag, Göttingen, 2000 (79.- DM)

 


Die Entwicklungspsychopathologie ist in wenigen Jahren zum wichtigsten internationalen Forschungsfeld für die vielfältigen Störungen des Kindes- und Jugendalters gereift. Pädiater, Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker, Pädagogen und Sozialpädagogen arbeiten an gemeinsamen Untersuchungen oder tragen doch wenigstens ihre unterschiedlichen Erkenntnisse in einschlägigen Arbeitstagungen, Zeitschriften und Handbüchern zusammen. So auch im Sammelband von Petermann, Niebank und Scheithauer, dessen Inhaltsverzeichnis die Bandbreite der bearbeiteten Themen widerspiegelt:        

  1. Frühkindliche Entwicklung und Entwicklungsrisiken
    (Herbert Scheithauer, Franz Petermann und Kay Niebank)
  2. Grundzüge der Entwicklungspsychopathologie.
    (Kay Niebank, Franz Petermann und Herbert Scheithauer)
  3. Biopsychosoziale Risiken in der frühkindlichen Entwicklung: das Risiko- und Schutzfaktorenkonzept aus entwicklungspsychopathologischer Sicht.
    (Herbert Scheithauer, Kay Niebank und Franz Petermann)
  4. Pränatale Entwicklungsgefährdungen - Ergebnisse der Verhaltensteratologie.
    (Hans-Christoph Steinhausen)
  5. Ergebnisse der Bayerischen Entwicklungsstudie an neonatalen Risikokindern: Implikationen für Theorie und Praxis. (Dieter Wolke und Renate Meyer)
  6. Frühkindliche Risikofaktoren: Prognostische Bedeutung für die postnatale Entwicklung. (Kurt von Siebenthal und Remo H. Largo)
  7. Entwicklungsbiologie und Umwelt - genetisch bedingte Syndrome und Verhalten. (Gerhard Neuhäuser)
  8. Neuropsychologische Grundlagen der Entwicklungsstörungen.
    (Dietmar Heubrock und Franz Petermann)     
  9. Eltern-Kind-Beziehung und die Entwicklung von Regulationsstörungen.
    (Klaus Sarimski und Mechthild Papousek)
  10. Störungen der Kind-Umwelt-Interaktion und ihre Auswirkungen auf den Entwicklungsverlauf. (Beate Herpertz-Dahlmann und Helmut Remschmidt) 
  11. Das Verständnis für geistige Prozesse, die Mutter-Kind-Interaktion und die Entwicklung des Selbst. (Peter Fonagy)
  12. Das Temperament als Risikofaktor in der frühkindlichen Entwicklung.
    (Marcel R. Zentner)
  13. Zur Eltern-Kind-Beziehung und dem Entwicklungsstand von Risikokindern im Vorschulalter: Ergebnisse der Gießener Risikokinderstudie. (Ursula Pauli-Pott, Andreas Bäcker, Gerhard Neuhäuser und Dieter Beckmann)
  14. Der Einfluß der Eltern-Kind-Bindung auf die Entwicklung psychischer Gesundheit. (Peter Zimmermann, Gerhard Suess, Hermann Scheuerer-Englisch und Klaus E. Grossmann)
  15. Frühinterventionen und -präventionen im Säuglings-, Kleinkind- und frühen Kindesalter. (Herbert Scheithauer und Franz Petermann)
  16. Interventionen bei Schreibabies. (Dieter Wolke)
  17. Prävention bei Frühgeborenen: das "Vermont Intervention Program" (elternzentriertes Programm). (Klaus Sarimski)
  18. Präventives psychotherapeutisches Interventionsprogramm für Eltern nach der Geburt eines sehr kleinen Frühgeborenen - Ulmer Modell.
    (Karl-Heinz Brisch, Gesine Schmücker, Anna Buchheim, Susanne Betzler, Brigitte Köhntop und Horst Kächele)
  19. Das "Infant Health and Development Program" (kombinierte Intervention für Eltern und Kind) (Lisa Berlin, Jeanne Brooks-Gunn und Marie McCormick)
  20. Frühintervention bei sehr niedrigem Geburtsgewicht (kombinierte Intervention für Eltern und Kind) (Toyojiro Matsuishi, Kihei Maekawa und Yasuji Kamiya)
  21. Das "Houston Parent-Child Development Center"(Programm für sozioökonomisch benachteiligte Familien). (Dale L. Johnson)
  22. Das "Yale Child Welfare Project" (Programm für sozioökonomisch benachteiligte Familien) (Victoria Seitz)
  23. Das "Family Development Research Program" (Programm für sozioökonomisch benachteiligte Familien)  (Alice Sterling Honig)

Typisch für die Entwicklungpsychopathologie ist die gründliche Beachtung der psychosomatischen Wechselwirkungen. Im Einführungskapitel der Herausgeber heißt es dazu:

Dabei wird deutlich, daß Erfahrungen die Entwicklung der Hirnstrukturen beeinflussen, wie diese wiederum die Erfahrungen beeinflussen (Eisenberg, 1998).
Die Notwendigkeit, die biologische Reifung (z. B. Hirnentwicklung) mit der psychosozialen Entwicklung zu verknüpfen, wird beispielsweise deutlich an aktuellen Forschungsergebnissen zu den Folgen von Mißhandlung, Vernachlässigung und Mißbrauch im Kindesalter. Negative Erlebnisse dieser Art, insbesondere wenn sie wiederholt und/oder anhaltend auftreten, üben über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmark-Achse sowie über das Katecholaminsystem einen negativen Einfluß auf die Hirnentwicklung aus (De Bellis et al., 1999; Pollak et al., 1998). Eine erhöhte Kortisol- und Katecholaminausschüttung führt beispielsweise zu einem zunehmenden Verlust an Neuronen oder Verzögerungen in der Myelinisierung (De Bellis et al., 1999). Eine erhöhte Aktivität steroider Hormone und eine erhöhte Ausschüttung katecholaminerger Neurotransmitter beeinflussen Entwicklungsprozesse der neuronalen Migration, Differenzierung und der synaptischen Proliferation. De Bellis et al. (1999) konnten beispielsweise bei mißhandelten Kindern mit diagnostizierter Posttraumatischer Belastungsstörung mit Hilfe bildgebender Verfahren verkleinerte intracraniale und zerebrale Bereiche ermitteln.
Pollak, Cicchetti und Klorman (1998) fassen die Zusammenhänge zwischen kindlicher Mißhandlung, Emotionsentwicklung und Gedächtnis zusammen. Sie betonen die Defizite, die mißhandelte Kinder in ihrer Emotionsregulation aufweisen. Darüber hinaus zeigen diese Kinder eine Hypervigilanz gegenüber aggressiven Stimuli und weisen in ihrer sozial-kognitiven Informationsverarbeitung eine Tendenz auf, Stimuli als bedrohlich zu interpretieren.“

Als Anhänger und Praktiker der Bindungstheorie möchten wir besonders auf den Beitrag von Peter Zimmermann et al. hinweisen, in dem die Ergebnisse der Bielefelder und Regensburger Längsschnittstudien referiert werden:

„Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß anhand der Befunde aus den Längsschnittstudien deutlich wird, daß die Fähigkeit, wechselseitig zufriedenstellende Freundschaftsbeziehungen aufzubauen und soziale Kompetenz im Umgang mit Gleichaltrigen in der Kindheit zu entwickeln, direkt von der frühen Bindungsqualität beeinflußt wird oder aber mit einer jeweils aktuell sicheren Bindungsorganisation zusammenhängt. Die Bielefelder Studie zeigt deutlich, daß sich eine Kontinuität in der Beziehungsgestaltung als Eigenschaft des Individuums langsam von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, von der Eltern-Kind-Beziehung zu Freundschaften und Partnerschaften hin überträgt, jedoch ab dem Jugendalter ohne direkten signifikanten Zusammenhang zur frühkindlichen Bindungsverhaltensqualität. Die Bindungserfahrungen, wie Feinfühligkeit der Eltern, sagen durchaus die Partnerschaftsrepräsentation vorher (Grossmann et al., im Druck), was den Interaktionscharakter der Eltern-Kind-Beziehung betont. Da die Qualität von Gleichaltrigenbeziehungen ein guter Prädiktor für die Entwicklungsanpassung im weiteren Lebensverlauf ist (Bagwell, Newcomb & Bukowski, 1998), verdeutlichen diese Ergebnisse die Bedeutung der Bindungsorganisation als Richtungsweiser für die Entwicklung abweichender oder nicht abweichender Lebenspfade.“ (S. 313)

Auch die praktischen Konsequenzen kommen nicht zu kurz:

„Anders wird man vorgehen, wenn man zu dem Ergebnis kommt, daß das Kind in der Auseinandersetzung mit einer lieblosen Umgebung gelernt hat, sich selbst als nicht liebenswert und die Umwelt als feindselig wahrzunehmen. In diesem Falle wird ein soziales Trainingsprogramm alleine wenig hilfreich sein, fehlt es dem Kind doch weniger an sozialen Fertigkeiten als an einem realitätsangemessenen, internalen Arbeitsmodell seiner sozialen Wirklichkeit. Es würde sich also ein Interventionsprogramm anbieten, das entweder die Bereitstellung einer wertschätzenden und akzeptierenden Umgebung oder eine unverzerrte Wahrnehmung und Annahme einer solchen fördert (Suess, 1995). Die Mobilisierung neuer sozialer Ressourcen und Menschen, die dem Kind zugeneigt sind, unterstützen dies. Das Erlernen sozial-kompetenten Verhaltens und die Entwicklung einer realistischen sozialen Wahrnehmung wird aus bindungstheoretischer Sicht dann erleichtert, wenn die Wahrnehmung eigener Gefühle und der Umgang mit auch intensiven Gefühlen von Wut oder Angst innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung ermöglicht und gefördert wird, ohne daß dies zu Zurückweisung führt; dies kann mit effektiveren Interventionen, zum Beispiel bei aggressiven Kindern, verknüpft sein.“ (a.a.O. S. 319)

Eine vertrauensvolle Beziehung, in der ein seelisch und hirnorganisch traumatisiertes Kind Gefühle der intensiven Wut und Angst ohne Zurückweisung erleben und ausleben kann – das kann weder eine gut beratene, aber liebesunfähige Mutter noch ein gut geführtes, aber mit Schichtdiensterziehern arbeitendes Heim, sondern nur eine intensiv sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreute Pflegefamilie bieten!

Kurt Eberhard (Juni 01)

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