FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2001

 

Stanley I. Greenspan, Beryl Lieff Benderly


Die bedrohte Intelligenz

Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung

Bertelsmann, 1999, ISBN 3-570-00113-X

 


Greenspan ist forschender Wissenschaftler und praktizierender Kinderpsychiater. Dieser doppelten Kompetenz verdankt das Buch seine durchgehend überzeugende Glaubwürdigkeit. Sein zentrales Anliegen ist die Abhängigkeit der geistigen von der emotionalen Entwicklung. Diese Botschaft ist für uns nicht sehr provokant. Schon die alte deutsche Psychologie faßte ‘Denken, Fühlen und Wollen’ unter einen Begriff, den der ‘Seele’. Und die Psychoanalyse bedarf in dieser Hinsicht erst recht keines Nachhilfeunterrichts. Aber eine auf Piaget eingeengte Entwicklungspsychologie findet bei Greenspan eine Fülle von empirischen Argumenten, die sie aus ihrer babylonischen Gefangenschaft befreien könnte.

Für uns, die wir mit psychisch traumatisierten Kindern zu tun haben, ist das Kapitel ‘Gewalt und Deprivation’ von besonderem Interesse. Wie alle erfahrenen Praktiker vertritt Greenspan eine multikausale Position

„Die schwergeschädigten Kinder, die jetzt soviel Unruhe stiften, stammen aus Familien, die in ein kompliziertes Gewirr von Schwierigkeiten verstrickt sind. In diesen Haushalten, wo sich mehrere Risiken häufen, erfüllen die Eltern nicht einmal ihre elementarsten Verpflichtungen. Zur Alltagsrealität der Kinder in solchen Familien gehören sehr junge und unfähige Mütter, die vielfach drogen- oder alkoholabhängig, stark depressiv oder beides sind; Gewalt, Mißhandlungen und inkonsequente Behandlung; materieller Mangel, emotionale Deprivation, abwesende Väter oder zerstrittene Ehen; außerdem soziale Instabilität und physische Gefährdung.“ (S. 322)

Einer überzogenen Soziologisierung, wie sie sich in letzter Zeit auch bei uns erneut zu Wort meldet, tritt er mit empirischen Belegen vehement entgegen:

„Die meisten der Familien, die mit oder ohne Sozialhilfe gegen die Armut ankämpfen, schaffen es, den Kindern durch liebevolle Fürsorge Werte zu vermitteln.“ (S. 320)

„Eine Untersuchung, an der Arnold Sameroff von der University of Michigan und ich zusammen mit anderen mitwirkten, kam zu dem Schluß, daß unabhängig von der Schichtzugehörigkeit und der Bildung der Eltern ein Zusammenhang zwischen emotionalen Risikofaktoren und kognitiven Ergebnissen während der Kindheit besteht“ (S. 321)

„Es sei nochmals betont, daß Armut allein nicht das menschliche Scheitern in der Unterklasse erklärt; zahllose Menschen, die unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsen sind, führen ein einwandfreies und verantwortliches Leben“ (S. 322)

Gelingen oder Mißlingen der psychosozialen Entwicklung hängt nach Greenspan ganz überwiegend von der Qualität der emotionalen Beziehungen ab.

„Es ist erwiesen, daß ein einziger fürsorglicher Erwachsener auch dann, wenn ein Kind schon weit in seiner Entwicklung gediehen ist, vieles zurechtrücken kann“ (S. 331)

Dieser in vielen Untersuchungen bestätigte Befund, der eben nicht im Widerspruch steht zu den ebenfalls von Greenspan zitierten Forschungsergebnissen, die neurophysiologische und sogar neuroanatomische Defekte nach schweren Traumatisierungen nachweisen, ist der Ausgangspunkt für seine an Fallbeispielen exemplifizierten therapeutischen und präventiven Konsequenzen. Er warnt einerseits davor, alle gefährdeten Kinder sofort von ihren Familien zu trennen und überforderten Pflegefamilien zu überlassen und andererseits davor, man könne mit wirtschaftlicher, therapeutischer und sozialer Unterstützung Multiproblemfamilien dazu bringen, ihren Kindern ein angemessenes Entwicklungsmilieu zu bieten.

„Wenn Interventionsprogramme überhaupt Erfolg haben sollen, müssen sie die Einsichten beider Traditionen miteinander verbinden, ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen abmildern. Sie sollen die wichtige Bindung zwischen Eltern und Kind gebührend beachten und dort erhalten, wo es ratsam ist. Sie müssen die Kinder aber auch vor dem Schaden bewahren, den eine verderbliche häusliche Umgebung anrichten kann, und diese notfalls und möglichst rasch durch eine andere dauerhafte Beziehung ersetzen.“ (S. 341)

„Die Bewahrung der Familienbande ist im allgemeinen ein lobenswertes Prinzip, das aber gelegentlich gänzlich falsch angewandt wurde; es ist sogar vorgekommen, daß verletzte Kinder in die Obhut von ungebesserten Drogensüchtigen oder Gewalttätern zurückgegeben wurden. In solchen Fällen wäre es angebracht, umgehend zu handeln, um die rechtlichen Bindungen an solche nachweislich schädigenden Erwachsenen zu lösen und für das Kind einen dauerhaften sicheren Hafen zu finden.“ (341)

Allerdings beklagt Greenspan, daß die Pflegeeltern oft nicht die Unterstützung und Beratung erhalten, auf die sie in ihrer schwierigen therapeutischen Arbeit dringend angewiesen sind.

Es ist schon ein merkwürdiges Leseerlebnis, in einer amerikanischen Monographie differenziertere und empirisch besser belegte Analysen über unsere bundesrepublikanischen Verhältnisse vorzufinden als in den meisten deutschen Fachbüchern.

Gudrun und Kurt Eberhard (Feb. 01)

 

 

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