FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2007

 



Wolfgang Bergmann & Gerald Hüther

Computersüchtig
Kinder im Sog der modernen Medien

Walter Verlag, 2006
(164 Seiten, 18 Euro)

 

Die Autoren:
Wolfgang Bergmann
ist Dipl.-Erziehungswissenschaftler und leitet das »Institut für Kinderpsychologie« in Hannover.
Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen. Beide sind sehr erfahrene und erfolgreiche Wissenschaftspublizisten.

Das Anliegen des Buches:
»Sie sitzen Tag und Nach vor ihrem PC, übermüdet, unternährt, vergessen die Freunde, die Schule und sogar sich selbst: computersüchtige Kinder. Wer ist besonders gefährdet, und wann beginnt die Sucht? Zwei deutschlandweit renommierte Experten, der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann und der Hirnforscher Gerald Hüther, erklären die Ursachen der Zeitkrankheit Computersucht, ihre Folgen für Psyche und Hirnentwicklung und zeigen Möglichkeiten auf, wie Eltern helfen können.
     Wer verhindern will, dass Kinder und Jugendliche Computersucht entwickeln, muss verstehen, was sie so sehr fasziniert und was in ihrer Seele und ihrem Gehirn beim Computerspielen passiert. Abhängig wird ja niemand, weil es Computer gibt, sondern weil sich mit Hilfe dieser Spiele Bedürfnisse befriedigen lassen, die eigentlich auf andere Weise gestillt werden müssen. Dieses Buch richtet sich an alle, die ihre Kinder wirklich verstehen wollen.« (Klappentext)

Die Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses:

Logging in
1st Task - Aufwachen:
Die Beschaffenheit der Welten, in die unsere Kinder und Jugendlichen hineinwachsen.
Die Verlockungen virtueller Welten
Die Auflösung Sicherheit bietender Ordnungen
Kinder und Jugendliche auf der Suche nach Halt
2nd Task - Hinschauen:
Die Auswirkungen von Computerspielen auf die Seele und das Gehirn
Was den Sinnen und dem Verstand im Internet und bei Computerspielen zustößt
Was dabei im Gehirn passiert
Die Folgen - Beispiele aus der psychotherapeutischen Praxis
3rd Task -Verstehen:
Die Hintergründe und Mechanismen der Herausbildung einer Computersucht
4th Task -Nachdenken:
Die Suche nach Ursachen und Lösungen
Logging out
Literatur

Einige Passagen aus dem vorletzten Kapitel – 'Die Suche nach Ursachen und Lösungen – sollen die Argumentations- und Schreibweise der Autoren demonstrieren:
»Kein Kind kommt mit einer Anlage zur Computersucht auf die Welt. Dieses bis zur Abhängigkeit im Gehirn gebahnte Verhalten ist - wie alle anderen suchtartigen und zwanghaft ausgeführten Verhaltensweisen - meist erst während der späteren Kindheit oder der Pubertät entstanden. Es ist also ein erworbenes, d. h. erlerntes Verhalten. Im Verlauf dieses Lernprozesses sind im Gehirn der betreffenden Kinder und Jugendlichen alle im Zusammenhang mit diesem Verhalten aktivierten neuronalen Verschaltungsmuster und synaptischen Verbindungen so stark gebahnt und gefestigt worden, dass das betreffende Verhalten zunächst immer leichter und schließlich fast automatisch ausgelöst wird, wenn sich dazu Gelegenheit bietet.
     Die im Gehirn dieser computersüchtigen gewordenen Kinder und Jugendlichen entstandenen 'Autobahnen' lassen sich inzwischen recht gut mit Hilfe bildgebender Verfahren nachweisen. Aber diese Darstellung einer leichteren Aktivierbarkeit bestimmter Hirnareale und einer mehr oder weniger deutlichen Ausdehnung bestimmter Bereiche des Gehirns besagt nur, dass es in ihrem Gehirn zu entsprechenden, nutzungsabhängigen Bahnungsprozessen, eben 'Autobahnen' gekommen ist.
…..  
     Die entscheidende Frage ist also nicht, ob computersüchtige Kinder und Jugendliche ein verändertes Gehirn besitzen. Daran gibt es keinen Zweifel.
….. Aber weder den Eltern noch den Therapeuten oder gar den von ihnen betreuten, computersüchtigen Kindern und Jugendlichen hilft dieses Wissen weiter: Entscheidend für sie sind nicht die Folgen, sondern die Ursachen dieser Veränderungen. Wer diesen Kindern und Jugendlichen aus ihrer Computersucht heraushelfen will, muss wissen, wie und weshalb sie hineingeraten sind. Die entscheidende Frage lautet also: Was bringt ein Kind oder einen Jugendlichen dazu, sich tagtäglich mehrere Stunden vor einen Computer zu setzen und sein Gehirn nicht mehr für alles Mögliche, sondern in erster Linie nur noch für die Beschäftigung mit Computerspielen zu benutzen und es dafür immer besser zu optimieren?
     Genau das also ist der Kern des Problems: Die Ursache dafür, dass Kinder und Jugendliche computersüchtig werden, sind nicht ihre Computer oder Computerspiele, auch nicht ihre ungünstigen genetischen Veranlagungen oder gar ihre falsch verdrahteten Gehirne, sondern die gestörten Beziehungen der Menschen, unter deren Einfluss sie auf- und in deren Gemeinschaft sie hineinwachsen.
…..
     So verschieden die Gründe aber im einzelnen auch sein mögen, die Kinder und Jugendliche in den Sog der elektronischen Medien geraten lassen, sie zeichnen sich alle durch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aus: Es sind nie die starken, kompetenten und beziehungsfähigen, die offensten, neugierigsten und gestaltungsfreudigsten oder gar die lebenslustigsten Kinder und Jugendlichen, die computersüchtig werden. Vielmehr sind es diejenigen, die über alle diese stark machenden Ressourcen nicht oder in nur unzureichender Weise verfügen. Was alle diese Kinder also kennzeichnet, ist der Umstand, dass ihnen etwas fehlt. Deshalb müssen sie - jedes auf seine Weise - versuchen, mit diesem Defizit irgendwie zurechtzukommen, um sich in der Welt, in die sie hineinwachsen, zurechtzufinden. …..
     Man kann diesen Kindern nicht dadurch helfen, dass man die von ihnen gefundene Lösung, das Symptom oder das Störungsbild, also die Computersucht, 'behandelt' oder gar 'bekämpft'. Was diese Kinder und Jugendlichen brauchen, ist Hilfe und Unterstützung bei der Überwindung genau derjenigen Defizite, die sie dazu gebracht haben, nach dieser 'Krücke' zu greifen und von ihr abhängig zu werden. Keines dieser computersüchtig gewordenen Kinder ist mit einem Mangel zur Welt gekommen. Wenn solche Defizite entstanden sind, so ist ihnen etwas Entscheidendes verloren gegangen. Dann freilich käme es darauf an, diesen Kindern zu helfen, genau das wiederzufinden, was sie verloren haben.
     Weil die Kinder ihr Vertrauen in sich selbst und meist auch in uns verloren haben, können wir diese computersüchtig gewordenen Kindern und Jugendlichen nur wiederfinden, indem wir ihnen die Möglichkeit bieten, dieses verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen.
…..
     Manchen gelingt auch das Kunststück, aus dieser Krisenzeit der Selbstfindung irgendwie von allein wieder zu ihrem wahren Selbst zurückzufinden. Die sollte man sich genauer anschauen, denn sie sind diejenigen, von denen man am ehesten lernen könnte, wie und wodurch sich dieser Prozess des Wiederfindens des verloren gegangenen Selbst durch Hilfe von außen noch besser unterstützen lässt.
     Was man von diesen Jugendlichen, die es geschafft haben, sich von ihrer Computersucht zu befreien, fast immer in der einen oder anderen Weise geschildert bekommt, ist weitgehend identisch: Irgendwann ist etwas passiert, irgendwie haben sie eine neue Erfahrung gemacht, die genau das in ihnen gestärkt hat, was sie schon fast verloren hatten: ihr Selbstwertgefühl, ihr Vertrauen, ihren Mut, ihre Lust am Leben, am Entdecken und Gestalten. Manchmal waren das neue Begegnungen mit anderen Menschen, manchmal neue Herausforderungen, manchmal war es aber auch nur eine anerkennende und wertschätzende Bemerkung durch einen Lehrer oder einen neuen Freund, vielleicht auch nur eine gelungene, selbstständig erbrachte Leistung. Von außen betrachtet, war es meist nichts Besonderes, sondern eher etwas, das sich im normalen Leben immer wieder ereignet (oder ereignen sollte). In den seltensten Fällen war es eine therapeutische Intervention.« (S. 139 ff)

Bilanzierende Bewertung:
Die Autoren sind ein vorzügliches Gespann: sie schreiben auf hohem wissenschaftlichen Niveau, dennoch leicht lesbar und in ästhetisch befriedigendem Stil. Inhaltlich profitiert das Buch von den sich ergänzenden Fachkompetenzen aus Neurobiologie und Entwicklungspsychologie. Wer mit computersüchtigen Kindern und Jugendlichen zu tun hat – und das sind inzwischen sehr viele Eltern, die meisten Pädagogen und Sozialpädagogen, Kinderärzte und Kinderpsychologen – sollte sich diesen Band besorgen, er wird es nicht bereuen!

Kurt Eberhard  (April 2007)

 

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