FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Dörte Stolle

»Dissoziale Jugendliche zwischen Straße, Hilfe und Justiz«

Iskopress Salzhausen, 2003
(180 Seiten, 21,80 Euro)

 

Frau Dr. Dörte Stolle ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und für Psychotherapeutische Medizin. Sie leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Schleswig.

In der Einführung wird die Zielsetzung umrissen:
„Dieses Buch versucht, die Komplexität des Störungsbildes »Dissoziales Verhalten« zu beleuchten. Fallbeispiele sollen die schwierigen, aber auch die starken Seiten dieser Kinder und Jugendlichen aufzeigen. Ziel ist es, die Barrieren aus dem Weg zu räumen, die zur Zeit noch zwischen den verschiedenen Hilfesystemen bestehen. Die unterschiedlichen Aufträge der Beteiligten, ihre gemeinsamen Schnittstellen werden analysiert und durch die Entwicklungsgeschichten der Kinder und Jugendlichen belebt. Ein neuer Blick, der offen ist für ihre Ressourcen, lädt ein, Kooperationsmodellen und Prävention mehr Chancen zu geben.“ (S. 17)

Die Durchführung dieses Programm ist aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich. Dessen Hauptüberschriften lauten:
Vorwort von Prof. Dr. Heribert Ostendorf
Einführung
Ursachen
Beteiligte Institutionen
Kooperation
Prävention
Ausblick
Glossar
Stichwortregister
Literatur

Die phänomenale Frage (’Was ist Dissozialität?’) beantwortet die Autorin mit der Begriffsbestimmung ’Störung des Sozialverhaltens’ aus dem ICD und der Nennung häufiger Begleitsymptome (S. 15)

Auf die kausale Frage, die Frage nach den Ursachen, antwortet sie zunächst mit drei Hauptkomponenten:
Dissozialem Verhalten liegt immer ein Bedingungskonglomerat aus Disposition, Auslöser und Gelegenheit zugrunde. Zu störendem abweichenden Verhalten kommt es nur, wenn alle drei Faktoren vorhanden sind.“ (S. 18)

Dann fächert sie dieses Konglomerat in verschiedene Einflußfaktoren auf und widmet jedem ein Unterkapitel:
Biologische Einflüsse, Psychosoziale Ursachen, Persönlichkeit und Temperament, Lern- und Leistungsstörungen, Geschlecht als Gefährdung, Familiensituation, Pubertät und Adoleszenz, Alkohol- und Drogenkonsum, Schulsituation, Wohn- und Lebensraum, Medieneinflüsse (S. 18 - 25)

Bei den biologischen Einflüssen folgt sie - wenn auch ohne expliziten Bezug auf die einschlägige Literatur - dem aktuellen neuropsychologischen Paradigma:
„Konflikte, die Kinder erleben, z. B. Vernachlässigung, Traumen und phasenspezifische Umbruchzeiten wie die Pubertät, sind »Stressoren«. Sie bilden sich nicht nur im psychosozialen Verhalten des Kindes ab, sondern führen auch im neurobiologischen System zu deutlichen Veränderungen und Reaktionen. Diese »Stressoren« stören die emotionale Balance, sie aktivieren neuronale und neuroendokrine Systeme, die wiederum emotionale Reaktionen wie Wut, Ärger, Angst oder Trauer, hervorrufen.“ (S. 19)

Die Bindungstheorie kommt bei den psychosozialen Ursachen zum Zuge:
„Wenn ihre Bezugspersonen inkonsistentes Verhalten zeigen, wenn sie frustrierend, gewalttätig oder vernachlässigend sind, dann belastet das Kinder sehr stark. Sie sind dann nicht in der Lage, ihre Reaktionen zu organisieren, und zwar weder im affektiven noch im kognitiven Bereich. Sie sind unfähig, das Vorgehen ihrer Erziehungspersonen vorauszusehen oder gar zu ändern, was bei ihnen zu extremer Angst, Wut oder Trauer führt. Schon im Kindergartenalter kann sich eine solche unsichere Bindung in einem erpresserisch-eskalierenden Verhalten ausdrücken, und in der Schulzeit fallen viele dieser Kinder und Jugendlichen durch Grenzüberschreitungen und Regelverstöße auf oder ziehen sich zurück.“ (S. 20/21)

Unter ’Beteiligte Institutionen’ findet sich ein Unterkapitel ’geschlossene Heimerziehung’, das in der zum Dauerritual erstarrten Kontroverse zwischen sicherheitspolitischen Befürwortern und antiautoritären Gegnern eine intensivpädagogische Zwischenposition einnimmt, die sich unter Abwandlung der vielzitierten Parole “Menschen statt Mauern“ mit dem Motto “Menschen UND Mauern“ überschreiben ließe:
„In besonderen Krisensituationen können Grenzziehungen mit Freiheitsentzug notwendig sein. Enge Strukturgebung, gegen den Willen des Jugendlichen, ist eine pädagogische Intervention neben anderen, die sich am Einzelfall orientiert und die ständig hinsichtlich ihrer Notwendigkeit überprüft werden muss. Geschlossene Erziehung ist nicht die Lösung für eine ansteigende oder von der Qualität her problematischer werdende Jugendkriminalität. Auch aus geschlossener Erziehung entweichen Kinder und Jugendliche. Von besonderer Bedeutung ist hier, dass dem Jugendlichen immer wieder eine Beziehung angeboten wird; er muss die Sorge und das hartnäckige Werben um ihn deutlich spüren; wenn er wegläuft, muss er unermüdlich gesucht und zurückgeholt werden. Erziehung unter Freiheitsentzug kann nur die Ausnahme sein. Sie stellt höchste Ansprüche an die Pädagogen. .... Eine sehr gute personelle Ausstattung, Supervision, eine hilfreiche Vernetzung mit den Jugendämtern, den Schulen, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und mit der Polizei sind notwendig.“ (S. 59)

„»Geschlossene Unterbringung« muss unter dieser Maßgabe aufrichtiger als bisher diskutiert werden. Der Vorwurf steht im Raum, dass durch die Tabuisierung und Emotionalisierung Kinder und Jugendliche, die Pädagogik benötigen, in das medizinische System, also die Kinder- und Jugendpsychiatrie, gedrückt werden oder durch Zuwarten in den Strafvollzug gelangen.“ (S. 68)

Der ambulanten Jugendhilfe wünscht die Autorin ergänzend zur anbietenden eine aufsuchende bzw. intervenierende Aktivität. Sie beruft sich dabei auf Denkmann aus der Projektgruppe ’Jugendkriminalität und abweichendes Verhalten von Kindern’ des Jugendministeriums Schleswig-Holstein:
„Denkmann fordert, dass die Jugendhilfe rechtlich legitimiert wird, sich »aufzudrängen«. Das Jugendamt sollte die Befugnis erhalten, von sich aus aktiv zu werden. Zwischen den beiden Extremen - der Hilfe als staatlich offerierter Serviceleistung auf der einen Seite und dem totalen oder partiellen Sorgerechtsentzug per Gerichtsbeschluss wegen akuter Gefährdung des Kindeswohls auf der anderen Seite - muss es zukünftig eine Kompetenz zum Eingreifen und zugleich eine Verpflichtung des Jugendamtes zur aktiven Hilfe geben, wenn diese offensichtlich erforderlich ist, um die Ziele von § 1 SGB VIII zu erreichen.“ (S. 66)

Im Kapitel ’Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie’ greift sie das Thema ’geschlossene Behandlung’ noch einmal auf:
„Freiheitseinengende oder freiheitsentziehende Maßnahmen in der KJPP [Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie] sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie dazu geeignet sind, die therapeutischen Bemühungen auch tatsächlich zu sichern. .... Die Therapeuten passen die freiheitsentziehenden bzw. -einengenden Maßnahmen den Notwendigkeiten des fortschreitenden therapeutischen und pädagogischen Prozesses an, der letztlich auf die Entwicklung von Selbstbestimmung und Autonomie abzielt.“ (S. 110)

„Von den 311 jungen Patienten, die im Jahr 2001 mit der Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« in stationäre Behandlung der KJPP kamen, wurden 21 für einen Zeitraum von zwei Tagen bis zu sechs Wochen geschlossen behandelt.“ (S. 112)
Das sind wesentlich höhere Zahlen, als sie aus dem zuständigen Kieler Ministerium verlautbart wurden.

Im letzten Kapitel wird die aktionale Frage (’Was können wir tun?’) noch einmal zusammenfassend beantwortet:
 „Die Arbeit mit diesen Kindern sollte grundsätzlich in Kooperation gestaltet werden.
Zwei Ansätze möchte ich hervorheben:
1. Förderung der Ressourcen. Das bedeutet, die Stärken dieser Kinder und Jugendlichen zu erkennen und zu fördern mit einem offenen Blick für Schutzfaktoren und Resilienz.
2. Erziehung. Das heißt:

  • hartnäckig ein Beziehungsangebot wiederholen, werben um und sorgen für das betroffene Kind, es suchen und zurückholen, wenn es weggelaufen ist;
  • Grenzen setzen, deren Einhaltung üben und Überschreitungen sanktionieren.“ (S. 166)

Wegen seiner engagiert praxisorientierten, lebendig geschilderten, mit zahlreichen Fallbeispielen illustrierten und viele Berufsfelder überblickenden profunden Sachkunde kann Dörte Stolles Buch allen Sozialarbeitern, Pädagogen, Psychologen und Psychiatern, die für die Erziehung und Therapie dissozialer Jugendlicher verantwortlich sind, besonders empfohlen werden.

Enttäuschend ist, daß die Autorin trotz ihrer Betonung der präventiven Maßnahmen den praktisch bedeutendsten, nämlich den Adoptions- und Pflegefamilien, kein einziges Kapitel gewidmet hat.

Kurt Eberhard  (Dezember 2003)

weitere Beiträge zum Thema Geschlossene Unterbringung - pro/contra

 

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