FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Paula Fox

In fremden Kleidern
Geschichte einer Jugend

Beck-Verlag, 2003
(288 Seiten, 19,90 Euro)

 

Seit einigen Jahren bringt der Beck-Verlag die Bücher der großen amerikanischen Autorin in deutscher Sprache heraus. In diesem Jahr wird sie 80 Jahre alt, und der Verlag nimmt ihren Geburtstag zum Anlaß, ihren 1999 in den USA erschienenen autobiographischen Roman in Deutschland zu veröffentlichen.

Die gesamte schriftstellerische Arbeit der Autorin ist Verarbeitung traumatischer Kindheitserfahrungen und somit autotherapeutische Biographiearbeit. Daß dem Leser mit >In fremden Kleidern< gleichzeitig ein beeindruckender Roman geboten wird, ist einhellige Auffassung zahlreicher Würdigungen. Hier soll der Schwerpunkt auf die Kindheitserfahrungen gelegt werden, die typisch sind für unsere Heim- und Pflegekinder.

Ihre Mutter war neunzehn Jahre alt, als Paula geboren wurde. Gegen die Wünsche des schwachen Vaters gab sie das Kind ein paar Tage nach der Geburt in ein Findelhaus. Mit fünf Monaten kam sie zu Pfarrer Ellwood, einem Seelsorger einer armen Landgemeinde, dessen Einkommen kaum ausreichte, seine pflegebedürftige Mutter, sich selbst und sein baufälliges Haus zu versorgen. Ihre ersten fünf Lebensjahre lebte sie bei diesem gütigen und klugen Mann, ohne daß die Eltern das geringste Interesse an ihr zeigten. Plötzlich tauchte der Vater in ihrem Leben auf. Nach einigen Umgangskontakten mit den Eltern, bei denen sie den Haß der Mutter und die Egozentrik des Vaters erfuhr, wurde sie zu den inzwischen in Kalifornien lebenden Eltern gebracht.

„Wenn ich mir die kurze Zeit vor Augen führe, die ich in diesem Haus verbrachte, bin ich immer draußen, und es ist Nacht. .... Das Haus ist geräumig, die Fenster sind teilweise versteckt hinter aufwendig gearbeiteten eisernen Gittern. Eine Außentreppe führt in den obersten Stock. Große, schattige Häuser stehen etwas von der Straße entfernt, von teuren Gärten und mir unvertrauten Bäumen voneinander getrennt.

Nachdem sie ihre Pflicht, mich in Kalifornien abzuliefern, erfüllt hatte, fuhr Tante ]essie nach ungefähr einer Woche wieder an die Ostküste, wo ihre Mutter lebte, die sie in der Obhut einer Haushälterin gelassen hatte. Am Abend des Tages, an dem sie ihren Zug nach New York bestieg, gingen Daddy und meine Mutter auf eine Party und ließen mich allein.

In der langen Dämmerung wanderte ich durch türlose, höhlenartige Räume mit Balkendecken und grob verputzten weißen Wänden und machte Licht, wo ich einen Schalter erreichen konnte. Kühle stieg von den roten Fliesen des Bodens auf. Tische und Stühle waren aus irgendeinem dunklen Holz. Ein plumpes rosafarbenes Sofa kauerte in der Mitte eines der größeren Zimmer. Das unvermittelte Gebell eines Hundes erschreckte mich, jedes Bellen war wie ein Pistolenschuß. Ich erreichte die Eingangstür, öffnete sie und trat nach draußen. Sie schlug hinter mir zu. Ich drehte den Metallgriff. Schon als ich ihn hin- und herdrehte, wußte ich, daß ich ausgesperrt war.

Die Dunkelheit zog sich um mich zusammen, und einen Moment lang bekam ich keine Luft. Es war, als ob die Nacht ein schwarzer Sack sei, in den ich geworfen worden war. Ich lauschte. Ein leichter Windhauch ließ die Blätter der Bäume rascheln; plötzlich beschleunigte ein Auto mit knirschend eingelegten Gang auf einer unsichtbaren Straße. Ich hörte das stetige Plätschern eines Wasserfalls an der Rückseite des Hauses. Auf Zehenspitzen ging ich über das Gras darauf zu. ....

Plötzlich tauchte ein paar Meter entfernt ein Mann auf. Sein Kopf war etwas zur Seite geneigt, als ob auch er lauschte. Als er mich sah, sagte er: ‚Ich habe denselben Fehler schon einmal gemacht. Erst denke ich, ich habe den Rasensprenger angelassen. Dann merke ich, daß es das Geräusch von eurem kleinen Wasserfall ist.’ Er wies mit einer Handbewegung darauf.

‚Ich in ausgesperrt’, teilte ich ihm mit. Er nickte bestätigend. Er schien zu wissen, daß niemand zu Hause war. Er sagte: ‚Wir gehen zu mir. Hast du Hunger?’ Ich bejahte, obwohl ich nicht hungrig war. Er streckte seine Hand aus, und ich nahm sie. Wir gingen den kurzen Weg zu seinem Haus.

In der Küche schnitt seine Frau eine Banane in eine Schale. Ich aß am Küchentisch, während mich ihre ernsten, freundlichen Gesichter beobachteten. Als ich die Banane gegessen hatte, war ich so schläfrig, daß ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Die Frau führte mich die Treppe hinaus in ein Gästezimmer, das niemand mehr benutzt hatte, seit ihr Sohn erwachsen geworden und in einen anderen Staat gezogen war, um dort zu arbeiten. Ich kroch in Unterwäsche unter das Laken, und sie zog eine Steppdecke über mich. Als ich schon fast eingeschlafen war, flüsterte sie, daß sie die Steppdecke selbst genäht habe.

Am nächsten Tag ging ich frühmorgens zum Haus meiner Eltern zurück und stieg die Außentreppe hinauf zu einer Tür. Sie war nicht verschlossen. Ich öffnete sie und rief: ‚Daddy!’

Von einem der beiden Betten erhob sich eine Decke in die Luft wie ein großes Tier, das auf seine vier Füße kommt. Plötzlich hielt mich mein Vater wie eine Stoffpuppe und lief die Hintertreppe hinunter. Seine Pyjamajacke war nicht zugeknöpft. Ich sah flüchtig Flecken blasser Haut, als wir die Küche betraten, wo ein schwarzes Dienstmädchen gerade bügelte. Er schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken, als er auf der Suche nach einem Stuhl überall herumwirbelte. Was er gewollt hatte, war, mich aus dem Schlafzimmer herauszubekommen.

Ich wußte, es war nicht meine Mutter in dem anderen Bett. Ich hatte blondes Haar auf dem Kopfkissen gesehen.

Er setzte sich auf einen Stuhl, legte mich zurecht und begann, mir den Hintern zu versohlen. ‚Mr. Fox! Das ist nicht richtig! Es ist ungerecht!’ protestierte das schwarze Mädchen. Mein Vater sah zu ihr auf, als ob ihn ihre Anwesenheit überraschte. ....

Ich fand nie heraus, wo meine Mutter die Nacht verbracht hatte. Und mein Vater fragte mich nie, wo ich gewesen war, bevor ich die Tür zum Schlafzimmer öffnete.“ (S.78-81)

Nur wenige Tage verbringt Paula im Hause der Eltern, dann stellt die Mutter ihren Mann vor die Alternative: ‚Entweder sie geht oder ich’. Damit beginnt ein endloser Orts- und Personenwechsel, der ihre gesamte Kindheit und Jugend durchzieht. Sie wird bei einer alten Frau abgegeben, verbringt Wochen in einem Sommercamp, kommt nach rund einem Jahr noch einmal zu ihrem Pflegevater zurück, wird dort aber nach wenigen Tagen von ihrer Großmutter herausgeholt, bei der sie mit wechselnden Personen und Orten die nächsten Jahre verbringt. Ihre Eltern verschwinden einige Jahre nach Europa, tauchen wieder auf, als Paula zehn Jahre war.

Rund ein Jahr später:
„Ich empfand kein Bedauern, als ich meiner Großmutter auf Wiedersehen sagte. Ich fuhr mit meinen Eltern nach Florida, wo wir in einem Haus wohnen sollten, das einer Freundin meiner Mutter gehörte und von dieser nur selten benutzt wurde. Ich würde endlich dort sein, wo ich sein wollte, dachte ich. .... Mein Herz hatte sich meiner Großmutter gegenüber verhärtet. Ihre Schuld lag für mich darin, daß sie mich von Onkel Ellwood fortgebracht hatte. Es gab Tage, an denen ich ihr nichts verzieh. Dann reizte mich sogar ihr Gang. Sie hatte Schmerzen in den Füßen, entzündete Ballen und Hühneraugen. Ich hatte eine Abneigung gegen die Art, wie sie stolpernd umherging. Sie sagte oft: ‚Ich weiß viele Sachen’, und wenn mein Vater diese Worte nachmachte, reagierte ich mit mehr Heiterkeit, als ich eigentlich empfand, als ob sie mich sehen und hören könnte, wie ich über sie lachte. ...Manchmal versuchte sie, mich mit Geschichten zu unterhalten; ich reagierte kalt und weigerte mich zu lächeln. An machen Tagen vergaß ich meinen Groll, war befreit von dem verdrießlichen bitteren Gefühl, das mein Herz schwer machte, bis mich erneut Feindseligkeit gegen sie überkam.“ (S.171-172)

Nach wenigen Tagen fahren die Eltern nach New York zurück und überlassen Paula der in dem Haus lebenden Haushälterin. Auch diese Station ist nicht von Dauer. Ihr Vater holt sie nach New York zurück, die Eltern lassen sich scheiden. Paula lebt wieder bei der Großmutter, vorübergehend beim Vater und seiner neuen Partnerin, dann in einem kanadischen Mädchenpensionat, wieder kurz beim Vater und in einem Studenten-
wohnheim ...

Mit rund neunzehn Jahren landet sie auf Vermittlung ihres Vaters in Kalifornien, wo sie niemanden kennt, völlig vereinsamt und sich mit armseligen Jobs über Wasser hält.

„Ich ging eine kurze katastrophale Ehe mit einem Schauspieler ein, den ich im International House kennengelernt hatte. Er war auf einem Schiff nach Kalifornien gekommen und Mitglied der Mannschaft, ein sogenannter Vollmatrose. Das war seine reguläre Arbeit. Er war fast doppelt so alt wie ich. Er sagte, wir sollten besser heiraten, und ich konnte mir keine Alternative dazu vorstellen, obwohl ich ihn nicht besonders mochte. ....

Das Zimmer mit Kochnische und Bad war dürftig möbliert und dunkel. Ich wußte nichts von häuslichen Angelegenheiten. Als er mich mit einer Handvoll Scheinen hinausschickte, ging ich in ein Lebensmittelgeschäft und kaufte Hot Dogs. Er machte mir eine Szene, als ich damit heimkehrte, und fragte mich, ob ich denn überhaupt keine Ahnung hätte. Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung. ....

Einige Tage später, nachdem ich die Hot Dogs mit heimgebracht hatte, fand ich einen Job als Kellnerin in einem griechischen Café-Restaurant. Als ich eine Woche dort gearbeitet hatte, holte mich der Schauspieler ab, und wir fuhren in die Innenstadt von Los Angeles. Ich dachte, er werde mich zum Abendessen ausführen. Statt dessen fuhr er mit mir zu einem Busbahnhof, wo er einen Bus nach New York bestieg. Er hatte sich diese Neuigkeit für die letzten zehn Minuten aufgespart. Er sollte an Bord eines Handelschiffes gehen, das nach Murmansk in die Sowjetunion fuhr.“ (S. 262-263)

Noch vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag bringt sie aus einem flüchtigen sexuellen Kontakt eine Tochter zur Welt und gibt sie zur Adoption frei. Als sie nach einigen Tagen diesen Entschluß widerrufen will, erklärt man ihr, die gesetzliche Frist sei verstrichen. Als junge Frau findet ihre Tochter sie. Das angstvoll erwartete Treffen führt zu einer beglückenden Erfahrung:

„Sie war die erste mit mir verwandte Frau, mit der ich unbefangen sprechen konnte.“ (S. 285)

Dieses Buch leistet, was gute Literatur leisten soll: es läßt das Leid eines Menschen ohne pathetische Sentimentalität im Leser erstehen. Wir, die wir im Berufsleben mit ähnlichen Kindheitsschicksalen konfrontiert werden, Erzieher, Sozialarbeiter, Anwälte und Richter, es aber schwer haben, die kindliche Perspektive einzunehmen, weil wir unsere Kindheit weit hinter uns gelassen haben, können es >in fremden Kleidern< gründlich üben. Ferner schildert dieser Roman, worauf Wissenschaft nur hinweisen kann: das persönlichkeitsformende Wechselspiel von traumatisierenden und protektiven Geschehnissen.

Gudrun Eberhard (Juli 2003)

 

 

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