Dies gilt auch für das Aufgreifen bekannt gewordener Fälle, wobei jeweilige Zuständigkeiten z.B. der Staatsanwaltschaft zu berücksichtigen sind. Eventuellen ethischen Bedenken ist entgegen zu halten, dass der Einsatz derartiger Bilder und Sachverhalte für die Öffentlichkeitsarbeit wie bereits erwähnt unter strikter Beachtung der Persönlichkeitsrechte Betroffener erfolgt und dass es auf diesem Wege z. B. im Bundesland Berlin gelungen ist, die so genannte Häufigkeitszahl im Vergleich mit anderen Bundesländern teilweise rund zu verzehnfachen (siehe Tabelle).
2.1.2 Erhöhen der Hinweisbereitschaft bei besonderen Zielgruppen, die vermehrt Kontakt mit (gefährdeten) Kindern bzw. ihren Erziehungsberechtigten haben. Hierbei geht es z.B. um Kitaerzieher, (Kinder-) Ärzte und medizinisches Fachpersonal, Lehrer, Polizeibeamte, Gerichtsvollzieher, Mitarbeiter in Sozialämtern, Hausmeister von Großwohnanlagen und ähnliche Berufsgruppen, die zum Teil auch über Berufsvertretungen und -verbände erreicht werden können. Über die o. g. allgemeine Öffentlichkeitsarbeit hinaus bieten sich zusätzlich weitere Möglichkeiten, die diversen Berufsgruppen noch spezieller zu sensibilisieren und zugleich berufsgruppenspezifisch auf Rechtsfragen und konkrete Verhaltenshinweise eingehen. Diese sind unter anderem Konferenzen, Fachtagungen, Fortbildungsveranstaltungen, besondere Lehrveranstaltungen an Berufsfachschulen, Fachhochschulen und Universitäten, die allesamt über ein großes Vernetzungspotenzial verfügen, sowie gezielt platzierte Fachveröffentlichungen. Oft sind hier auch andere Träger wie z.B. Krankenkassen an einer Mitwirkung und Unterstützung interessiert.
Auf jeden Fall sollten die im jeweiligen Land vorhandenen Institute für Rechtsmedizin so intensiv wie möglich eingebunden werden, da grundsätzlich niemand über so große Erfahrungen im Erkennen von Vernachlässigungs-, Misshandlungs- und Missbrauchsspuren verfügt und eine derartig große Menge von Anschauungsmaterial zu bieten hat.
Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf die insbesondere in den Fachhochschulen und Universitäten vorhandenen Ressourcen sowohl bei den Studenten als auch den Dozenten gerichtet werden. Projekte, Haus- und Diplomarbeiten zu Themen des Kinderschutzes lassen sich in vielerlei Hinsicht gezielt nutzen.
Und schließlich sollten gute Kontakte zu Entscheidungsträgern in der (Kommunal-)Politik aufgebaut und gepflegt werden. Dieses ist einerseits Lobbyarbeit für den Kinderschutz und verdeutlicht zugleich der Bevölkerung und den Medien, welchen (hohen) Stellenwert Kinderschutzarbeit im Land bzw. in der Kommune hat.
2.2 Gezieltes Sammeln, Bewerten und Steuern erlangter Hinweise Dies kann dezentral in der Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamtes oder zentral auf Landesebene erfolgen.
Die dezentrale Lösung erfordert eine häufig intensive Öffentlichkeitsarbeit auf kommunaler Ebene, ferner sind dezentrale Erreichbarkeiten oft weniger einprägsam. In Mecklenburg-Vorpommern wurde im Februar 2008 durch das dem Ministerium für Gesundheit und Soziales unterstehende Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGUS) eine landesweite so genannte Kinderschutzhotline 0800/ 14 14 007 geschaltet. Die sehr einprägsame Nummer kann rund um die Uhr kostenlos und auf Wunsch auch anonym angerufen werden.
Nach einer Ersteinschätzung durch sozialpädagogische Fachkräfte werden Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen dann gezielt an mittlerweile landesweit eingerichtete Bereitschaftsdienste der Jugendämter weitergeleitet, die dann die Überprüfung des Falls und das weitere Fallmanagement übernehmen.
Auf der Grundlage der im Sozialgesetzbuch festgelegten kommunalen Zuständigkeit des jeweiligen Jugendamtes musste zuvor eine Kooperationsvereinbarung zwischen allen 18 Jugendämtern des Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGUS) geschlossen werden, in der die Jugendämter formal das LAGUS beauftragten, für sie die entsprechenden Daten zu erheben und an sie weiterzuleiten. Aus sehr unterschiedlichen Gründen war es nicht ganz einfach, Konsens zwischen allen Verfahrensbeteiligten zu erzielen. Als förderlich hatte sich hierbei in Mecklenburg-Vorpommern die Einbindung des Landesbeauftragten für Datenschutz von Beginn an erwiesen.
Alternativ besteht die einfachere Möglichkeit, eine derartige Hotline wie im Bundesland Berlin bei der Landespolizei zu schalten, die die erhobenen Erkenntnisse dann an das jeweils zuständige Jugendamt weiterleitet. Kritikern, die auf die bereits vorhandene Notrufnummer der Polizei 110 verweisen, müssen die unter 2.1 angeführten Gründe entgegengehalten werden, warum es in der Bevölkerung noch immer große Zurückhaltung gibt, Hinweise z.B. auf die Misshandlung von Kindern an Behörden zu melden. Niemand kann gezwungen werden, den Polizeinotruf zu wählen und die Erfahrungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern belegen, dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die eine „neutralere“ Hotline bevorzugen. Zu beachten ist im Falle einer Anbindung der Hotline an die Landespolizei, dass die Polizei strafrechtlich relevanten Hinweisen auf Grund des so genannten Legalitätsprinzips ausnahmslos auch strafverfolgend nachzugehen hat.
Bei einer gemeinsamen Hotline der Jugendämter oder dezentralen unmittelbaren Erreichbarkeiten der Jugendämter gäbe es wiederum keine obligatorischen Ermittlungsverfahren von Amts wegen. In Berlin hat die Tatsache, dass die dortige Hotline bei der Polizei geschaltet wurde, der Hinweisbereitschaft keinerlei Abbruch getan. Wie bereits erwähnt, hat sich die Häufigkeitszahl in Berlin gegenüber anderen Bundesländern seit Schaltung der Hotline rund verzehnfacht. In Mecklenburg-Vorpommern hat es von Anfang Februar 2008 bis Ende Juli 2008 rund 200 Hinweise auf Kindswohlgefährdungen über die Hotline gegeben. Zwischen den Jugendämtern und dem LAGUS war vereinbart worden, dass die dezentrale Werbung eines jeden Jugendamtes für sich selber den Vorrang vor einer Werbung für die zentrale Hotline haben sollte, so dass die Hotline die dezentralen Erreichbarkeiten der Jugendämter lediglich ergänzen soll.
Nach bisherigen Erfahrungen machen die über die Hotline eingegangenen Hinweise einen daher einen Anteil von ca. 10 % aller bei den Jugendämtern eingegangenen Hinweise auf Kindswohlgefährdungen aus. Laut ersten noch nicht validen Einschätzungen verschiedener Jugendämter n der ersten Jahreshälfte hatte es auch in Mecklenburg-Vorpommern – sicherlich ist dies auf den tragischen Fall der in Schwerin verhungerten Lea-Sophie zurückzuführen – bis zur Jahresmitte teilweise ebenfalls rund eine Verzehnfachung der Hinweise auf Kindswohlgefährdungen bei den Jugendämtern gegeben.
Zu beachten ist hierbei, dass diese Hinweise, mit Ausnahme einer Mitteilung an die Presse, ohne gezielte Werbemaßnahmen erfolgten. Die Verteilung von 1 Million Flyer an alle Haushalte und die Verbreitung von 10.000 Plakaten ist für Herbst 2008 geplant. Als positiv im Vorfeld hat sich erwiesen, die Erreichbarkeit der Kinderschutzhotline bei den in der Lokalpresse täglich oder wöchentlich regelmäßig veröffentlichten Bereitschaftsdiensten mit einzustellen. Teilweise nutzen auch die jeweiligen Jugendämter diese Möglichkeit auf kommunaler Ebene.
2.3 Verbesserung der Beurteilung von Gefährdungslagen Als ein regelmäßig wiederkehrendes Problem sowohl bei den Mitarbeitern der Jugendämter und der Polizei als auch bei den o. g. speziellen Zielgruppen hat sich die Beurteilung der jeweiligen Gefährdungslage erwiesen. Bei den Zielgruppen ohne Eingriffsbefugnisse zeigte sich häufig, dass sie – tatsächlich nicht bestehende – Probleme z. B. mit dem Datenschutz und eventuellen Schweigepflichten hatten, die es insbesondere über Fortbildungsmaßnahmen und auch mit Hilfe von Veröffentlichungen und Informationsbroschüren auszuräumen galt. Darüber hinaus zeigte sich, dass sie sehr häufig glaubten, nicht genügend Details liefern zu können, weil sie verkannten, dass es dem Jugendamt oder der Polizei zunächst einmal nur um Hinweise auf den Anschein einer Gefahr für ein Kind geht, den es eben zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt. Und schließlich herrschte ein großer Bedarf an Wissensvermittlung über die Beurteilung von Spuren am Körper eines Kindes oder in seinem Verhalten, der hervorragend durch Rechtsmediziner abgedeckt werden konnte.
Bei Mitarbeitern der Jugendämter und der Polizei galt es, vorhandene Rechtskenntnisse insbesondere über zur Verfügung stehende Eingriffsbefugnisse zu vertiefen und den Blick auf bislang nicht in den Fokus gerückte weitere Eingriffsmöglichkeiten zu richten. Insbesondere ging es darum, Hemmschwellen für Eingriffsmaßnahmen zu senken. Dies gelang oft durch plakative Vergleiche, z.B. durch die Fragestellung, warum mittlerweile bei einer misshandelten erwachsenen Frau stets von einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr ausgegangen und in aller Regel eine sofortige räumliche Trennung vom Täter, z. B. durch eine Wegweisung wird. Bei einem misshandelten Kleinkind hingegen scheint die gegenwärtige Gefahr nicht mehr zu bestehen und das wird Kind oftmals zunächst einmal bei seinem Peiniger belassen.
Auch hat sich ein Austausch von Erfahrungen über Möglichkeiten einer tiefer gehenden Gefahrenermittlung in der jeweiligen Situation bewährt.
Darüber hinaus hat es sich als positiv erwiesen, zu vermitteln,
- welche Eingriffsmöglichkeiten der jeweils anderen Behörde auf welcher Rechtsgrundlage zur Verfügung stehen,
- welche Grenzen es gibt und
- welche wechselseitigen Ergänzungs- und Unterstützungsmöglichkeiten geprüft werden sollten, vgl. hierzu Becker in ZKJ 5/2008, S: 185-189.
Aus diesem Grunde wurde im Land Mecklenburg-Vorpommern seit Anfang 2007 z. B. die gesamten Kommissaranwärter der Landespolizei in Bezug auf Kinderschutz speziell sensibilisiert und weiterqualifiziert.
2.4. Verbesserung/Weiterentwicklung vorhandener Richtlinien, Dienstanweisungen, etc. für Angehörige der Arbeitsebene Sowohl zentrale als auch dezentrale Organisationsformen haben Vor- und Nachteile. Der grundsätzlich positive Grundgedanke, die kommunale Selbstverwaltung auch dadurch zu stärken, dass jedes Jugendamt zunächst einmal eigenständig auf der Ebene des eigenen Landkreises bzw. der eigenen kreisfreien Stadt zuständig ist, beinhaltet gleichzeitig den Nachteil, dass es eines intensiveren Austausches mit anderen Jugendämtern und anderen Behörden bedarf, der gewöhnlich auch mehr Zeit benötigt, um gewonnene Erfahrungen teilen und daraus gemeinsam lernen zu können.
Vorhandene Gesprächskreise können und sollten durch Fachtagungen und Konferenzen – auch gemeinsam mit benachbarten Behörden – ergänzt werden. Vorhandene Richtlinien und/oder Dienstanweisungen sollten auf freiwilliger Basis ausgetauscht werden, um so von den Erfahrungen und Sichtweisen der anderen profitieren zu können. Darüber hinaus kann das Potential im Land vorhandener (Fach-)Hochschulen genutzt werden, um erweiterte Anregungen für die Diskussion der bisherigen Regelungen anzureichern. So haben z. B. Studierende am Fachbereich Polizei der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege im Land Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen eines Projektes eine zur Verfügung gestellte Dienstanweisung eines Jugendamtes über den Umgang mit Hinweisen bei Kindswohlgefährdungen Gefahren abwehrend aus polizeilicher Sicht vereinfacht, ergänzt und überarbeitet. Die so entstandene Muster-Dienstanweisung wurde dann wiederum allen Jugendämtern als Diskussionsgrundlage für eine Überprüfung ihrer eigenen Dienstanweisungen zur Verfügung gestellt.
Wichtige Voraussetzung für derartige Maßnahmen ist in jedem Fall ein Kennen der agierenden Personen auf der jeweils anderen Seite und wechselseitiger Respekt, insbesondere vor der kommunalen Selbstverwaltung.
3. Schluss Den gemachten Ausführungen ist zu entnehmen, dass das dargestellte Modell zur Verbesserung der Krisenintervention in Mecklenburg-Vorpommern auf zwei grundlegenden Pfeilern beruht:
- die Vernetzung aller im Kinderschutz zuständigen und engagierten Behörden und Organisationen, wobei hier besonders auch auf eine frühzeitige Einbindung der örtlich zuständigen Familiengerichte hingewiesen sei sowie
- die Tatsache, dass sich die verschiedenen agierenden Personen kennen, offen für die Möglichkeiten und Grenzen des anderen sind und wechselseitig respektieren.
Ständiges Voneinanderlernen und das Zur-Verfügung-Stellen eigener Erkenntnisse und Erfahrungen, damit die anderen daran teilhaben können, ist wichtiger Teil der Basis für eine Verbesserung des Kinderschutzes. Erkannte Fehler und Schwachstellen haben – so schlimm die Konsequenzen gewesen sein mögen – trotz allem zur Folge, dass zum Schutz vieler Kinder alle danach daraus lernen können.
Den Ausführungen zum Grundkonzept ist hinzuzufügen, dass es auf keinen Fall ausreicht, Feinkonzepte zu entwickeln, immer weiter zu verbessern und der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Es ist kein „Aktionismus“, einfach und (endlich) anzufangen und im Bedarfsfall ggf. im laufenden Prozess nachzusteuern, statt zu versuchen, ein immer perfekteres System zu schaffen, während vernachlässigte, misshandelte und missbrauchte Kinder noch immer darauf warten, aus ihrer Situation herausgeholt zu werden.
Und schließlich muss immer im Fokus bleiben, dass ein Konzept nur so gut ist, wie ihm messbare positive Veränderungen folgen, wie z.B. die teilweise Verzehnfachung der Häufigkeitszahl im Land Berlin.
Konzepte, nach denen alles so bleibt, wie es schon immer war, nützen niemandem außer demjenigen, der sie um ihrer selbst willen erarbeitet. Konzepte sind Mittel zum Zweck, Konzepte haben zu dienen, und ihr Erfolg muss kurzfristig messbar sein. Güstrow, den 31.7.2008
Anhang: Fälle von Misshandlung von Kindern gemäß 225 StGB und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht gegenüber Kindern gemäß § 171 StGB: Jahre 2006 und 2007 im Vergleich
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