FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2005

 

PANORAMA Nr. 657 vom 04.08.2005 


Verprügelt, verhungert, zu Tode gequält -
keine Hilfe für verwahrloste Kinder

 


Anmoderation
Anja Reschke:

„Es ist schrecklich und es übersteigt jede Vorstellungskraft. Eine Mutter tötet 9 Säuglinge und niemand hat irgendetwas mitgekriegt. Durch Deutschland geht ein Aufschrei – wie kann so etwas geschehen? Der Fall ist vielleicht einmalig in seiner Grausamkeit – aber dass Kinder von ihren Eltern misshandelt werden, gehört in Deutschland schon fast zum Alltag. Es ist gerade mal 5 Monate her, da fand man in Hamburg die 7 jährige Jessica – verhungert, weil die Mutter ihr nichts zu essen gab. Die Vernachlässigung in den Familien nimmt zu, Kinder sind ihren Eltern oft hilflos ausgeliefert und Jugendämter stehen dem machtlos gegenüber. Nicola von Hollander und Eilika Meinert über verwahrloste Kinder und überforderte Behörden.“

Berlin - Sonderkommissariat der Polizei für „Delikte am Menschen.“ In nüchterner Atmosphäre geht es um Kinder – von ihren Eltern vernachlässigte, misshandelte, getötete Kinder. Gefunden zuhause in Gestank, im Müll.

Die traurige Bilanz der Polizistin in 15 Jahren Dienstzeit: 120 Kinderleichen. Allein 2004 gingen über 600 Fälle über den Schreibtisch der Polizistin - geschundene, gequälte Kleinkinder - die Dunkelziffer vermutlich hoch.

O-Ton
Gina Graichen
Kripo Berlin:
„Misshandlung und Vernachlässigung ist irgendwo immer noch ein Tabu-Thema. Keiner macht sich die Vorstellung davon, dass es eben die Kinder, die Kleinsten der Gesellschaft betrifft und das Kinder eigentlich keine Lobby haben.
Sie werden zu Hause eingesperrt und haben niemanden. Die einzigen, die ihnen helfen können, sind die Eltern. Aber das sind eben diejenigen, die das verursachen.“

Marie lebt. Sie ist 16 Monate alt, als die Polizei in Berlin Spandau sie hier rausholt – verborgen hinter einem Kleiderschrank, seit Monaten an den Gitterstäben des Bettes mit Mullbinden an Armen und Beinen gefesselt, schwer misshandelt.

O-Ton
Gina Graichen:
“Es hatte Schlagspuren am ganzen Körper, am Kopf auch und gerade bei kleinen Kindern ist Gewalt am Kopf besonders gefährlich, weil man nicht weiß, was man letztlich damit anrichtet. Man stellte in den Untersuchungen fest, dass es auf dem Stand eines 6-monatigen Säuglings war. Es war lichtempfindlich, offenbar also häufig in Dunkelheit gehalten und es war stark dehydriert, also es hat zu wenig zu trinken bekommen.“

Bei den Ermittlungen stellt sich heraus: Marie hätte früher gerettet werden können. Nach einem Hinweis steht eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes vor der Tür. Aber die Mutter verwehrte den Zutritt. Die Frau lässt sich abwimmeln.

Wenn Eltern nicht wollen, kann der Sozialarbeiter erst mal nicht eingreifen. So will es das Gesetz. Elternrecht steht über Kindeswohl. Für Erziehungswissenschaftler vollkommen unzeitgemäß.

O-Ton
Prof. Roland Merten
Erziehungswissenschaftler, Universität Jena:
„Wenn man es bösartig formuliert, muss man sagen, dass Kinder in einer außerordentlich prekären Situation sein müssen, damit man seitens des Jugendamtes das Familiengericht anrufen kann, um tatsächlich dieser Kinder zugriffig zu werden, damit man hier die Hilfe, die notwendig ist, auch tatsächlich den Kindern angedeihen lässt.“

Berlin- Hellersdorf – diese Familie ist kein Fall fürs Familiengericht- keiner für die Polizei. Aber das ist ein Milieu, in dem Familien in Not sind und Kinder allein gelassen werden. Die Eltern Köhnkow bei ihrer Lieblingsbeschäftigung: Fernsehen. Die 28 jährige Severin und ihr Mann Andy sind arbeitslos. Hätten eigentlich Zeit, sich mit ihren 3 Kindern zu beschäftigen. Doch der Kontakt zu ihren Kindern beschränkt sich auf das Notwendigste. Dany und seine Schwestern Celina und Sarah: über weite Strecken des Tages auf sich allein gestellt.

O-Ton
Andy Köhnkow:
„Wir stehen uff, trinken Kaffee. Und dann wird der Tag immer länger. Immer länger. Und um den Tag zu verkürzen, um nicht darüber nachzudenken, wie die Situation jetzt ist, gehen wir schlafen. Nachmittags, wenn die Kinder nicht da sind.“

Den Kindern bleibt nach Schule und Kindergarten nur die Straße. Der 8-jährige Dany trägt Verantwortung für seine Schwestern. Zeit totschlagen – wie ihre Eltern zu Haus.

O-Ton
Prof. Thomas Olk
Erziehungswissenschaftler, Universität Halle:
„Die Eltern, die hier arbeitslos sind, die sind ja nicht einfach nur arbeitslos, sondern die fühlen sich sozusagen ausgegrenzt, sie fühlen sich demoralisiert in ihrer Situation. Und mit dieser Demoralisierung schwindet auch ihre Möglichkeit, sich mit ihren Kindern zu befassen. Es wäre also ein völliger Irrglaube davon auszugehen, dass sie ihre viele Zeit, die diese beiden haben, nun also produktiv nutzen könnten für eine gute und optimale Förderung ihrer Kinder.“

Die Eltern kümmern sich nicht, der Staat greift nicht ein. Ein Gesetz, das nur Eltern schützt. Und Behörden, die sich abwimmeln lassen. So verwahrlosen die Kinder. Ihr Weg fast vorgezeichnet: Kein innerer Halt, kein Schulabschluss, keine Ausbildung.

O-Ton
Prof. Roland Merten
Erziehungswissenschaftler, Universität Jena:
„Wir können feststellen, dass die Mehrzahl der Fälle, mit denen wir es heute zu tun haben, Vernachlässigungsfälle sind. Und wenn wir in diesem Bereich nicht hinreichend intervenieren, dort nicht geordnete und angemessene Hilfen anbieten, dann müssen wir davon ausgehen, dass sich hier eine Problemlawine aufbaut, die in späteren Jahren uns in einer erheblichen Kostenflut noch mal auf die Füße fallen wird.“

Berlin- Spandau – hier lebte Marie, das Mädchen hinter dem Kleiderschrank. Ihre Mutter überfordert – auch sie hat als Kind nie Fürsorge und Liebe erfahren. Und dann schlägt sie ihre Tochter. Die Behörde erfährt sogar davon, aber nichts passiert. Corinna Stieg ist die Verteidigerin der Mutter. Sie kennt solche Fälle. Immer wieder hat sie erlebt, dass Behörden auf Warnungen zu spät oder falsch reagieren.

O-Ton
Corinna Stieg,
Rechtsanwältin:
„Diesen konkreten Fall hätte man verhindern können, wenigstens in dieser Ausuferung, wenn man ihr geholfen hätte und sie aus ihrer Familiensituation herausgerissen hätte. Aber man muss auch die Beamten verstehen, das sind auch nur Menschen, die ihre Akten haben, die sind überarbeitet und haben nicht mehr die Möglichkeit, auf einen Einzelfall einzugehen.“

Eine Frau schlägt ihren Säugling – eigentlich gibt es für solche Fälle noch eine weitere Behörde: das Jugendamt.

O-Ton
Gerd Mager,
Leiter Jugendamt Spandau:
„Das ist nicht die Zuständigkeit des Jugendamtes gewesen, obwohl das vielleicht etwas komisch klingen mag, sondern die Sache des Gesundheitsamtes, des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes, so ist die richtige Bezeichnung für diese Gruppe.“

PANORAMA:
„Aber dieser Gesundheitsdienst muss sich doch mit dem Jugendamt kurzschalten?“

O-Ton
Gerd Mager,
Leiter Jugendamt Spandau:
„Ja. In den Augenblicken, wo es Anlass gibt zur Besorgnis.“

PANORAMA:
„Warum ist das nicht geschehen?“

O-Ton
Gerd Mager,
Leiter Jugendamt Spandau:
„Ich kann es Ihnen nicht sagen.“

Irgendwo auf den Fluren ist der Fall Marie verloren gegangen. Immer weniger Personal, das sich um immer mehr Fälle kümmern muss, ungeklärte Zuständigkeiten.

Wie im Fall Jessica in Hamburg.
Die 7-Jährige verhungerte, weil ihre Mutter ihr nichts zu essen gab. In die Schule ging Jessica nicht. Das Schulamt mahnte an, meldete den Vorfall aber nie dem Jugendamt weiter.

O-Ton
Dirk Kienscherf,
Bürgerschaft Hamburg, Ausschuss „vernachlässigte Kinder“:
„Wir haben festgestellt, dass es einfach zu viele verschieden Stellen in den Jugendämtern gibt. Dass es dort keine klaren Verantwortlichkeiten gibt und dass in Deutschland einfach zu spät eingegriffen wird.“

Die kleine Marie aus Berlin Spandau lebt. Eine Pflegefamilie kümmert sich um das schwer gestörte Kind. Die Fesselungen haben körperliche und seelische Wunden hinterlassen – für immer. Die Mutter hat sie misshandelt, aber Staat und Behörden haben sie im Stich gelassen.

PANORAMA:
„Das Kind hat Narben und Verletzungen für sein Leben.“

O-Ton
Gerd Mager,
Jugendamtsleiter Berlin Spandau:
„Das stimmt. Das ist schlimm. Und es gibt viele, viele Fälle hier in Berlin, in denen es ähnlich ist. Und es wird sich auch in Zukunft nicht vermeiden lassen. Man könnte es reduzieren mit einem größeren, besseren personellen Aufwand. Nicht unbedingt mit mehr Geld, aber mit mehr Personal.“

PANORAMA:
„Ist das nicht ein Offenbarungseid? Zu Lasten der Kinder – da geht es um Leben und Tod?“

O-Ton
Gerd Mager,
Jugendamtsleiter Berlin Spandau:

„Vielleicht ja.“

 

Bericht: Nicola von Hollander, Eilika Meinert
Kamera: Wolfgang Lindig
Schnitt: Kay Ehrich

zur Sendung: http://www.ndrtv.de/panorama/archiv/2005/0804/kinder.html

 

 

 

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