FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2008

 




Bruce D. Perry und Maia Szalavitz

Der Junge, der wie ein Hund
gehalten wurde

Was traumatisierte Kinder uns über Leid,
Liebe und Heilung lehren können

Aus der Praxis eines Kinderpsychiaters

Kösel-Verlag, 2008
(334 Seiten, 19.95 Euro)

 

 

Die Autoren:

Bruce D. Perry ist neurophysiologisch geschulter Kinderpsychiater und leitender Wissenschaftler der Child Trauma Academy, die sich für Innovationen in der Behandlung, Forschung und Aufklärung in Bezug auf Kindesmisshandlung und Kindheitstraumata einsetzt.

Maia Szalavitz ist preisgekrönte Journalistin mit den Fachgebieten Wissenschaft und Gesundheit, Koautorin mehrerer Bücher.

Zum Anliegen des Buches sollen einige Passagen aus der Einleitung zitiert werden:
»Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, zum einen zu verstehen, auf welche Weise Traumata auf Kinder einwirken, und zum anderen innovative Wege zu entwickeln, um ihnen beim Umgang damit zu helfen. Ich habe Kinder behandelt, die Erfahrungen gemacht haben, die so schrecklich waren, dass man es sich kaum vorstellen kann - von den Überlebenden der Feuersbrunst des Davidianer-Kults in Waco, Texas, über vernachlässigte osteuropäische Waisenkinder bis zu Überlebenden von Völkermord. Ich habe Gerichte dabei unterstützt, die Trümmer einer fehlgeleiteten strafrechtlichen Verfolgung von “satanischem Ritualmissbrauch“ durchzusehen, deren Grundlage erzwungene Anschuldigungen von gefolterten, angsterfüllten Kindern waren. Ich habe getan, was in meinen Möglichkeiten stand, um Kindern zu helfen, die Zeugen der Ermordung ihrer Eltern waren, sowie solchen, die Jahre ihres Lebens angekettet in Käfigen oder sogar eingesperrt in Toiletten zugebracht haben. .....
     Im Laufe der Jahre haben zahlreiche Forschungsarbeiten ein viel reichhaltigeres Verständnis dafür geschaffen, was ein Trauma bei Kindern bewirkt und wie man ihnen helfen kann, sich davon zu erholen. 1996 gründete ich die Child Trauma Academy, eine interdisziplinäre Gruppe von Fachleuten, die sich der Verbesserung des Lebens von stark gefährdeten Kindern und deren Familien widmet. Wir führen unsere klinische Arbeit fort und haben noch viel zu lernen. Unser vorrangigstes Ziel ist es jedoch, Behandlungsmethoden auf der Grundlage unseres derzeitigen Wissens an andere weiterzugeben. ..... Dieses Buch ist ein Teil unserer Bemühungen.
     Sie werden darin einigen der Kinder begegnen, von denen ich am meisten darüber gelernt habe, wie sich ein Trauma auf junge Menschen auswirkt. Und Sie werden erfahren, was diese Kinder von uns - ihren Eltern und Erziehungsberechtigten, ihren Ärzten, ihren Politikern -brauchen, wenn sie ein gesundes Leben aufbauen sollen. Sie werden sehen, wie traumatische Erfahrungen Kinder zeichnen, wie sie ihre Persönlichkeit und ihre Fähigkeit zu körperlichem und emotionalem Wachstum beeinflussen. Sie werden meiner ersten Patientin Tina begegnen, deren Mißbrauchserfahrung mir den Einfluss eines Traumas auf das kindliche Gehirn verständlich machte. Sie werden ein mutiges kleines Mädchen namens Sandy treffen, die im Alter von drei Jahren in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden musste und die mich gelehrt hat, wie wichtig es ist, einem Kind zu erlauben, Aspekte seiner eigenen Therapie zu bestimmen. Sie werden einen erstaunlichen Jungen namens Justin kennenlernen, der mir gezeigt hat, wie Kinder von unsäglicher Entbehrung genesen können. Jedes Kind, mit dem ich gearbeitet habe - die Davidianer-Kinder, die Trost darin fanden, füreinander zu sorgen; Laura, deren Körper nicht wuchs, bis sie sich sicher und geliebt fühlte; Peter, ein russisches Waisenkind, dessen Mitschüler in der ersten Klasse seine “Therapeuten“ wurden -, half meinen Kollegen und mir, ein neues Teil in das Puzzle einzusetzen, und erlaubte uns auf diese Weise, unsere Behandlung für traumatisierte Kinder und ihre Familien zu verbessern.«

Inhaltsübersicht mit Zitaten der Autoren und (sehr verkürzenden) Erläuterungen vom Rezensenten:

Kapitel l: Tinas Welt
Tina, Perry’s erste kindliche Patientin, war von dem Sohn ihrer Babysitterin misshandelt und sexuell missbraucht worden und fiel durch extrem sexualisiertes Verhalten, aggressive Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörungen auf. Perry berichtet, wie er zunächst hilflos reagierte, von einem weisen Supervisor aber ermutigt wurde, unorthodoxe Wege zu gehen, wie er die vorher diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizitstörung als Posttraumatische Belastungsstörung verstand, seine Forschungserfahrungen an Tiergehirnen ihn anregten, Tinas mangelhafte Impulskontrolle als Funktionsstörung des Stressreaktionssystems aufzufassen und zu behandeln.
     Zwischendurch nimmt er oft Gelegenheit, die damals (1987) gängigen psychiatrische Diagnostik und Therapie kritisch zu beleuchten und neuropsychologische Erkenntnisse einzuführen.

Kapitel 2: Zu deinem Besten
Sandy wurde zu Perry vermittelt, um sie für eine Zeugenaussage in einem Mordprozess vorzubereiten. Im Gespräch mit einem Anwalt faßt er die dramatische Situation zusammen:
     »Ein dreijähriges Mädchen erlebt mit, wie ihre Mutter vergewaltigt und getötet wird. Ihre eigene Kehle wird zweimal durchschnitten und sie wird liegengelassen, weil der Täter glaubt, sie sei tot. Sie befindet sich elf Stunden lang mit dem toten Körper ihrer Mutter allein in der Wohnung. Dann wird sie ins Krankenhaus gebracht, wo ihre Halswunden versorgt werden und die Ärzte die fortlaufende Beobachtung und Behandlung ihres psychischen Zustands empfehlen. Nach ihrer Entlassung wird sie jedoch als Schutzbefohlene des Staates in einer Pflegestelle untergebracht. Der Sozialarbeiter vom Kinderschutzdienst ist nicht der Ansicht, dass sie eine Psychotherapie braucht. Er lässt ihr also trotz Anraten der Ärzte keinerlei Hilfe zukommen. Neun Monate lang wird dieses Kind ohne eine wie auch immer geartete beratende oder psychiatrische Fürsorge von Pflegestelle zu Pflegestelle weitergeschoben. Und die Details dessen, was das Kind erlebt hat, sind mit den Pflegefamilien nie besprochen worden, weil ihr Aufenthaltsort geheimgehalten wird« (S. 51/52)
     Sandy reagiert auf die brutale Traumatisierung u.a. mit dissoziativen Symptomen, deren biologische Funktion, physiologische Mechanismen sowie Behandlung in einem spieltherapeutischen Setting im weiteren Text sehr anschaulich dargestellt werden.

Kapitel 3: Die Treppe in den Himmel
In diesem Kapitel berichtet Perry von seiner schwierigen Arbeit mit den überlebenden Kindern der berüchtigten Davidianer-Sekte, die am 19. April 1993 in einem selbstgelegten Großbrand unterging. Es schließt mit folgender Erkenntnis:
     »Beziehungen sind das, was zählt: Die Währung für systemischen Wandel ist Vertrauen, und Vertrauen entsteht durch Beziehung. Menschen, nicht Programme, verändern Menschen. Das Entgegenkommen, der Respekt und die Zusammenarbeit, die wir erlebten, gaben uns die Hoffnung, etwas bewegen zu können, auch wenn die Belagerung in solch einer Katastrophe endete.« (S. 108)

Kapitel 4: Hauthunger
Laura wog mit 4 Jahren nur12 Kilogramm und wurde wochenlang durch eine Nasensonde mit kalorienreicher Nahrung versorgt - ohne sichtbaren Erfolg. Perry hatte inzwischen gelernt, dass ohne Kenntnis der Lebensgeschichte kein diagnostisches Verstehen möglich ist und daß diese spätestens in der frühen Kindheit der Kindesmutter beginnt. Lauras Mutter hatte die ihrige in zahlreichen Heimen und Pflegestellen verlebt, weil es »üblich war, Babys und Kleinkinder alle sechs Monate bei neuen Pflegefamilien unterzubringen, damit sie sich nicht zu sehr an eine bestimmte Betreuungsperson binden würden« (S. 112). Sie war um Laura sehr bemüht, aber als selbst ungeliebtes Kind nicht in der Lage, ihr Kind auf natürliche Art zu lieben. Perry gab beide - Mutter und Kind - zu einer erfahrenen Pflegemutter, die wegen ihrer liebevollen Warmherzigkeit und ihrer Bereitschaft, ihre Pflegekinder wie Babys zu behandeln, bekannt war. Schon im ersten Monat nahm Laura - ohne Sonde - um 4,5 Kilogramm zu!
     Auch dieses Kapitel enthält viele interessante theoretische Reflexionen und zu deren Veranschaulichung eine weitere eingeschobene Fallvignette.

Kapitel 5: Das kälteste Herz
Leon hatte im Alter von 16 Jahren zwei Mädchen auf sadistische Weise ermordet und ihre toten Körper sexuell missbraucht. Perrys Expertise sollte dem Gericht helfen, zwischen einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und der Todesstrafe zu entscheiden. Während Leon als extrem gefühlskalter Soziopath galt, war sein älterer Bruder ein guter Vater und geachtetes Mitglied der Gemeinde. Dieser hatte seine ersten Lebensjahre in der Geborgenheit einer liebevollen Großfamilie erlebt, jener wurde geboren, als die geistig behinderte Mutter aus ökonomischen Gründen isoliert in ein heruntergekommenes Sozialbauviertel umgezogen war. Immer wenn der kleine Leon wimmerte oder schrie, verließ sie mit dem älteren Sohn die Wohnung und machte ausgedehnte Spaziergänge. Leon verstummte allmählich, was die Mutter als erzieherischen Erfolg ihrer Aushäusigkeit deutete.
     Perry beschreibt dann Leons weitere Entwicklung zu emotionaler Kälte und mangelhafter Impulskontrolle aus neuropsychologischer Sicht. In verblüffender erkenntnistheoretischer Naivität fügt er ohne Diskussion hinzu, dass diese »keinen vollständigen Mangel an freiem Willen« bedeute.

Kapitel 6; Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde
Justin war wegen einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation eines Kinderkrankenhauses und fiel u.a. damit auf, dass er schaukelte, wimmerte und das Personal mit Essen und Kot bewarf. Die Mutter war bei seiner Geburt 15 Jahre alt und gab ihn zur fürsorglichen und liebevollen Großmutter. Diese aber starb, als Justin ein Jahr alt war. Der gutwillige, aber völlig überforderte Großvater brachte ihn bei seinen Hunden in einem Käfig unter. Dort lebte er 5 Jahre. Wie die Kinder aus den rumänischen Waisenhäusern hatte er eine erhebliche Gehirn-Atrophie.
     Über den Beginn der Behandlung schreibt Perry: »Als Erstes musste ich das Chaos und die Reizüberflutung in Justins Umgebung abbauen, das wusste ich. Wir verlegten ihn in eines der “Privatzimmer“ des PICU [pädiatrische Intensivstation]. Daraufhin verringerten wir die Anzahl der Mitarbeiter, die mit Justin umgingen. Wir begannen eine Physio-, eine Beschäftigungs-, eine Sprech- und eine Sprachtherapie. Wir sorgten dafür, dass einer unserer Mitarbeiter aus der Psychiatrie jeden Tag Zeit mit ihm verbrachte. Und ich besuchte ihn ebenfalls täglich. Sein Zustand verbesserte sich erstaunlich schnell« (S. 170) Später wurde er in eine liebevolle Pflegefamilie gegeben.
     Perry resümiert: »Ich nahm das, was ich aus Justins Fall gelernt hatte - dass musterartige, sich wiederholende Erfahrungen in einer sicheren Umgebung einen enormen Einfluss auf das Gehirn haben können -, und begann, Mama P.s Lektionen über die Bedeutung von Körperkontakt und körperlicher Stimulation in unsere Behandlung zu integrieren.« (S. 172)

Kapitel 7: Satanspanik
In den frühen 90er Jahren gab es in Texas eine aufgeregte Debatte, ob die von Kindern berichteten Mißhandlungen, Vergewaltigungen und rituelle Morde in sog. satanischen Sekten der Wahrheit entsprachen. Viele Eltern wurden angeklagt und ihre Kinder herausgenommen. Perry wurde als kinderpsychiatrischer Experte hinzugezogen. Als Belastungsmaterial wurden die Ergebnisse von ’Stansprüflisten’ und die ’Haltetherapie’ verwendet.
    
Dazu Perry: »Die »Satansprüflisten« und ähnliche Listen, die zu jener Zeit für Inzestüberlebende und für ’Co-Abhängige’, die Süchtige in ihrem Umfeld hatten, die Runde machten, waren vage und allgemein. Ihnen zufolge kam jeder beliebige Jugendliche mit dem geringsten Interesse an Sex, Drogen und Rock'n'Roll - in anderen Worten, jeder beliebige normale Teenager - als Opfer in Frage. Und auch jedes beliebige kleinere Kind, das Alpträume hatte, sich vor Monstern fürchtete oder bettnäßte. Eine weitere Form von gefährlicher Quacksalberei wurde in jener Zeit ebenfalls übermäßig angepriesen und bedauerlicherweise auf diese Pflegekinder angewandt. Sie erschien in zahlreichen Formen und hatte mehrere unterschiedliche Namen, war aber gemeinhin als ’Haltetherapie’ bekannt. Während einer solchen “Behandlung“ hielten Erwachsene Kinder in ihren Armen fest und zwangen sie, ihren Betreuern in die Augen zu sehen und sich ihren Erinnerungen und Ängsten “zu öffnen“. Wenn das Kind keine überzeugende Geschichte von frühem Missbrauch hervorbrachte, wurde es körperlich und psychisch attackiert, bis es das tat.« (S. 207).
Schließlich kam heraus, dass tatsächlich etliche Kinder jahrelang mißhandelt und mißbraucht wurden, die Satans-Geschichten aber das Ergebnis von suggestiven und z.T. brutalen Verhörmethoden waren.

Kapitel 8: Der Rabe
Die 17-jährige Amber litt an Bewußtlosigkeitsanfällen und neigte zu Mißtrauen, Selbsthaß und Selbstverletzungen. Als 9-jähriges Mädchen war sie mehrmals vergewaltigt worden. Sie reagierte damals mit dissoziativen Phantasien: »Wenn es dann passierte, schloss ich die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Schon ziemlich bald war ich in der Lage, an einen sicheren Ort in meinem Kopf zu gehen. ….. nach und nach machte ich diesen Platz zu meinem speziellen Rückzugsort. Immer wenn ich darüber nachdachte, dorthin zu gehen oder dort zu sein, fühlte ich mich sicher. Niemand wusste, wo er war. Niemand konnte mich dort erreichen. Niemand konnte mir dort wehtun. ….. Ich fühlte mich, als ob ich fliegen könnte, wenn ich an diesem Ort war. Und ich begann mir vorzustellen, dass ich ein Vogel bin, ein Rabe. Ich versuchte, ein schöner Vogel zu sein, ein Bluebird oder ein Rotkehlchen, aber ich konnte dort nicht schön sein. Ich versuchte, ein majestätischer Vogel zu sein wie ein Adler oder ein Falke, aber das hat auch nicht funktioniert. Mein Verstand beharrte darauf, mich zu etwas Dunklem wie einem Raben zu machen. Aber ich war mächtig. Ich konnte andere Tiere beherrschen. Ich hatte die Kontrolle über andere Tiere. Ich war weise und ich war gütig, aber ich war völlig erbarmungslos darin, hinabzujagen und meine Macht zur Vernichtung des Bösen zu benutzen.« (S. 236)
     Mit den Schnitten in ihre Haut gelang ihr die Rückkehr in solche dissoziativen Zustände. Neben dem geduldigen Aufbau einer Vertrauensbeziehung nutzte Perry erfolgreich die Kognitive Verhaltenstherapie,  um realistischere Selbst- und Fremdeinschätzungen zu erzeugen. Nach einem Jahr - die Therapie war bereits beendet - erhielt er von ihr eine E-Mail, die nicht mehr mit “Black Raven“, sondern mit “Blue Raven“ unterzeichnet war.

Kapitel 9: »Mama lügt, Mama tut mir weh, bitte rufen Sie die Polizei«
James, ein 6-jähriger Junge, ließ sich nach Auskunft seiner Mutter »nichts sagen und war unkontrollierbar. Er lief häufig von zu Hause weg, wollte sich aus fahrenden Autos stürzen, unternahm einen Selbstmordversuch und war Bettnässer. Im Alter von sechs Jahren war er bereits mehrfach ins Krankenhaus eingeliefert worden, einmal, nachdem er von einem Balkon im zweiten Stock gesprungen war. Er verbreitete immerzu Lügen, vor allem über seine Eltern, und genoss es anscheinend, sich ihnen zu widersetzen. Er bekam Antidepressiva sowie Medikamente gegen Impulsivität und Aufmerksamkeitsprobleme. Er war bei zahlreichen Therapeuten, Psychiatern, Beratern und Sozialarbeitern gewesen. ..... Er hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, als er eine Überdosis Medikamente genommen hatte und auf der Intensivstation gelandet war.« (S. 257)
     Von den vorgängigen Therapeuten und Sozialarbeitern brachte er die Diagnose ’Reaktive Bindungsstörung’ mit. Perry fiel jedoch auf, dass er und eine Kollegin positive Gefühle für ihn entwickelten. Da er gelernt hatte, solche Emotionen ernst zu nehmen, kamen ihm Zweifel an der Diagnose, recherchierte noch einmal gründlich die Vorgeschichte und stellte fest, dass die Klagen des Jungen über seine Mutter berechtigt waren: sie war eine der seltenen Fälle des ’Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms’, d.h. sie versuchte, ihr Kind krank zu machen, um Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erhalten.
James wurde von anderen Eltern adoptiert und entwickelte sich dort sehr erfreulich.

Kapitel 10: Die Freundlichkeit von Kindern
Peters Eltern hatten ihn aus einem russischen Waisenhaus adoptiert, in dem er 3 Jahre gelebt und eine erhebliche Gehirn-Atrophie sowie eine hochgradige Entwicklungsverzögerung davongetragen hatte. Er hatte Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, dem Sprechen und der Impulskontrolle und mithin besondere Probleme im Umgang mit gleichaltrigen Kindern.
     Über seine therapeutische Strategie schreibt Perry: »Als wir mit Peter und seiner Familie zu arbeiten begannen, hatten wir bei unserem neurosequentiellen Ansatz für misshandelte Kinder bereits gute Fortschritte gemacht. Wir hatten erkannt, dass Opfer eines frühen Traumas und früher Vernachlässigung Erfahrungen - wie geschaukelt und gehalten zu werden - brauchen, die zu dem Alter passen, in dem sie eine Schädigung oder Entbehrung erlitten haben, und nicht zu ihrem chronologischen Alter. Wir hatten herausgefunden, dass diese entwicklungsgemäße Unterstützung und diese therapeutischen Erfahrungen immer wieder und auf eine respektvolle und liebevolle Art und Weise gewährleistet werden müssen. ..... Wir begannen auch Musik, Tanz und Massage einzubauen, um die tiefer liegenden Hirnstrukturen zu stimulieren und zu organisieren, die die wesentlichen regulatorischen Neurotransmitter-Systeme enthalten, die an der Stressreaktion beteiligt sind. Wie wir gesehen haben, werden diese Regionen mit höherer Wahrscheinlichkeit durch ein frühes Trauma beeinträchtigt, weil sie in der frühen Lebenszeit eine wichtige und rasante Entwicklung durchmachen.« (S. 273)
     Ferner gelang es Perry, Peters zunächst sehr abweisenden Mitschüler zu einer therapeutischen Gemeinschaft umzuformen, die sich als erstaunlich effizient erwies.
     Das Kapitel endet mit folgender Bilanz: »Je mehr gesunde Beziehungen ein Kind hat, desto wahrscheinlicher wird es sich von seinem Trauma erholen und aufblühen. Beziehungen sind der Weg zur Veränderung, und die mächtigste Therapie ist die menschliche Liebe.« (S. 289)

Kapitel 11: Heilende Gemeinschaften
Dieses Kapitel geht nicht von einer Fallgeschichte aus, sondern zieht die Konsequenzen aus den vorangegangenen kasuistischen Erfahrungen: »Menschen sind unvermeidlich soziale Wesen, deshalb drehen sich die schlimmsten Katastrophen, die uns zustoßen können, um den Verlust von Beziehungen. Infolgedessen geht es bei der Heilung von einem Trauma und von Vernachlässigung ebenfalls um Beziehungen - um das Wiederherstellen von Vertrauen, das Wiedererlangen von Zuversicht, die Rückkehr zu einem Gefühl von Sicherheit und die Wiederverbindung mit der Liebe. Natürlich können Medikamente dazu beitragen, Symptome zu lindern, und es kann außerordentlich nützlich sein, mit einem Therapeuten zu sprechen. Aber Heilung und Gesundung sind ohne dauerhafte, liebevolle Beziehungen zu anderen nicht möglich - selbst mit den besten Medikamenten und Therapien der Welt. Im Kern entscheidet die Beziehung zur Therapeutin oder zum Therapeuten darüber, ob eine Therapie wirkt, und nicht primär ihre oder seine Methoden oder klugen Worte. All die Kinder, die im Anschluss an unsere Behandlung letztendlich aufblühten, taten dies aufgrund eines starken sozialen Netzwerks, das sie umgab und unterstützte .....
     Mißhandelte und mißbrauchte Kinder brauchen in erster Linie eine gesunde Gemeinschaft, um den Schmerz, den Kummer und den Verlust zu dämpfen, der durch ihr frühes Trauma verursacht worden ist. Alles, was die Anzahl und die Qualität der Beziehungen dieser Kinder steigert, unterstützt ihre Heilung. Beständige, geduldige, sich wiederholende und liebevolle Fürsorge ist das, was ihnen hilft. Nicht förderlich sind, das sollte ich hinzufügen, wohlmeinende, aber schlecht ausgebildete“Fachleute“ aus dem Bereich der psychischen Gesundheit, die nach einem traumatischen Ereignis herbeistürmen und Kinder nötigen, “sich zu öffnen“ oder “ihre Wut herauszulassen“.« (S. 290 – 292)

Bilanzierende Bewertung:
Hinter dem nichtssagenden Titel und den ebenso nichtssagenden Kapitelüberschriften verbirgt sich das beste zur Zeit erhältliche Buch über die Wirkungen tiefgreifender Traumatisierungen und die Möglichkeiten ihrer Behandlung. Perry benutzt in genialer Weise die Methode der kumulativen Kasuistik zur Untersuchung der neuropsychologischen Wirkmechanismen frühkindlicher Traumata und dokumentiert gleichzeitig seine bahnbrechenden wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisprozesse.

Gerald Hüther, einer der prominentesten deutschen Hirnforscher, urteilt: »Es ist gut, dass die Hirnforscher in den letzten Jahren zeigen konnten, wie tief frühe traumatische Erfahrungen im Gehirn verankert sind.  Aber es ist noch viel wichtiger zu wissen, dass diese Auswirkungen überwunden werden können und dass es Wege gibt, traumatisierten Kindern zu helfen, wieder glückliche Kinder zu werden. Genau das zeigt Bruce D. Perry in diesem Mut machenden Buch« (s. Klappentext) 

Dieses Buch gehört in die Hände aller, die mit traumatisierten Kindern zu tun haben! Wir im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) haben ihm wichtige Anregungen, aber auch Bestätigungen zu verdanken, besonders die gründliche Validierung unserer therapeutischen Devise: »Liebe - Ruhe - Stetigkeit«. (s.a. Aufgaben der heilpädagogischen Pflegestelle....)

Kurt Eberhard  (Juli 2008)

Wir importierten die Untersuchungsergebnisse von Perry in die deutsche Sozialpädagogik bereits 2001:

Violence and Childhood: How Persisting Fear Can Alter the Developing Child´s Brain

Bonding` und `Attachment` bei mißhandelten Kindern - Folgen von emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit

 

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