FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Peter Tossmann und Norbert H. Weber (Hrsg.)

Alkoholprävention in Erziehung
und Unterricht

Centaurus-Verlag, Herbolzheim, 2001
(328 S., 25,50 Euro)

 

In der Einleitung wird die Aufgabenstellung des Sammelbandes formuliert:
"Mit der vorliegenden Publikation präsentieren wir einen konstruktiven Beitrag zur 'Alkoholprävention in Erziehung und Unterricht'. Adressaten sind vor allem mit Erziehungsaufgaben befaßte Personen, vor allem Lehrerinnen und Lehrer, denen unter fachspezifischer Perspektive pädagogisch-didaktische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden." (S. 11)

Dieser Aufgabenstellung dienen folgende Beiträge:

  • H. Peter Tossmann / Norbert H. Weber: Einleitung
  • Karl Adolf Noack / Norbert H. Weber: Didaktische Reflexionen zur Alkoholprävention
  • Susan Boldt: Entwicklung des Alkoholkonsums im Jugendalter - ein Überblick über aktuelle Erkenntnisse
  • Marcus Freitag / Klaus Hurrelmann: Der Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen in Deutschland - eine empirische Bestandsaufnahme
  • Jürgen Fleck: Gesetzliche Grundlagen gegen die Gefährdung Jugendlicher durch Alkohol
  • Sebastian Baumeister: Strategien und Einflussnahme der Werbung auf den Alkoholkonsum Jugendlicher
  • H. Peter Tossmann: Tätigkeitsfelder und Anforderungsprofile der schulischen Suchtprävention
  • Uwe Richter: Das Thema "Alkohol" als Gegenstand des Sozialkundeunterrichts
  • Stephanie Baumgarten: Das Thema "Alkohol" als Gegenstand des Biologieunterrichts
  • Markus R. Keitsch: Das Thema "Alkohol" als Gegenstand des Chemieunterrichts
  • Bernd Krebs: Das Thema "Alkohol" als Gegenstand der Religionspädagogik
  • Heike Langenheim: Das Thema "Alkohol" als Gegenstand des Deutschunterrichts
  • Norbert H. Weber: Das Bild schulischer Suchtprävention bei Lehrerinnen und Lehrern - Ergebnisse einer Berliner Studie
  • Ingeborg Holterhoff-Schulte: Ganzheitliche Suchtprävention in Familie und Kindergarten
  • Guido Nöcker: Reduktion des Alkoholkonsums durch Massenkommunikation
  • Matthias Wenninger: Alkoholbedingte Freizeitunfälle jugendlicher Verkehrsteilnehmer
  • Günter Alfs: Pädagogische Interventionsmöglichkeiten bei alkoholgefährdeten Jugendlichen im Straßenverkehr
  • Wolfgang Heckmann: Alkoholprävention in Schweden
  • Martin Küng: Alkoholprävention in der Schweiz
  • Aleksander Bielawiec / Miroslaw Krezel: Alkoholprävention in Polen

Die vorliegende Besprechung kann sich nicht allen Beiträgen widmen. Ausgewählt wurden die ersten vier Artikel, weil sie sich dem Thema in übergreifender Weise nähern, d.h. sich nicht auf ein spezielles Anwendungsfeld konzentrieren.

Zunächst soll aus dem Beitrag Karl-Adolf Noacks, Professor für Allgemeine Didaktik an der TU Berlin und seines dortigen Kollegen, Prof. Dr. Norbert H. Weber, zitiert werden, weil sie wichtige empirische Forschungsergebnisse aus den USA einbringen:

  • „Die Effektivität schulischer Präventionsprogramme ist am größten, wenn die präventiven Maßnahmen sich schwerpunktmäßig auf substanzunspezifische Komponenten beziehen. Als besonders geeignet gelten Lebenskompetenzprogramme, in den Jugendliche mit Kompetenzen und Verhaltensweisen ausgestattet werden, die sie zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit ihren Alltagsproblemen befähigen. Auf die Vermittlung suchtspezifischer Kenntnisse über Drogen und Süchte wird zwar nicht verzichtet, ihnen kommt jedoch keine dominante Rolle zu.
  • In vielen Schulen wird zwar immer noch die Methode der Informationsvermittlung (Aufklärung) praktiziert, inzwischen wissen wir aber, daß sowohl abschreckende als auch aufklärende Informationen günstigstenfalls einen Zuwachs an Wissen bewirken, jedoch nicht zu einer Verhaltensänderung des Jugendlichen im Umgang mit Drogen führen. Insofern sind solche Programme häufig wirkungslos; dies gilt in gleicher Weise für Massenmedienkampagnen, die zwar einen Informationszuwachs bewirken (können), jedoch nur in seltenen Fällen eine positive Veränderung des (Konsum-) Verhaltens bewirken.
  • Substanzunspezifische Konzepte, wie z. B. das Konzept der affektiven Erziehung, wurden bereits in den siebziger Jahren praktiziert und stehen in direktem Gegensatz zu den Aufklärungskonzepten. Ziel ist es, individuelle Defizite der Persönlichkeit (z. B. niedriges Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten im Artikulieren eigener Gefühle) im Unterricht bewußt werden zu lassen, zu thematisieren und durch adäquates Training möglichst zu kompensieren. Die Erfolge dieses Konzepts sind eher kritisch zu bewerten, da eine Reduzierung des Drogenkonsums nicht festgestellt werden konnte. Im Unterschied dazu können Alternativprogramme, wie sie in der Expertise bezeichnet werden, als Ergänzung zum Konzept der Lebenskompetenz durchaus positive Effekte bewirken.

Diese für die pädagogische Praxis bedeutsamen Erkenntnisse haben in den 90er Jahren dazu geführt, daß eine neue Generation von Präventivprogrammen entwickelt wurde, die unter dem Begriff ganzheitliche Suchtprävention zusammengefaßt werden können und vielfach eine Kombination zwischen substanzspezifischen und substanzunspezifischen Anteilen darstellen. Diesen Programmen liegt ein Lernkonzept zugrunde, daß nicht einseitig auf Kognition ausgerichtet ist, sondern gleichgewichtig auch emotionale, soziale und handlungsbezogene Lernprozesse zu initiieren versucht." (S. 29/30)

Die Psychologin Susan Boldt fragt nach den Entstehungsbedingungen des Alkoholkonsums und antwortet:
"Die Entwicklung des Alkoholkonsums Jugendlicher ist offensichtlich ein komplexes Bedingungsgefüge mit zahlreichen Einflußvariablen. Da ist zunächst die Familie als entwicklungsgeschichtlich erstes Umfeld der Heranwachsenden. Es konnte gezeigt werden, daß sich alkoholbezogene Erwartungen bereits im Kindesalter herausbilden, bevor der erste eigene Kontakt mit Alkohol stattgefunden hat. Wie sich diese Erwartungen ausbilden und wie dann die weitere Entwicklung vonstatten geht, ist abhängig von den alkoholbezogenen Normen der Mütter, Väter und Geschwister, vom Familienzusammenhalt und der Nähe sowie der Art der Kommunikation zwischen Eltern und Kind." (S.52)

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann und sein Mitarbeiter Dr. Marcus Freitag von der Universität Bielefeld resümieren sieben empirische Untersuchungen über den Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen und gelangen zu bemerkenswerten Schlußfolgerungen:
"Der Anteil derjenigen Jugendlichen, die erst mit 15 Jahren oder zu einem späteren Zeitpunkt in der Biographie mit dem Alkoholkonsum begonnen haben, ist sehr gering. ....
Die Ergebnisse unterstreichen eindringlich die Notwendigkeit einer frühzeitigen Prävention, bei der die vielfältige Funktionalität des Alkoholkonsums vor allem im Sozialbereich berücksichtigt wird. .....
Dafür ist es notwendig, die Präventionsmaßnahmen nicht nur alters- oder jahrgangsstufenspezifisch auszurichten; viel wichtiger wäre eine Konzeption, die den aktuellen Konsumstatus berücksichtigt, denn Abstinente müssen anders angesprochen werden als Probierer oder regelmäßige Konsumenten. ....
Der Anteil derjenigen, die schon vor dem zehnten Lebensjahr den Konsum aufnehmen, dürfte aber nur schwer durch präventive Maßnahmen zu erreichen sein: Das verfrühte und besonders problematische Trinkverhalten wird entweder auf einen starken Einfluß der Eltern oder aber auf massive Problemkonstellationen zurückzuführen sein, so daß herkömmlichen präventiven Strategien, die beim Jugendlichen selbst ansetzen, keine große Erfolgswahrscheinlichkeit zu prognostizieren wäre. .....
Die Analysen zu den vielfältigen sozialen Bedingungsfaktoren des Alkoholkonsums verweisen auf die Notwendigkeit, Suchtprävention ganzheitlich zu gestalten. Dies würde bedeuten, nicht nur auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern Rücksicht zu nehmen, sondern auch das familiäre Umfeld und schulbezogene Aspekte bei  der Entwicklung zukünftiger Suchtpräventionsprogramme zu integrieren. Mit der Einbindung suchtpräventiver Inhalte in umfassend konzeptionierte Programme der Gesundheitsförderung wird also ein Schritt in die richtige Richtung getan." (S. 70/71)

Dr. Jürgen Fleck, Rechtsanwalt und Vorsitzender des Berliner Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und –abhängige untersucht die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich Alkoholprävention vollzieht und geht dabei auf die immer wieder in die Debatte geworfene Frage ein, warum Dealer und User von Haschisch rechtlich ganz anders behandelt werden als die Verkäufer und Konsumenten von Alkohol:
"Für die unterschiedliche Behandlung von Cannabisprodukten einerseits und Alkohol andererseits sind nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts gewichtige Gründe vorhanden. So ist zwar anerkannt, daß der Mißbrauch von Alkohol Gefahren sowohl für den einzelnen wie auch die Gemeinschaft mit sich bringt, die denen des Konsums von Cannabisprodukten gleichkommen oder sie sogar übertreffen. Gleichwohl ist zu beachten, daß Alkohol eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat, denen auf Seiten der rauscherzeugenden Bestandteile und Produkte der Cannabispflanze nichts Vergleichbares gegenübersteht. Alkoholhaltige Substanzen dienen als Lebens- und Genußmittel; in Form von Wein werden sie auch im religiösen Kult verwandt. In allen Fällen, meint das Bundesverfassungsgericht weiter, dominiert eine Verwendung des Alkohols, die nicht zu Rauschzuständen führt; seine berauschende Wirkung ist allgemein bekannt und wird durch soziale Kontrolle überwiegend vermieden. Diese vielfach falsch interpretierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 hat das im Vorlagebeschluss des Landgerichts Lübeck postulierte Recht auf Rausch, das mit der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG begründet sein soll, gerade nicht bestätigt. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt, daß für den Umgang mit Drogen die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG gelten. Ein Recht auf Rausch, das diesen Beschränkungen entzogen wäre, gibt es ist nicht.
Art. 2 Abs. 1 GG schützt jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt. Absolut geschützt und damit der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist jedoch nur ein Kernbereich privater Lebensgestaltung. Dazu kann der Umgang mit Drogen, insbesondere auch das Sich-Berauschen, aufgrund seiner vielfältigen sozialen Aus- und Wechselwirkungen nicht gerechnet werden." (S.74/75)

Danach behandelt Fleck die Regelungen des Jugendschutzes, die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen im Schulbereich, incl. Schweigepflicht, Datenschutz und Disziplinarrecht. Schließlich betont er den Rechtscharakter der Vorbildfunktion des Lehrers allgemein und der Suchtprophylaxe speziell:
"Die Botschaft der Prävention richtet sich an die Lehrer direkt. Ihre Vorbildfunktion ergibt sich nicht nur aus der beamtenrechtlichen Stellung, sondern vor allem aus der im Erziehungsauftrag der Schule enthaltenen Suchtprophylaxe. Es gilt wie in allen Bereichen der Erziehung: verba docent, exempla trahunt (Worte lehren, Beispiele ziehen). Dies ist keineswegs nur eine moralische, sondern eine aus dem Erziehungsauftrag begründete rechtliche Verpflichtung." (S. 82)

Das Buch schließt mit einer ausführlichen und übersichtlich gegliederten Bibliographie von Heike Langenheim und Sebastian Baumeister.
Der von Tossmann und Weber herausgegebene Sammelband paßt vorzüglich in die aktuelle öffentliche Debatte zur unübersehbaren
Erziehungskrise in unserer Republik, weil die zunehmende Suchtproblematik alle Sozialisationsinstanzen zu pädagogischen Arbeitsformen zwingt, die über die Vermittlung von Wissen und Sekundärtugenden weit hinausgeht und damit zu einer persönlichkeitsgestaltenden Programmatik drängt, die auch aus allgemeiner bildungspolitischer Perspektive dringend geboten ist.

Kurt Eberhard (Jan. 2002)

 

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