FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Vilaynur S. Ramachandran und Sandra Blakeslee

Die blinde Frau, die sehen kann – Rätselhafte Phänomene des Bewußtseins

Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek, 2002

(512 Seiten, mit Literaturverzeichnis, Autoren- und Sachregister; 9,90 Euro)

Vilaynur S. Ramachandran. wirkt als Direktor des Center for Brain and Cognition und Hochschullehrer an der University of California. Sandra Blakeslee ist Wissenschaftsreporterin bei der New York Times.

Ramachandran folgt in diesem Buch seinem berühmten Vorbild Oliver Sacks, der auch die Einleitung schrieb. Allerdings geht sein Programm deutlich über Oliver Sacks hinaus:

  • es enthält höchst interessante und lehrreiche Fallgeschichten aus der neurologischen Praxis;
  • die Auswertung der narrativen Kasuistik führt den Autor zum Umdenken weit über die Grenzen des neurologischen Fachgebiets;
  • eingestreut in den Text, bietet er instruktive Einführungen in neurologisches Basiswissen;
  • für uns Sozialpraktiker von besonderer Bedeutung ist seine sogenannte ’experimentelle Erkenntnistheorie’, die zeigt, wie man durch genaue Beobachtung und Analyse von Einzelfällen zu neuen Erkenntnissen gelangt.

Das Buch ist also nicht, wie der völlig verfehlte deutsche Titel insinuiert, ein Kuriositätenkabinett, sondern ein ernstzunehmendes wissenschaftliches Werk, dessen amerikanischer Titel (1998) ’Phantoms in the Brain - Probing the Mysteries of the Human Mind’ allerdings auch nicht sonderlich informativ ist. Angemessener, allerdings weniger schick wäre ’Neurologische Patienten und ihre Bedeutung für die Wissenschaften vom Menschen’.

zu 1.:
Ramachandrans Kunst der narrativen Kasuistik läßt sich nur an einem Beispiel demonstrieren:
„Der erste Patient, der diese neue Welt erkundete [einen Kasten mit einem Spiegel, in dem man den vorhandenen Arm an der Stelle des amputierten Arms sieht], war Philip Martinez. 1984 wurde Philip auf dem San Diego Freeway in Südkalifornien bei 70 Stundenkilometern von seinem Motorrad geschleudert. .... Philips rechter Arm war an der Schulter böse eingerissen. .... Die Nerven, die den Arm versorgten, waren vom Rückenmark abgetrennt worden. Sein linker Arm war vollkommen gelähmt und lag ein Jahr lang bewegungslos in einer Schlinge. Schließlich empfahlen die Ärzte eine Amputation. Der Arm war nur im Weg und würde seine Funktion nie wiedererlangen.

Zehn Jahre später betrat Philip mein Sprechzimmer. Er war inzwischen Mitte dreißig und bezog eine Unfallrente. .... Philip hatte von meinen Experimenten mit Phantomgliedern in seiner Tageszeitung gelesen. Er war verzweifelt. ’Herr Dr. Ramachandran’, sagte er, ’ich hoffe, Sie können mir helfen.’ Er blickte auf seinen fehlenden Arm hinab. ’Ich habe ihn vor zehn Jahren verloren. Doch seither habe ich schreckliche Schmerzen im Ellbogen, dem Handgelenk und den Fingern des Phantomglieds.’ Als ich mich eingehender mit ihm unterhielt, erfuhr ich, daß Philip in diesen zehn Jahren nie in der Lage gewesen war, seinen Phantomarm zu bewegen. Er war ständig in einer störenden Position fixiert. Litt Philip unter einer erlernten Lähmung ? Wenn ja, konnten wir dann das Phantom mit unserem VR-Kasten zu visuellem Leben erwecken und ihm auf diese Weise seine Beweglichkeit zurückgeben?

Ich forderte Philip auf, seine rechte Hand auf der rechten Seite des Spiegels in die Schachtel zu stecken und sich vorzustellen, seine linke Hand (das Phantomglied) befände sich auf der linken Seite. ’Nun möchte ich, daß Sie den linken und den rechten Arm gleichzeitig bewegen’ , wies ich ihn an. ’Das geht nicht’, sagte Philip. ’Den rechten Arm kann ich bewegen, aber der linke ist steif. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, versuche ich ihn zu bewegen, weil er sich in einer blöden Stellung befindet und weil ich glaube, daß es die Schmerzen lindern könnte, wenn ich ihn bewegen würde. ’Aber .... ich hab es nie geschafft, ihn auch nur einen Millimeter zu bewegen.’ ’Ich weiß, Philip, versuchen Sie es trotzdem!’ Philip drehte Körper und Schulter so, daß er sein lebloses Phantomglied in den Kasten einführen konnte. Dann steckte er die rechte Hand auf der anderen Seite des Spiegels durch die Pappwand und versuchte synchrone Bewegungen auszuführen. Als er in den Spiegel blickte, stieß er einen Laut des Erschreckens aus und rief: ’Oh, mein Gott! Das ist unglaublich. Das haut mich um. .... Mein linker Arm funktioniert wieder. Als wenn ich in die Vergangenheit zurückversetzt wäre. .... Ich kann spüren, wie sich mein Ellbogen bewegt, mein Handgelenk. Alles bewegt sich wieder.’ Nachdem er sich ein bißchen beruhigt hatte, sagte ich: ’Okay, Philip, schließen Sie jetzt die Augen.’ Er tat es. ’O nein’ , sagte er nun, offenkundig enttäuscht. ’Er ist wieder steif. Ich spüre, wie sich meine rechte Hand bewegt, habe aber keine Bewegung im Phantom.’ ’Öffnen Sie die Augen.’ ’O ja, jetzt bewegt er sich wieder.’

Es war, als hätte Philip eine vorübergehende Hemmung oder Blockierung der neuralen Schaltkreise, die das Phantomglied normalerweise bewegen, und als wäre dieser Block durch das visuelle Feedback überwunden worden. Noch erstaunlicher, diese Körperempfindungen der Armbewegungen wurden sofort empfangen, obwohl Philip sie in den zurückliegenden Jahren nie gespürt hatte! So verblüffend Philips Reaktion auch war und so sehr sie für meine Hypothese von der erlernten Lähmung sprach, fragte ich mich an diesem Abend auf dem Heimweg trotzdem: ’Na schön, der Junge bewegt also sein Phantomglied wieder. Und was bringt das? Bei näherem Nachdenken ist es eine vollkommen nutzlose Fähigkeit’ ....

Doch vielleicht ist die erlernte Lähmung ein viel häufigeres Phänomen, als wir annehmen. Beispielsweise könnten Menschen mit vorhandenen Gliedern betroffen sein, die .... nach einem Schlaganfall gelähmt sind. Warum können manche Schlaganfallpatienten ihren Arm nicht mehr bewegen? Beim Verschluß eines Blutgefäßes, welches das Gehirn versorgt, wer- den die Fasern, die sich vom vorderen Teil des Gehirns das Rückenmark hinabziehen, nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und erleiden eine Schädigung, mit dem Ergebnis, daß der Arm gelähmt ist. Doch in der Anfangsphase eines Schlaganfalls schwillt das Gehirn an, wodurch einige Nerven absterben, andere aber nur betäubt, gewissermaßen vom Netz genommen werden. Während dieser Zeit ist der Arm unbrauchbar, und das Gehirn erhält die visuelle Rückmeldung: ’Nein, der Arm bewegt sich nicht.’ Sobald die Schwellung zurückgegangen ist, verharrt das Gehirn möglicherweise in einer Art erlernter Lähmung. Ließ sich mit unserer Spiegelvorrichtung die Lähmungskomponente beseitigen, die auf einem Lernprozess beruht? (Gegen eine Lähmung, die durch die tatsächliche Zerstörung von Nervengewebe verursacht wird, läßt sich mit Spiegeln natürlich nichts ausrichten.)

Doch bevor wir diese neue Behandlungsform bei Schlaganfallpatienten erproben konnten, mußten wir uns davon überzeugen, daß der Effekt mehr war als nur eine vorübergehende Bewegungsillusion im Phantomglied. (Erinnern wir uns, daß das Bewegungsempfinden im Phantom verschwand, wenn Philip die Augen schloß. ) Was würde sein, wenn ein Patient mit dem Kasten trainierte und mehrere Tage lang ein ständiges visuelles Feedback erhielte ? War es denkbar, daß das Gehirn die Wahrnehmung der Schädigung verlernte und daß die Beweglichkeit auf Dauer zurückkehrte? Am nächsten Tag ging ich zurück und fragte Philip: ’Haben Sie Lust, das Gerät mit nach Hause zu nehmen und damit zu üben?’ ’Klar’, sagte Philip, ’das nehm ich gern mit. Ich find es toll, meinen Arm wieder bewegen zu können, auch wenn es nur vorübergehend ist.’ Also nahm Philip den Spiegel mit nach Hause.

Eine Woche später rief ich ihn an. ’Was ist passiert?’ ’Das ist merkwürdig, Herr Doktor, ich benutze die Vorrichtung jeden Tag zehn Minuten lang. Ich stecke meine Hand hinein, bewege sie umher und probiere aus, wie das ist. .... Aber wenn ich die Augen schließe, klappt es immer noch nicht. Und ohne Spiegel erst recht nicht. Ich weiß, Sie möchten, daß sich mein Phantomarm wieder bewegt, aber ohne Spiegel geht das nicht.’

Drei weitere Wochen verstrichen, bis mich Philip eines Tages sehr aufgeregt anrief. ’Herr Doktor’, rief er, ’es ist weg!’ ’Was ist weg?’ .... ’Mein Phantom ist weg .... mein Phantomarm, den ich zehn Jahre lang hatte. Es gibt ihn nicht mehr. Ich hab nur noch die Phantomfinger und die Handfläche, und die hängen jetzt von meiner Schulter herab!’ ....’Und stört Sie das, Philip?’ ’Aber nein, überhaupt nicht .... Jetzt hab ich keinen Ellbogen und keine Schmerzen mehr. Allerdings habe ich immer noch meine Finger, die von der Schulter herabhängen, und die tun noch weh. .... Leider ist Ihr Spiegelkasten jetzt wirkungslos, .... weil meine Finger zu weit oben sitzen. Können Sie die Anordnung so verändern, daß ich auch meine Finger loswerde?’

Ich war mir nicht sicher, ob ich Philips Bitte erfüllen konnte, aber mir war klar, daß es sich hier wahrscheinlich um das erste Beispiel für die erfolgreiche ’Amputation’ eines Phantomglieds in der Medizingeschichte handelte! Aus dem Experiment ergab sich folgender Schluß: Wenn Philips rechter Scheitellappen widersprüchliche Signale empfing - die visuelle Rückmeldung sagte ihm, sein Arm bewege sich wieder, während ihm seine Muskeln mitteilten, der Arm sei nicht vorhanden - , dann nahm sein Geist Zuflucht zu einer Art von Verleugnung. Sein gemartertes Hirn vermochte mit dem bizarren sensorischen Konflikt nur fertig zu werden, indem es sagte: ’Verdammt nochmal, es gibt keinen Arm!’ Als schöne Zugabe verlor Philip mit dem Arm auch den Schmerz im Ellbogen.“ (S. 95 - 100)

zu 2.:
Indem er seiner frei assoziierenden Neugierde keine wissenschaftssystematischen Grenzen setzt, gelangt er zu den unterschiedlichsten Themen (Bildgebende Untersuchungstechniken und Hirnkartierung, Hemisphärenspezialisierung, Aufmerksamkeits- und Bewußtseinstheorie, Leib-Seele-Problem, Wahrnehmungs- und Evolutionspsychologie, Identitäts- und Selbst-Konzept, Multiple Persönlichkeit und Traumaktivität, Schein- und Sympathie-Schwangerschaft, Witz, Humor und Religiosität etc.), ergeht sich in geistreichen Spekulationen, schlägt Experimente vor oder führt sie durch. Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:
„Das ganze Buch über sprüht Ramachandran vor Ideen, entwirft am laufenden Band Experimente, die noch ausgeführt werden müßten, klassifiziert und spekuliert und pfuscht den Philosophen ins Handwerk. Ein Buch, das staunen macht.“) (s. Klappentext).

zu 3.:
In seinen eingeschobenen, anschaulich bebilderten Neurologielektionen erweist sich Ramachandran als außergewöhnlich begabter Didaktiker mit untrüglichem Blick für das Wesentliche. Schon deshalb lohnt die Lektüre.

zu 4.:
Oliver Sacks schreibt in seiner Einleitung:
„In seinen Händen gewähren uns all diese Themen tiefe Einblicke in die Beschaffenheit unseres Nervensystems, unserer Welt und unseres innersten Selbst, so daß seine Arbeit zu einer, wie er sagt, Form ’experimenteller Erkenntnistheorie’ wird. Auf seine Weise ist er ein Naturforscher nach Art des 18. Jahrhunderts, wenn auch ausgestattet mit dem ganzen Wissen und Know-how des späten 20. Jahrhunderts.“ (S. 13)
.... wie Johann Wolfgang von Goethe, der Nestor jener sorgfältig wahr-nehmenden und poetisch erzählenden Naturforschung.

Erkenntnistheoretisch betrachtet, handelt es sich dabei nicht um Deduktionen (Ableitungen von vorgegebenen Theorien) auch nicht um Induktionen (Verallgemeinerungen von Stichproben auf Gesamtheiten), sondern um Abduktionen (Zuordnungen von neuartigen Beobachtungen zu erklärenden Begriffen und Sätzen). Die Überprüfung einer abduktiven Hypothese ist ebensowenig auf repräsentative Stichproben angewiesen, sondern geschieht zunächst an dem Objekt, in unserem Fall an dem Menschen, an dem sie entwickelt wurde. Ramachandran ist ein Meister dieser kasuistischen Forschungsweise. Sie ist besonders relevant für alle Sozialpraktiker, die nicht umhin können, jeden Klienten als neues Forschungsfeld zu begreifen, um ihn in seiner Individualität zu verstehen, ohne gleich auf Verallgemeinerungen auf andere Klienten erpicht zu sein. Wenn wir als Erzieher, Pflege- und Adoptiveltern die oft verwirrenden Merkwürdigkeiten unserer traumatisierten Kinder verstehen wollen, befinden wir uns genau in der Situation eines praktizierenden Neurologen, der immer wieder damit konfrontiert ist, seinen Patienten nicht einfach diagnostischen Kategorien zuordnen zu können, sondern ihn in seiner Besonderheit geradezu detektivisch zu erfassen und in Sprache zu übersetzen. Weil es sich dabei aber nicht um einen Zustand, sondern um ein Geschehen handelt, führt jene Übersetzung nicht zu einem diagnostischen Begriff, sondern zu einer erzählenden Geschichte.

Wer sich dazu ermutigen und befähigen lassen will, dem sei die praxisbegleitende Lektüre des vorgestellten Buches wärmstens empfohlen.

Kurt Eberhard, September 2002

 

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