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Über den Wolfsjungen aus dem Aveyron, einem Kind, das unter völliger sozialer Isolation in den Wäldern aufwuchs, gibt es zahlreiche Dokumente. Der Chefarzt des Taubstummeninstituts in Paris, Jean-Marc-Gaspard Itard, begann ihn etwa 12-jährig zu erziehen. Heute würde man die Behandlungs- und Sozialisationsbemühungen Itards dem Bereich der Verhaltenstherapie zuordnen: er versuchte durch konsequentes Belohnen erwünschtes Verhalten zu verstärken, bzw. durch Nichtbeachten unerwünschtes Verhalten zu dämpfen. Heilsamer war die geduldige Liebe der Madam Guérin.
Mordicai Gerstein überrascht mit gleich zwei interessanten Büchern, die eines gemeinsam haben: sie erzählen die Lebensgeschichte von Victor.
Das erste ist ein Bilderbuch für jüngere Kinder, mit vielen farbigen Illustrationen geschmückt. Gerstein macht bildhaft und mit einfachen Worten verständlich, wie Victor im Wald gelebt haben könnte, wie die Jäger ihn fingen, er in die Stadt gebracht wurde und in das Institut für Taubstumme kam, wie merkwürdig er sich in der Zivilisation verhielt und wie Doktor Itard und Madam Guérin für ihn sorgten.
Das zweite Buch, der Roman, zeugt von historischer Sachkenntnis des Autors. Er rekonstruiert detailreich Szenen aus dem Leben Victors, die den Leser tief eintauchen lassen in das, was sich in Victor abgespielt haben mag.
“Er ist wach.
Victors Geruch und Victors Decke. Er wühlt sich hinein. Eine Fliege surrt durch die Lichtbahn und bringt die kleinen schwebenden Pünktchen zum Kreisen, Wirbeln und zum Verschwinden. Auf der Wand bewegen sich Lichtflecken, wie Blätter, wie Wasser, schwanken hin und her. Vom Fenster her kommt der Geruch von Sonne, betautem Laub, Rossäpfeln, brennender Holzkohle.
Aber das Zimmer ... alles ist verkehrt! Wo ist das Buch? Wo das Buch sein sollte, ist die Bürste. Das Buch ist unter dem Becher. Wo ist das Handtuch? Alles verkehrt!
Victor springt auf. Er bewegt sich schnell kreuz und quer durch das Zimmer. Er holt verstreute Sachen zurück, bringt sie dahin, wo sie zu Hause sind. Zuerst das Buch, dann die Bürste. Dann den Becher. Er hält inne. Seine Augen gleiten prüfend über die Wände, die Borde. Sie stoßen auf kein Hindernis. Das ist sein Zuhause. Das ist die Welt. Nein! Das Handtuch liegt zerknüllt auf dem Stuhl! Victor rafft es schnell an sich, faltet es und hängt es auf die Stange. Das Zimmer summt leise. Makellos.
«Victor? Victor, bist du wach?» Er springt zur Tür, stößt sie auf und wird verschluckt von duftender, wallender Wärme. Madame Guérin! Er möchte rennen und fliegen und doch immerzu in ihrer Wärme sein.
«O mein Gott, was für ein Bub!» Sie lacht. «O mein Gott, was für ein Victor!»”
(S. 110)
Beide Bücher sind für Heimerzieher, Pädagogen, Lehrer, Pflegeeltern und all diejenigen, die mit vernachlässigten Kindern arbeiten, eine aufschlussreiche Lektüre, die ebenso zum Vorlesen geeignet ist. Kinder können sich leicht mit Victor identifizieren. Der Zugang zur eigenen Biografie wird verhaltensauffälligen Kindern erleichtert.
(Christoph Malter, Nov. 2001)
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Mordicai Gerstein
Victor
