FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Herausgeber: Zero to Three,
National Center for Infants,
Toddlers and Families

Diagnostische Klassifikation: 0 - 3

Seelische Gesundheit und
entwicklungsbedingte Störungen
bei Säuglingen und Kleinkindern

Springer-Verlag Wien, 1999
(130 Seiten, 38 Euro)


Psychodiagnostik ist ohne die Diagnoseschlüssel DSM und ICD kaum noch vorstellbar.
Deren Kategorien sind aber für die Kleinkinddiagnostik nicht geeignet. Diese Lücke auszufüllen, beansprucht der Klassifikationsschlüssel 0 - 3 des National Center for Infants, Toddlers and Families in den USA. Aus dem Vorwort:
"Die diagnostische Klassifikation 0-3 kategorisiert emotionale und verhaltensbedingte Muster, die signifikante Abweichungen von der normalen Entwicklung der frühesten Lebensjahre darstellen. Manche der vorgestellten Kategorien stellen neue Beschreibungen von seelischen Gesundheits- und Entwicklungsproblemen dar. Andere Kategorien beschreiben die frühesten Manifestationen seelischer Gesundheitsprobleme, die bei älteren Kindern und Erwachsenen bereits identifiziert worden sind, jedoch bei Kleinkindern bisher nicht ausreichend beschrieben wurden. Im Kleinkindalter und in der frühen Kindheit können diese Probleme verschiedene Charakteristika haben, und die Prognose kann besser ausfallen, wenn effektive Frühförderung vorgenommen werden kann.
     Die diagnostische Klassifikation 0-3 ist das Produkt der multidisziplinären diagnostischen Arbeitsgruppe, die 1987 von ZERO TO THREE / National Center for Clinical Infant Programs gegründet wurde; einer Organisation, die interdisziplinärer, professioneller Vorreiter im Bereich der Kindesentwicklung und der geistigen Gesundheit des Kleinkindes ist. Zur Arbeitsgruppe zählen führende Ärzte und Forscher aus Kinderzentren der USA, Kanadas und Europas. Das Ziel der Arbeitsgruppe ist es, Informationen über Kleinkinder mit klinischen Problemen, die diagnostiziert und behandelt wurden, zu sammeln. Während der letzten sechs Jahre hat die Arbeitsgruppe Daten von systematischen Berichten über Kinder aus verschiedenen Zentren gesammelt, die mit Kleinkindern und Familien arbeiten. Die Datensammlung diente als Grundlage für Falldiskussionen und der Identifikation wiederkehrender Muster von Verhaltensproblemen. Als Resultat dieser Diskussionen wurden die beschreibenden Kategorien entwickelt, und jede Kategorie wurde im folgenden durch die Betrachtung neuer Fälle, die die vorangegangene Formulierung in Frage stellten, weiter verfeinert."

Das Inhaltsverzeichnis zeigt die fünf diagnostischen Dimensionen:

Einleitung
Beobachtung und Diagnose
Übersicht des Klassifikationssystems
Richtlinien zur Auswahl der passenden Diagnose
Aktuelle Forschungsansätze

Achse I: Primäre Diagnosen
100. Die posttraumatische Streßstörung,
200. Affektstörungen,
201. Angststörungen im Säuglings- und Kleinkindalter
202. Stimmungsstörung: Verlängerte Trauer/Gramreaktion
203. Stimmungsstörung: Depression im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit
204. Gemischte Störung des emotionalen Ausdrucks
205. Geschlechtsidentitätsstörung der frühen Kindheit
206. Reaktive Bindungsstörung/Deprivation/Vernachlässigung in der frühen Kindheit
300. Anpassungsstörung
400. Regulationsstörungen
401. Typ I: Hypersensitiv
402. Typ II: Unterreaktiv
403. Typ III: Motorisch desorganisiert, impulsiv
404. Typ IV: Andere
500. Schlafverhaltensstörung
600. Eßverhaltensstörung
700. Störungen der Bezogenheit und der Kommunikation Multisystemische
       Entwicklungsstörung
701. Muster A
702. Muster B
703. Muster C

Achse II: Klassifikation der Beziehungsstörungen
901. Überinvolviert
902. Unterinvolviert
903. Ängstlich gespannt
904. Zornig-feindselig
905. Gemischte Beziehungsstörung
906. Mißbrauchende Beziehungsstörung
906 a. Verbal mißbrauchend
906 b. Körperlich mißbrauchend
906 c. Sexuell mißbrauchend

Achse III: Medizinische Probleme, Entwicklungsstörungen und Krankheiten
Achse IV: Psychosoziale Belastungssituation
Achse V: Funktionell-emotionales Entwicklungsniveau

Appendix 1: Globale Einschätzungs-Skala der Eltern-Kind-Beziehung (GES-EKB)
Appendix 2: Die multisystemische Entwicklungsstörung
Appendix 3: Erklärung des Klassifikationssystems

17 Fallbeispiele
Index zu den Achse-I-Diagnosen der Fälle

Der Hauptteil ist den im allgemein gut nachvollziehbaren Definitionen und Zuordnungsregeln der Syndromdiagnosen gewidmet. Da die empirische Basis des vorliegenden Schlüssels wie auch seiner künftigen Entwicklung die systematisch organisierte Kasuistik ist, lohnt ein Blick auf die 17 Fallbeispiele. Wegen seiner Nähe zu den Störungen kumulativ traumatisierter Pflegekinder sei der Fall 'Marvelle' demonstriert.
"Marvelle ist 18 Monate alt, Mischling und die Tochter der 22jährigen Janice und Herrn R's (Alter unbekannt). Janice ist arbeitslos, lebt von Sozialunterstützung und ist intellektuell grenzbegabt. Sie hat eine Sonderschule besucht und die weiterführende Schule nicht abgeschlossen. J. hat eine Geschichte emotionaler Schwierigkeiten mit verbaler Explosivität und körperlicher Aggression anderen gegenüber, hat auch sexuell unangebrachtes Verhalten (z.B. Masturbation in Anwesenheit ihrer Pflegemutter) und war selbstmordgefährdet. Sie war als Kind und Heranwachsende bei mehreren Pflegeeltern und zwei Jahre im Heim. Anschließend wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo eine beginnende Persönlichkeitsstörung und eine Dysthymie festgestellt wurde.
     Janice wurde zur Begutachtung vom Gericht wegen fraglicher elterlicher Eignung und zur Untersuchung Marvelles überwiesen. Die Überweisung folgte nach einem Unfall, bei dem Marvelle zweit- und fast drittgradige Verbrennungen an den Füßen erlitt, während sie für ungefähr zwei Monate in der Obhut einer Bekannten von Janice, einer Frau C., gewesen war, da in Janices Wohnhaus keine Kinder erlaubt waren.
     Während der Untersuchung sprach Janice oft zu Marvelle, aber sie hatte eine Tendenz, sich zu wiederholen. Janice tendierte zu einem wütenden und feindlichen Ton in der Stimme und zeigte wenig positiven Affekt, außer beim Spielen mit ihrer Tochter. Bei strukturierten Aufgaben zeigte sie keinen Enthusiasmus und drückte wenig Genuß oder Freude über das Zusammensein mit ihrer Tochter aus. Janice war abrupt in ihrer Behandlung ihrer Tochter, war zeitweise sehr aufdringlich und kitzelte sie sehr oft. Am Ende des Interviews kam es doch zu ein wenig Herzlichkeit.
     Janices Augenkontakt war eindeutig auf die Momente begrenzt, in denen sie Marvelle zurechtwies oder Anweisungen gab. Es konnte kein Respekt festgestellt werden. Weiters war es für Janice besonders schwierig, die Rolle der erwachsenen Pflegeperson in einer Weise einzunehmen, die Marvelles entwicklungsmäßigen Ansprüchen und den Aufgaben entsprach. Sie war eingeschränkt in ihrer Fähigkeit, Marvelle zu lehren, klare Erwartungen über das, was sie von Marvelle wollte, zu vermitteln und ihre eigene Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Zusätzlich zeigte Janice eine Tendenz, sich über Marvelles negative Verhaltensweisen zu ärgern, sich aber wenig konsequent in der Reaktion auf positives und altersangemessenes Verhalten ihrer Tochter zu verhalten. Außerdem zeigte sie Schwierigkeiten in der Reaktion auf die Gefühlszustände Marvelles und im Reflektieren derer.
     Im Gegensatz dazu drückte Marvelle während der Untersuchung viel positiven Affekt aus, war fröhlich in der Anwesenheit ihrer Mutter und fand Spaß an ihren eigenen Leistungen. Sie zeigte die Fähigkeit, sich auf Aktivitäten gut zu konzentrieren und auch in Zuständen der Frustration nicht aufzugeben. Gleichzeitig jedoch warf sie auch Aufgabenmaterialien nach ihrer Mutter, wenn diese ihre Bemühungen nicht anerkennen konnte oder wollte. Man stellte auch fest, daß sie eine Reihe von ausweichenden Verhaltensweisen zeigte, wie z. B. vor Janice wegzulaufen, die Anordnungen zu ignorieren und nur flüchtigen Augenkontakt herzustellen. Zusätzlich zeigte Marvelle, besonders bei den strukturierten Aufgaben, ziemlich viel Widerwilligkeit. Mit den Aufgabenmaterialien spielte sie auf ihre eigene Art, verließ den Tisch, an den sie und Janice gesetzt wurden, und weigerte sich, mit ihrer Mutter zu spielen. Des weiteren tendierte Marvelle dazu, die Grenzen ihrer Mutter zu testen, indem sie wartete, bis sich ihre Mutter mit drohender Gebärde an sie wandte, bevor sie nachgab.
     Als Mutter-Kind-Paar fehlte jegliche gemeinsame Aufmerksamkeit und gemeinsames Engagement. Sie zeigten wenig Dialog oder abwechselndes Interagieren, waren schlecht im Timing und Rhythmisieren von Spielen, die in Harmonie miteinander vor sich gehen sollten. Es gab auch signifikante Diskrepanzen zwischen Janices und Marvelles Kontakt- und Aktivitätsstufen und ihren emotionalen Zuständen. Sie schienen in ein eckiges Kommunikationsmuster fixiert, das für beide nicht befriedigend war. Trotzdem sagte Janice, daß sie gern mit Marvelle zusammen sei, wenn ihr Marvelle zuhörte und wenn sie miteinander spielten. Sie sei aber sehr frustriert, wenn Marvelle mißlaunig sei und wenn es ihr nicht gelinge herauszufinden, was Marvelle will, braucht und fühlt. Marvelle erinnert Janice sowohl äußerlich als auch vom Temperament her an sich selbst. Janice meint, daß Marvelle ganz wie sie selbst zornig werde und herumjammere.
     Momentan gibt es wenig soziale Unterstützung für Janice und Marvelle. Janice lebt nicht mehr im selben Wohnhaus wie Frau C. Janices einzige andere Unterstützung ist ihr Freund. Ihre Beziehung zu diesem war jedoch bis jetzt sehr konfliktgeladen, was Janices allgemeinen Streßzustand wahrscheinlich noch erhöhte.
     Diskussion:
Mit drei Jahren ist Marvelle ein Kind mit einer ganzen Reihe besonderer Bedürfnisse. Es scheint, daß ihre Sprech- und Sprachrückständigkeit weiter anhält und ihr sozialer und emotionaler Status Sorgen machen muß. Sie tendiert dazu, andere als gleichzeitig umsorgend und aggressiv zu erleben. weil sie dieses Muster von ihrer Mutter kennt. Marvelle ist ambivalent in ihren Interaktionen mit Janice, wobei sie gleichzeitig vereinnahmen als auch Distanz bewahren möchte. Das Kind versucht Janice aus ihrer eigenen Welt und ihrem emotionalen Streß herauszuholen, hat aber Schwierigkeiten, die Intensität der Bedürfnisse und mißbrauchenden Aufdringlichkeiten zu tolerieren. Die beunruhigende Abhängigkeit Marvelles führt sie in die willkürliche Suche nach anderen, die beschützend auf sie reagieren könnten. Die Beziehung zur Mutter beinhaltet sowohl verbalen als auch körperlichen Mißbrauch; es fehlen ihr Vorhersehbarkeit und Grenzen. In einer primären Diagnose ist festzustellen, daß Marvelle nicht die spezifischen Symptome eines Kindes, das gerade ein Trauma erfahren hat, aufweist, was vielleicht deshalb der Fall ist, weil ihr ganzes Leben 'traumatisch' im Sinne eines ständigen körperlichen und verbalen Mißbrauchs war. Während sie zwar durch die Verbrennung keine zusätzlichen Symptome entwickelt zu haben scheint, so haben ständige Vernachlässigung, der Mißbrauch und die verzerrten Pflegemuster zu Kontaktvermeidung, sozialer Willkür und zornigen, trotzigen Verhaltensweisen geführt. Diese sind konsistent mit der Klassifikationsgruppe der verwahrlosten Bindungsstörung in der frühen Kindheit.
   Intervention:
Zieht man die erheblichen Risikofaktoren der momentanen Situation in Betracht, so muß die Intervention umfassend als auch flexibel sein, mit einem Schwerpunkt auf weiterlaufenden therapeutischen Beziehungen für Elternteil und Kind eines Teams, welches die Interventionsbemühungen aufrechterhält. Das Behandlungsprogramm müßte Elemente im eigenen Haushalt und im Behandlungszentrum umfassen und Kontaktaufnahme, Transport, Erziehungs- und Arbeitsansporn, therapeutische Gruppen und individuelle EItern/Kind-Psychotherapie beinhalten. Es wäre notwendig, Janice zu helfen, stabile Lebensvorkehrungen für sich selbst und ihre Tochter, möglicherweise in einer Gruppe oder in einem Familienheim, zu organisieren und auch andere elementare Bedürfnisse, wie Essen, Kleidung und medizinische Vorsorge, zu unterstützen. Ein therapeutisches Kinderheimprogramm, welches interaktives Spielen von Eltern mit ihren Kindern beinhaltet, half zu freudvollen Engagement und gemeinsamem Erfolg. Eine Elterngruppe sorgte für Unterstützung durch Gleichaltrige, Freundschaften, Leitung und das gemeinsame Lösen von Problemen. Abhängig von Marvelles Reaktion auf die allgemeine therapeutische Unterstützung und die individuelle Psychotherapie, wären individuelle Sprech- und Spracharbeit angezeigt. Die Auswirkungen des schwierigen Lebens Janices und die darauf folgenden Fehlschläge müßten durch diese Beziehung, die man als langfristiges Projekt auffassen muß, aufgearbeitet werden. Das Ausmaß, in dem Janice fähig ist, mitzumachen und die vielschichtigen Aspekte des Behandlungsprogramms und des Ausbildungs- und Arbeitsansporns selbst zu nutzen, wird mit dem Ausmaß, in dem eine individuelle therapeutische Entwicklung entsteht, im Zusammenhang stehen und sich auf diese Herausforderungen ermutigend auswirken. Mittlerweile wird Marvelle mit Rücksicht auf ihr Alter und den starken Leidensdruck auch eine individuelle Bezugsperson und eine konsequente Tagespflegesituation brauchen. Dadurch könnte sie lernen, auf Beziehungen zu vertrauen und ihre Bedürfnisse und Gefühle ohne Angst vor Mißbrauch zu kommunizieren. Der individuelle Therapeut müßte auch in der Zeit der Rehabilitation mit Mutter und Kind arbeiten." (S. 127 bis 130)

Marvelle erhielt folgende Zuordnungen auf den fünf diagnostischen Achsen:
Achse I:   Reaktive Bindungsstörung, Vernachlässigung.
Achse II:  Mißbrauchende Beziehungsstörung  verbal und körperlich.
Achse III: Expressive und rezeptive Sprachentwicklungsverzögerung (DSM-IV 315.31).
Achse IV:  Psychosoziale Belastung: massiv.
Achse V:   Funktionell-emotionales Entwicklungsniveau auf der erwarteten Stufe mit
               Einschränkungen
.
(S. 130)

Einerseits befindet sich das diagnostische Instrumentarium noch sehr in Entwicklung, andererseits liegen bereits erste Erfahrungen vor:
"Das hier vorgestellte Klassifikationssystem wird weiterentwickelt. Es wird immer wieder auf Grundlage systematischer Datensammlungen, Analysen und Diskussionen von Fällen ausgefeilt und auf den letzten Stand gebracht.
Die vorläufige Datenanalyse erweist:

  • die vorgeschlagenen neuen primären Diagnosekategorien sind den bestehenden DSM-IV-Gruppen signifikant ähnlich;
  • die neuen Diagnosekategorien erfassen und differenzieren das Spektrum der vorgestellten Symptome gut;
  • daß für Experten eine hohe Verläßlichkeit bei den Diagnosen unter Verwendung der diagnostischen Klassifikation 0-3 festgestellt werden kann."

(S. 10/11)

Der Klassifikationsschlüssel von Zero to Three ist zweifellos ein bedeutender Meilenstein in der Kleinkinddiagnostik. Kinderpsychologen, Kinderärzte und Kinderpsychiater werden darauf kaum verzichten können. Im übrigen aber wird der abschreckende Preis (ohne Abbildungen, Graphiken und Tabellen 38 Euro!) die Kauflust gehörig dämpfen.

Kurt Eberhard  (Nov. 2004)

 

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