FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 


Karin Grossmann und Klaus Grossmann

Bindungen -

das Gefüge psychischer Sicherheit

Klett-Cotta, 2004 (672 Seiten, 42 Euro)


Die Autoren, Dipl.-Psych. Dr. Karin Grossmann und Dipl.-Psych. Prof. Dr. Klaus Grossmann, wurden bereits im Rahmen unserer Rezension über »Bindung und menschliche Entwicklung« vorgestellt und wegen ihrer hervorragenden Verdienste um die Bindungstheorie gewürdigt. Ihr nun veröffentlichtes opus magnum wird wie folgt eingeleitet:
     "Das vorliegende Buch ist eine Lebensarbeit. Es ist das Ergebnis unserer dreißigjährigen Bindungsforschung in Zusammenarbeit mit vielen anderen. Bindungen stellen die Person in einen prägenden Zusammenhang mit den Wurzeln der Menschwerdung und der individuellen Zuneigung besonderer Erwachsener, die das Kind beschützen und versorgen. Sie gehören zur Natur des Menschen.
     Das Gefüge psychischer Sicherheit entsteht aus menschlicher Zuneigung. Psychische Sicherheit bereichert das Leben, während psychische Unsicherheit es einschränkt. Wir wünschen uns, daß dieses Buch dazu beiträgt, den Wert von Bindungen für Menschen aller Altersgruppen zu erkennen. Wir möchten zum allgemeinen Verständnis dessen beitragen, warum unsere Bindungen uns so sehr in unserem Fühlen, Denken, Planen und Tun beeinflussen. Das Buch beschreibt, was zu psychischer Sicherheit führt. Es ist damit auch ein Plädoyer gegen Nachlässigkeit im sozialen Miteinander, und es wirbt für mehr Rücksicht und Behutsamkeit gegenüber anderen, besonders gegenüber Kindern." (S. 19)

Aus dieser Einleitung und aus dem 14-seitigen Inhaltsverzeichnis ist schon ersichtlich, daß es um viel mehr geht als um die Darstellung der Bindungstheorie und die dazu geleistete immense Forschungsarbeit, es geht um eine umfassende Theorie der psychischen Sicherheit, in der das neuropsychologische Bindungssystem allerdings eine zentrale Rolle spielt. Hier nur die Titel der Hauptkapitel jenes imposanten Registers:

Teil I: Historische, biologische und bindungspsychologische Grundlagen

I.1  Historische und evolutionsbiologische Wurzeln der Bindungsforschung
I.2  Psychobiologie der Bindung und Trennung:
     Erkenntnisse aus der Erforschung sozial lebender Tiere
I.3  Psychische Sicherheit als Integration von Emotionen,
     motivierten Intentionen und sprachlichen Interpretationen
I.4  Der entwickelte Geist
I.5  Grundzüge der Bindungstheorie
I.6  Längsschnittliche Bindungsforschung

Teil II: Bindungsforschung im Säuglingsalter

II.1 Der soziale Säugling
II.2 Mütterliche Feinfühligkeit, Kooperationsbereitschaft und Annahme des Kindes:
       Die frühe externe Regulation des Säuglings
II.3 Bindungsqualitäten am Ende des ersten Lebensjahres:
       Die Nutzung der Mutter als "Sicherheitsbasis" - ein Indikator für die Bindungsqualität
       zur Mutter
II.4 Entstehungsbedingungen und Implikationen von Bindungssicherheit im 1. Lebensjahr:
       mütterliche Feinfühligkeit, Individualität des Kindes und frühe soziale Kompetenz
II.5 Zusammenfassung

Teil III:  Bindung und Exploration im Kleinkindalter und die Rolle des Vaters
               als zweite Bindungsperson: Quellen der Sicherheit beim Explorieren

III.1  Neue körperliche und geistige Errungenschaften:
       das beginnende Verständnis für Sprache, Zeit, Gefühle und die Absichten anderer
III.2  Das Streben nach Tüchtigkeit ('mastery drive') und Exploration beim Zweijährigen:
       Einflüsse aus frühen Beziehungserfahrungen
III.3  Mütterliche Kooperation mit dem Zweijährigen im Alltag und im Spiel als Investition
       in die soziale und geistige Entwicklung des Kindes
III.4  Väter als Bindungspersonen, Helfer beim Explorieren und Herausforderer
III.5  Das Kleinkind und seine Eltern, neue Beziehungen und psychische Sicherheit

Teil IV: Bindungsqualität im Vorschulalter und die Internalisierung von
               Beziehungserfahrungen

IV.1 Das Vorschulalter: Die Erweiterung des geistigen und sozialen Horizontes
IV.2 Unterschiedliche Entwicklungen im Umgang mit negativen Gefühlen
       und Herausforderungen
IV.3 Unterschiedliche Entwicklungen im Umgang mit sozialen Anforderungen
IV.4 Die Messung von Bindungsqualitäten im Vorschulalter
IV.5 Zusammenfassung

Teil V:  Bindung zu Beginn des Schulalters

V.1  Das Erkennen der eigenen Welt oder der Kreislauf der Erkenntnis
V.2  Erkenntnis und Sprache in Bindungsbeziehungen
V.3  Anfänge der Erfassung von Bindungsverhalten und Bindungsrepräsentation
       bei Sechsjährigen - die bahnbrechenden Untersuchungen aus Berkeley
V.4  Bindung mit 6 Jahren: Beschreibung und längsschnittliche Vergleiche
V.5  Bindungsrepräsentationen im Alter von 6 Jahren in symbolischen Darstellungen
V.6  Schlußfolgerungen: Bindungssicherheit zu Beginn des Schulalters

Teil VI: Bindung in der mittleren Kindheit

VI.1 Initiative, Wertsinn und Formwille: Eine historische Ableitung
VI.2 Elternbeziehungen und der Umgang mit Entwicklungsaufgaben
VI.3 Psychische Sicherheit und Bindung in der mittleren Kindheit:
       Die aktuelle Eltern-Kind-Beziehung und ihre Vorboten in der Bindungsgeschichte
VI.4 Autonomie und Verbundenheit in einem Planungsspiel der Familie
VI.5 Zusammenschau: Entwicklungsaufgaben und psychische Sicherheit
       in der mittleren Kindheit und ihre frühen Wurzeln.

Teil VII:  Internale Arbeitsmodelle und mentale Repräsentation

VII.1  Theoretische und historische Grundlagen des Konzeptes des Internalen
         Arbeitsmodells
VII.2  Methodische Ansätze zur Erfassung Internaler Arbeitsmodelle
         durch sprachliche Repräsentationen
VII.3  Internale Bindungsmodelle und Eltern-Kind-Interaktionen:
         von berichteten Denkmustern zu beobachtetem interaktivem Verhalten

Teil VIII: Das Jugendalter: Bindung ,Verhalten in engen Beziehungen
                 und innere Arbeitsmodelle von sich und anderen

VIII.1 Entwicklung im Jugendalter: Autonomie in Verbundenheit
         und die gelingende psychologische Anpassung
VIII.2 Die verschiedenen Facetten geistiger Repräsentation von Bindung
         im Alter von 16 und 18 Jahren
VIII.3 Kontinuität und Diskontinuität:
         Die desregulierende Wirkung traumatischer Ereignisse
         und die Wurzeln der Bindungsrepräsentation in der Kindheit
VIII.4 Resümee: Zusammenhänge von Fühlen, Bewerten und Handeln im Jugendalter

Teil IX: Bindung und Partnerschaftserwartungen im Erwachsenenalter

IX.1 Entwicklung der Erwartungen an enge Beziehungen
IX.2 Bindungsrepräsentation und Erwartungen an Partnerschaft
       (Partnerschaftsrepräsentation) im Erwachsenenalter
IX.3 Entwicklungswege zu den Qualitäten der Bindungs- und
       Partnerschaftsrepräsentation im jungen Erwachsenenalter
IX.4 Modell von Bindung bei Großeltern und ihre Beziehungen zu ihren Nachkommen
IX.5 Andere Langzeituntersuchungen der sozialen und emotionalen Entwicklung
       bis ins mittlere Erwachsenenalter
IX.6 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Teil X:  Epilog

X.1  Bindung als Organisationsprinzip in der emotionalen und kognitiven Entwicklung
X.2  Altersübergreifende 'rote Fäden' in unseren Forschungsergebnissen
X.3  Die Vielfalt der Lebenswege zu psychischer Sicherheit oder Unsicherheit:
     vier exemplarische Wege zur Sicherheit und vier zur Unsicherheit
     im jungen Erwachsenenalter
X.4  Das Gefüge psychischer Sicherheit

Literaturverzeichnis

Register der zitierten Schriften

Sachregister

Als Grundannahmen der Bindungstheorie werden fünf Axiome aufgeführt:
"Ihre Grundannahmen heben die Bindungstheorie als eine Theorie der normalen und pathologisch abweichenden Entwicklung von anderen Theorien der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie ab. Die fünf wichtigsten Postulate sind (Bowlby, 1979; s. a. Rutter & O'Connor, 1999):
1. Für die seelische Gesundheit des sich entwickelnden Kindes ist kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge von herausragender Bedeutung.
2. Es besteht die biologische Notwendigkeit, mindestens eine Bindung aufzubauen, deren Funktion es ist, Sicherheit zu geben und gegen Streß zu schützen. Eine Bindung wird zu einer erwachsenen Person aufgebaut, die als stärker und weiser empfunden wird, so daß sie Schutz und Versorgung gewährleisten kann. Das Verhaltenssystem, das der Bindung dient, existiert gleichrangig und nicht etwa nachgeordnet mit den Verhaltenssystemen, die der Ernährung, der Sexualität und der Aggression dienen.
3. Eine Bindungsbeziehung unterscheidet sich von anderen Beziehungen besonders darin, daß bei Angst das Bindungsverhaltenssystem aktiviert und die Nähe der Bindungsperson aufgesucht wird, wobei Erkundungsverhalten aufhört (das Explorationsverhaltenssystem wird deaktiviert). Andererseits hört bei Wohlbefinden die Aktivität des Bindungsverhaltenssystems auf und Erkundungen sowie Spiel setzen wieder ein.
4. Individuelle Unterschiede in Qualitäten von Bindungen kann man an dem Ausmaß unterscheiden, in dem sie Sicherheit vermitteln.
5. Mit Hilfe der kognitiven Psychologie erklärt die Bindungstheorie, wie früh erlebte Bindungserfahrungen geistig verarbeitet und zu inneren Modellvorstellungen (Arbeitsmodellen) von sich und anderen werden." (S. 67)

Die Antwort auf die oft gestellte Frage, wie exclusiv solche Bindungsdyaden sind, lautet:
"Eine Person kann an mehr als eine Person gebunden sein, aber nicht an viele. Viele Kinder haben Bindungen an beide Eltern, evtl. auch an einzelne Großeltern, an die Tagesmutter oder an die bevorzugte Erzieherin in der Gruppenbetreuung (Howes, 1998). Für die meisten Kleinkinder gibt es aber eine eindeutige Hierarchie der Bindungspersonen. Je schlechter es einem Kind geht - z. B. wenn es krank ist -, desto mehr will es bei der primären Bindungsperson sein. Die nachrangigen Bindungspersonen können das Kind zwar einstweilen beschwichtigen, besonders wenn die primäre Bindungsperson gar nicht verfügbar ist, aber das Kind wird trotzdem die primäre Bindungsperson bevorzugen." (S. 68)

Die Autoren legen großen Wert auf sorgfältige Begriffsverwendung, bspw. auf den Unterschied zwischen Bindung und Bindungsverhalten.
     "Eine Bindung besteht noch nicht bei der Geburt, sondern entwickelt sich erst im Laufe des ersten Lebensjahres. Sie entsteht aus den Verhaltensweisen eines Säuglings, die Nähe und Kontakt zu einem Erwachsenen herstellen und erhalten (Ainsworth, 1973 a-2003 a). Das menschliche Neugeborene kommt vorbereitet mit bestimmten Verhaltensweisen auf die Welt, die gewährleisten, daß es von Anfang an durch seine Bewegungen, seine Laute, besonders sein Schreien, seine Mimik und sogar seine Hautfarbe deutlich signalisieren kann, was es braucht. Diese Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Nähe und den Kontakt zur umsorgenden Person herbeizuführen, werden Bindungsverhaltensweisen genannt. Der Säugling ist also 'präadaptiert', genetisch vorbereitet für eine soziale Umwelt, mit der er kommunizieren kann und die für seine Bedürfnisse sorgt.
     Die Mutter oder die bemutternde Person, die bereit ist, das Neugeborene zu umsorgen, erkennt normalerweise die Zeichen und wird versuchen, den Mangel zu beseitigen. Die bemutternde Person wird durch ihr fürsorgliches Verhalten zur Bindungsperson, d. h. der Säugling wird zunehmend sein Bindungsverhalten bevorzugt an diese Person richten. Die markantesten Bindungsverhaltensweisen sind Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen sowie Protest beim Verlassenwerden. Die Bindungsverhaltensweisen behalten ihre Aufgabe, die Nähe zu Bindungspersonen herzustellen, ein Leben lang, auch wenn diese Verhaltensweisen von älteren Kindern und Erwachsenen eher in symbolischer und kulturell akzeptierter Form gezeigt werden, z. B. durch Seufzen und Klagen statt Weinen, telefonisches oder schriftliches Rufen, das Anführen sachlich logischer Gründe für einen Besuch bei den Eltern, das Finden von Argumenten, daß eine Trennung unklug wäre, statt nur direkt gegen das Verlassenwerden zu protestieren oder sich physisch anzuklammern.
     Es ist wichtig, zwischen einer bestehenden Bindung zu einer Person und offen gezeigtem Bindungsverhalten zu unterscheiden. Bindungsverhalten wird nur unter Belastung gezeigt, aber eine Bindung besteht kontinuierlich über Raum und Zeit hinweg. Bindungsverhalten wird um so häufiger und deutlicher beobachtbar, je mehr die Person die Nähe seiner Bindungsperson braucht, sei es, weil sie krank, erschöpft, traurig oder sonstwie belastet ist, sei es, daß eine Gefahrdung der Bindung droht, etwa durch Trennung, eine gefährliche Situation, einen Angreifer, aber auch durch Verlockungen eines 'Nebenbuhlers'.
     Wenn keine Gefahr für den Erhalt der Bindung besteht, gibt es keinen Grund, Bindungsverhalten zu zeigen. Ein kleines Kind, das in guter Laune und in Gegenwart seiner Mutter oder Bindungsperson kein Bindungsverhalten zeigt, hat trotzdem eine Bindung zur Mutter. Die Abwesenheit von Bindungsverhalten darf unter diesen positiven, sicheren Umständen nicht als Abwesenheit von Bindung gedeutet werden. Um eine bestehende Bindung beobachten zu können, muß man auf eine unfreiwillige Trennung oder Gefährdung der Bindungsbeziehung warten oder sie gezielt provozieren. Die gezielte Provokation einer unfreiwilligen Trennung dient aus diesem Grund auch als häufigster Test zur Prüfung von Bindungen in jedem Alter." (S. 69/70)

Die Bereitschaft, benachbarte Konzepte für die eigene Theorieentwicklung zu nutzen, zeigt sich u.a. in der Integration des Konzepts der 'gemeinsamen Aufmerksamkeit' aus der evolutionären Kognitionspsychologie Tomasellos.
   "Wir haben hier die wesentlichen Ergebnisse der bindungspsychologischen Kleinkindforschung dargestellt: Der Säugling ist auf eine erwachsene Person hin - die 'Mutter' - dyadisch organisiert, und ihm ist die Fähigkeit mitgegeben, seine Bedürfnisse auszudrücken und mitzuteilen. Daraus entwickelt sich eine individuelle Bindung, wenn die Mutter ihre komplementäre Rolle als fürsorgliche Person beständig erfüllt. Die genetisch gegebene menschliche Fähigkeit zu gemeinsamer Aufmerksamkeit, während das Explorationssystem aktiv ist ..., ist eine wichtige Erweiterung für die eher auf das Bindungssystem konzentrierte Bindungsforschung. .... Spätestens ab dem 9. Monat und noch lange danach lernt ein Kind durch die gemeinsame Aufmerksamkeit mit einem Elternteil immer zwei Dinge gleichzeitig kennen: erstens das Ereignis selbst und zweitens, was es jeweils für die Mutter oder den Vater bedeutet. Die wertende Bedeutung für den Elternteil erkennt es an dessen Mimik und Verhalten. ....
     Die gemeinsame Aufmerksamkeit bietet ein Modell, das Bindungssicherheit und psychische Sicherheit beim Explorieren in Einklang miteinander bringt. Ein gutes Miteinander kommt bei unsicheren Dyaden in unserer Spielanalyse weniger gut zustande als bei sicheren. Durch den Einschluß des Miteinanders im Spiel haben wir die Rolle des Vaters in der Bindungsentwicklung seiner Kinder entdeckt. In ihrer Bedeutung erscheint uns die Rolle des Vaters der Rolle der Mutter ebenbürtig zu sein.
     Die zunächst unmittelbar erlebte Umwelt des Säuglings ist seine Mutter und ihre mehr oder weniger feinfühlige Art, mit ihm umzugehen, zu sprechen und ihn anzuleiten. Er paßt sich an ihren Rhythmus und Verhaltensstil an, erlebt ihre Gefühlsäußerungen und erfährt, welchen Wert sein Verhalten, seine Gefühle und seine Absichten für sie haben, indem sie sie akzeptiert, darauf angemessen antwortet oder sie ignoriert bzw. als unwichtig abweist. Darum hat das mütterliche Verhalten während der Versorgung und in ihrem täglichen Miteinander eine steuernde Wirkung auf die Entwicklung des Kindes einschließlich seiner physiologischen Regulationsprozesse. Das Bild von der Bindungsperson als externem Regulator des Kindes bekommt besonders aus der psychobiologischen Forschung große Unterstützung.
     Die Notwendigkeit, sich an seine Mutter und seine wenigen Betreuungspersonen anzupassen, ist dem Säugling 'in die Wiege gelegt'. Der Bindungsprozeß steuert diese Anpassung, die dafür sorgen soll, daß der Säugling nicht verlassen wird und überlebt. Die Bindung steuert so die vorbewußten Verhaltensstrategien des Krabbelkindes, mit Hilfe der Bindungsperson Belastungen zu überwinden, was sich in den Bindungsmustern zeigt. Die individuelle, personenspezifische Anpassung äußert sich dann in den unterschiedlichen Bindungsmustern, die ein Kind zu verschiedenen regelmäßigen Betreuern haben kann.
Die Entdeckung von Störungen im Ablauf organisierter Strategien des kindlichen Verhaltens in der Fremden Situation, die sich als Desorientierung oder Desorganisation zeigten, war ein wesentlicher Durchbruch für die klinische Bindungsforschung. Es gibt inzwischen vielfache Hinweise darauf, daß ein Unvermögen, sichere oder auch nur 'zweitbeste' unsichere Verhaltensstrategien (Main, 1982) zum Erlangen oder zum Erreichen psychischer Sicherheit zu organisieren, gravierende Folgen für die weitere Entwicklung psychologischer Anpassung hat. Der hohe Anteil desorganisierten und desorientierten Verhaltens in klinischen Stichproben deutet dies an, und die von Hesse und Main (2002) favorisierten Zusammenhänge mit traumatischen Erfahrungen von Kindern und Eltern sprechen ebenfalls dafür." (S. 181-183)

Während Bindungsforscher sonst ihr Augenmerk überwiegend auf das in Trennungsexperimenten provozierte Bindungsverhalten richten, interessieren sich die Grossmanns auch sehr für die Explorationsphasen, was die bisher wenig beachtete, aber ebenfalls bedeutende Rolle des Vaters in den Blickpunkt rückt.
     "Das Streben nach Selbständigkeit und Tüchtigkeit wird mit der sicheren eigenen Fortbewegung, die dem Kleinkind einen großen Raum für sein neugieriges Explorieren eröffnet, und den entsprechenden geistigen Fortschritten besonders deutlich. Der Wunsch nach eigenständigen Entscheidungen ist zwar einerseits die Grundlage für das Gefühl der eigenen Tüchtigkeit, andererseits kontrastierte er häufig stark mit den Vorstellungen der Eltern über die wünschenswerte Folgsamkeit des Kindes.
     In der Sicherheit des häuslichen Umfeldes und auf der Grundlage einer vertrauensvollen Beziehung zu den Eltern sind alltägliche kleine Konflikte ein gutes Terrain für ein Kleinkind, einen eigenen Standpunkt zu verteidigen. Gleichzeitig suchen Kleinkinder intensiv und mit allen Mitteln nach Anerkennung und Zuneigung, so daß es für verständnisvolle, kooperative Eltern oft leicht ist, ihr Kleinkind zum Einwilligen zu überreden. In der Forschung zur frühen Kindheit zeigt sich immer wieder, daß die Kooperationsbereitschaft der Mutter modellartig vom Kind für seine eigenen Interaktionen übernommen wird und die Unterstützung der Neugier des Kindes seine emotionale Sicherheit beim Erkunden fördert. ....
     Auf dieser Grundlage meinen wir, daß sich die Qualität der Kind-Vater-Bindung eher im gemeinsamen Spiel als in den Reaktionen auf Wiederkehr nach Trennungen zeigt. Die Feinfühligkeit des Vaters, mit der er die geistigen und feinmotorischen Fähigkeiten seines Zweijährigen im gemeinsamen Spiel herausforderte und unterstützte, war in unseren Untersuchungen eng in das Netz von Bindungsvariablen eingebunden und hatte ihrerseits einen wesentlichen Einfluß auf die weitere soziale und emotionale Entwicklung des Kindes. Die Qualität dieser frühen Vater-Kind-Beziehung zeigte sich in der Bindungsentwicklung und der sozialen Kompetenz des Kindes bis zum Alter von 22 Jahren und in seiner emotionalen Sicherheit, wenn es mit neuen Situationen konfrontiert war. Dies nennen wir Sicherheit der Exploration. ....
     Da die Zweijährigen ihr Gefühl der Sicherheit in Interaktionen offenbar sowohl aus der schützenden Nähe zur Bindungsperson als auch aus einer gewissen Selbständigkeit und einer gelingenden Gemeinsamkeit im Zusammenhang mit ihren Explorationen schöpften, stellen wir das Konzept der psychischen Sicherheit in diesen Rahmen: Die Entwicklung psychischer Sicherheit hat ihre Wurzeln in der Sicherheit der Bindung und in der Sicherheit beim Explorieren." (S. 249-251)

Ihre aufsehenerregenden Längsschnittuntersuchungen geben den Verfassern Gelegenheit, die Auswirkungen der frühen Bindungsschicksale auf spätere Entwicklungsphasen zu studieren.
     "Die Regulation von Gefühlen und Verhalten, die bislang nur durch die frühkindliche, sprachlose Organisation gekennzeichnet war, wird im Vorschulalter allmählich durch sprachlich verstehbare und darstellbare Zusammenhänge ergänzt. ....
     Die Überforderungsaufgabe im Spielzimmer der Universität, die Beobachtungen beim Wettbewerbsspiel und die diversen Kindergartenuntersuchungen machten deutlich, daß vor allem in belastenden Situationen liebevoll unterstützte Kinder oder Kinder mit sicherer Mutterbindung häufiger mit diesen Herausforderungen auf qualitativ adaptivere Weise umgegangen sind als nicht unterstützte oder unsicher gebundene Kinder. Bindungssichere Vorschulkinder lassen sich von ihren negativen Gefühlen bei Mißerfolg nicht so stark beeinträchtigen, daß sie ihr Ziel aufgeben und handlungsunfähig werden. ....
     Ein sicheres Kind hat Selbstvertrauen, das auf dem berechtigten Vertrauen in andere basiert. Das bindungsunsichere Kind findet dagegen oft keinen 'Ausweg' aus seinen negativen Gefühlen und kann sich deshalb nicht so gut auf die Geschichten, auf die Aufgaben, auf das Spielzeug oder auf die Interessen der anderen beim Zusammenspiel konzentrieren. Der kreative, unbelastete Umgang der Kinder mit Anforderungen, auch wenn dabei negative Gefühle auftreten, beruht auf der Entwicklung einer eigenen Organisation von Gefühlen und Verhalten, die in den Interaktionen mit den Bindungspersonen gelernt wird." (S. 299/300)

"Insgesamt konnte Ulrike Wartner also an unseren Regensburger Familien zeigen, daß in Berkeley und Regensburg mit gleichen Methoden vergleichbare Ergebnisse über die ersten fünf Jahre des Lebens erzielt wurden (Wartner et al. 1994).Bestimmte Muster einjähriger Kinder, ob sicher, vermeidend, ambivalent oder desorganisiert, führten unter 'normalen' Lebensbedingungen zu ähnlichen Bindungsmustern der Kinder 5 Jahre später. Natürlich ändert sich mit den Jahren die Erscheinungsweise, nicht aber die Bedeutung dieser Beziehungsmuster. Die meisten sechsjährigen Schulanfänger zeigen immer noch klar und deutlich in ihrem Verhalten, ob sie ihrer Mutter zugeneigt sind, ob sie auf Distanz gehen, ihre Beziehung dramatisieren, oder ob sie meinen, ihre Mutter kontrollieren zu müssen. Eine offene Kommunikation wie die der Kleinkinder in der fremden Situation (Grossmann, Grossmann & Schwan, 1986) und im Vorschulalter ist auch mit 6 Jahren wieder ein Zeichen von Bindungssicherheit.
     Die hohe Stabilität von über 80% über einen Zeitraum von einem nach sechs Jahren in der Gruppe von Kindern aus Nicht-Risiko-Familien bei uns und in Berkeley erklärt sich einerseits aus der Vergleichbarkeit der beiden Prüfsituationen und ihren Verhaltensmaßen, die jeweils die Reaktionen des Kindes auf die Rückkehr der Mutter nach altersangemessener Belastung und in fremder Umgebung als emotionalen und Verhaltensausdruck ihrer Bindungsbeziehung interpretiert. Zum zweiten wird eine Beziehung stets von beiden Partnern gestaltet und aufrechterhalten, die sich beide Veränderungen widersetzen. (S. 322-324)

In der mittleren Kindheit - ungefähr zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr - zeigt sich, daß Beziehungsangebote von anderen Erwachsenen und Gleichaltrigen an Einfluß beträchtlich zunehmen, ohne allerdings die Wirkung der primären Bindungen verdrängen zu können.
     "Aus der Zusammenschau ergibt sich:
- Qualitäten der Eltern-Kind-Beziehung können auf verschiedene Weise gemessen werden -aus Beobachtungen, Interviews und standardisierten Situationen - solange dabei auf Zeichen der individuellen Wertschätzung, des behutsamen, nicht belastenden Umgangs miteinander und einer partnerschaftlichen, nicht einseitig dominierenden Orientierung geachtet wird.
- Die längsschnittlichen Ergebnisse zeigen bereits in diesem Alter trotz gelegentlich mühsamer Suche nach Zusammenhängen den Lohn der frühen psychologischen 'Investitionen' der Eltern. Wenn es ihnen gelungen war, mit dem Kleinkind ein beidseitig befriedigendes Miteinander aufzubauen, zeigte sich eine deutlich positivere Eltern-Kind-Beziehung im Alter von 10 Jahren. Das traf für alle Ebenen zu, ihre Repräsentationen, ihre Interaktionen und ihre Klarheit und Offenheit, mit der sie über mögliche Probleme sprechen konnten. All das galt natürlich auch für die negative Seite dieser Zusammenhänge, so daß sich gleichermaßen eine deutliche Kontinuität von wenig gelungenen, wenig wertschätzenden und wenig unterstützenden Eltern-Kind-Beziehungen zeigte. ....
     Wir sehen in weiteren Bindungen zu anderen als den Eltern eine wesentliche, vielleicht die wichtigste Erfahrung, die ein Mensch in seiner Entwicklung machen kann, um frühere psychisch einschränkende und belastende Erfahrungen in ihrem Einfluß auf die Organisation seiner Gefühle allmählich zu erkennen und bewältigen zu lernen. Auf diesem Weg kann auch nachträglich eine Wertschätzung von Bindungen und eine neue, reflektierte, sichere mentale Repräsentation von Bindung erworben werden. Dieses ist die zweite wesentliche Erkenntnis der Bindungsforschung. Sie weist auf grundlegende Möglichkeiten für Veränderungen internaler Arbeitsmodelle hin. Dies wird auch von den Bindungsforschern Miriam und Howard Steele aus New York aufgrund ihrer ebenfalls längsschnittlichen Untersuchung an 12jährigen Kindern so gesehen (Steele & Steele, in Vorb.)." (S. 407-409)

Sogar traumatische Ereignisse, die der Mutter lange vor der Geburt ihrer Kinder widerfuhren, haben auf diese signifikante Nachwirkungen
     "Wenn die Mutter vom Tod einer Bindungsperson vor dem 7. Lebensjahr berichtete, war die Wahrscheinlichkeit, daß ihr Einjähriges in der Fremden Situation Anzeichen von Desorganisation und Desorientierung erkennen ließ, statistisch bedeutsam erhöht. Von den Müttern, deren Kinder keinerlei Anzeichen von Desorganisation in der Fremden Situation erkennen ließen, hatten nur 2, 7% eine Bindungsperson vor dem 7. Lebensjahr verloren, während bei den Müttern, deren Kinder deutliche Anzeichen von 'D' zeigten, 26,1% einen solchen Verlust erlitten hatten. Ebenso groß war der Unterschied beim Tod einer sekundären Bindungsperson, etwa der Großmutter, des Großvaters oder einer nicht verwandten Bindungsperson: Nur 3,5% der Mütter von Kindern, die keinerlei 'D'-Merkmale zeigten, berichteten von einem solchen Verlust, während es bei den Müttern von Kindern mit 'D'-Merkmalen 25% waren. Auch eine lange krankheitsbedingte Trennung als Kind, die wegen der restriktiven Besuchszeitregelung vom Kind oft mit der Angst, verlassen zu werden, verbunden war, und sogar die Teilnahme an der in Deutschland damals üblichen Kinder-Landverschickung wurden als traumatisierend bis in die nächste Generation identifiziert. Signifikant waren auch die Zusammenhänge zwischen körperlicher Züchtigung der Mutter, wenn Gegenstände wie Ausklopfer, Gürtel, Kleiderbügel u.ä. verwendet wurden, und desorganisiertem Bindungsstatus des Einjährigen. Diese Ergebnisse zeigen einen deutlichen generationenübergreifenden Einfluß auf Merkmale von Desorganisation im Bindungsverhalten der Kleinkinder bei Trennungsleid." (S. 448/449)

Deterministische Schlußfolgerungen, wie sie sich zuweilen in tiefenpsychologischen Entwicklungstheorien finden lassen, weisen die Autoren zurück.
     "Abschließend muß die naive Vorstellung von einer vorherbestimmten (determinierten) Kontinuität zwischen 'Bindung mit einem Jahr' und 'Bindung im Jugendalter' auf dem Hintergrund der vorgestellten Ergebnisse relativiert werden. Wir fanden zahlreiche wichtige Zusammenhänge auf dem Weg zu positiver psychologischer Anpassung, die sich bindungstheoretisch gut verstehen und integrieren lassen, aber wir fanden keine einfache Kontinuität, weder in der Bielefelder noch in der Regensburg-I-Gruppe von insgesamt 80 jungen Erwachsenen. Da die einzelnen Zusammenhänge zwar bedeutsam, aber statistisch nicht immer übermäßig groß waren, muß man die vielen einzelnen Komponenten eher von einer gehobenen Warte aus betrachten, um ein Bild daraus zusammensetzen zu können.
     Das von uns zusammengesetzte Bild zeigt, daß ein sicherer Umgang mit Herausforderungen, denen man nicht ausweichen kann und die das Bindungssystem aktivieren, in allen untersuchten Facetten sprachlich und expressiv deutlich von unsicheren Strategien unterschieden werden konnte. Psychische Sicherheit bedeutete in den jeweiligen Bestimmungsstücken stets folgendes: einen von psychischen Einschränkungen freien und flexiblen Umgang mit sozialen Erfahrungen und Vorstellungen, wobei die Gefühle realistisch den Ereignissen entsprechen, und in dem Klarheit über die Situation herrscht, die sprachlich kohärent dargestellt wird. Wenn nötig, wird Hilfe anderer erbeten und angenommen, um angemessen und lösungsorientiert handeln zu können. Die 'Kunst der Sicheren' ist, negative Gefühle zum Anlaß für die aktive Veränderung der Bedingungen zu nehmen, die sie verursacht haben. Dieses psychologische Können (Kunst kommt von können!) lernt ein Kind am ehesten in Familien, die psychologische Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und angemessen und prompt beantworten. Viele Untersuchungen haben ähnlich wie unsere empirische Belege für Bowlbys Annahmen beigesteuert, daß die Erfahrungen mit den Eltern während der vielen Jahre bis zur Reife einen wesentlichen Einfluß auf die psychische Gesundheit eines Menschen haben." (S. 521/522)

Der scheinbare Widerspruch zwischen nachweisbaren Dauerwirkungen bei gleichzeitiger Entwicklungsoffenheit läßt sich bis in das Erwachsenenalter verfolgen.
     "Die grundlegenden Ergebnisse unserer Untersuchungen werden von anderen und früheren Forschungsgruppen bestätigt, die nicht im Rahmen der Bindungstheorie forschten. Diese Studien erkundeten, was aus Kindern wird, auf die bei der Geburt oder im Säuglingsalter viele Risiken treffen. Die berichteten Untersuchungen reichten alle bis ins Erwachsenenalter, zwei davon über 40 Jahre. Als Schutzfaktoren wurden immer wieder liebevolle Zuwendung und Verständnis für das Kind genannt, ebenso wie ein gewinnendes Wesen des Kindes, das dadurch die Hilfe und Unterstützung anderer gewinnt. Wenn der Vater mit in die Untersuchung einbezogen wurde, zeigte sich deutlich sein wesentlicher Einfluß auf die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes bis ins mittlere Erwachsenenalter.
     Was können wir folglich über frühe Einflüsse sagen? Sie bahnen bereits den Weg in positiver, seelisch gesunder wie in negativer, seelisch beeinträchtigender Weise an, aber sie legen noch nichts fest. Eine spätere zuverlässig unterstützende Beziehung, z. B. eine vertrauensvolle Partnerschaft mit dem Vater des Kindes, kann helfen, frühe Versagungen von Bindungsbedürfnissen zu überwinden. Noch gibt es aber keinen Beleg, daß frühe sehr negative Erlebnisse eines Kindes ungeschehen gemacht werden könnten, sie können jedoch verarbeitet werden. Bedingungen, unter denen Bindungen überhaupt nicht zustande kommen, zeitigen besonders gravierende Folgen (O'Connor, 2004).
     Das Verhalten der Kleinkinder in der Fremden Situation in unseren Untersuchungen ist ein gutes, differenziertes Beispiel: Das Bindungsmuster des Kleinkindes scheint noch keine 'Weichen' zu stellen, aber die mehr oder weniger feinfühligen Reaktionen der Eltern, mit denen sie statistisch und bindungspsychologisch zusammenhängen, zeigen bereits deutliche langfristige Einflüsse. Die vielfältigen Ergebnisse sehr unterschiedlicher Langzeituntersuchungen lassen keinen Zweifel offen, daß die Struktur psychischer Sicherheit statistisch signifikant mit den elterlichen Reaktionen auf das Bindungs- und Explorationsverhalten des Kindes zusammenhängt, ebenso wie mit ihrer Unterstützung und angemessenen Herausforderung - im Gruppenvergleich. Im Einzelfall sieht es natürlich so aus, daß Kompensationen möglich sind. Dennoch gibt zu jedem Alterszeitpunkt die von den Eltern beeinflußte Qualität der psychischen Sicherheit den Ausschlag dafür, wann, unter welchen Bedingungen und wie oft das Pendel in die Richtung eines weniger konstruktiven, weniger kohärenten psychischen Gefüges ausschlägt." (S. 590/591)

Im Epilog kehren die Verfasser zur Ausgangsfrage zurück:
     "Unsere zentrale Frage, die das gesamte Buch wie ein roter Faden durchzieht, lautete in jedem Teil aufs neue: Wie entsteht psychische Sicherheit und woran erkennt man sie? ....
     Der Entwicklungsweg zu psychischer Sicherheit bahnt sich aus dem Vertrauen in die Zugänglichkeit zur schützenden Bindungsperson und dem Vertrauen in ihren emotional unterstützenden Beistand beim Umgang mit äußeren und inneren Belastungen. Das gilt nicht nur für die frühe Kindheit, sondern bis ins Jugendalter, und wenn wir die Bindungsforschung mit älteren Menschen einbeziehen, wohl wirklich 'von der Wiege bis zum Grabe'.
     Die in diesem Buch beschriebenen Untersuchungen zeichnen ein Netz von Einflüssen und Beziehungen zwischen der psychischen Sicherheit eines Kindes, positiven Beziehungen zu den Eltern, gesundem Selbstwertgefühl und sozialer Kompetenz. Soziale und sachliche Kompetenz kann in jedem Kulturkreis andere Akzente haben, aber das Grundprinzip ist universeller Natur (Grossmann, K. E. & Grossmann K., in Vorb.). Auf der Basis der Fürsorglichkeit der Eltern, ihres Verständnisses, ihrer Feinfühligkeit und Kooperation und ihrer Unterstützung beim Erkunden ihrer Welt entwickeln Kinder im Verlauf ihrer individuellen Entwicklung adaptive, in ihrer engen Gemeinschaft gut funktionierende und realitätsnahe innere Arbeitsmodelle von sich und anderen, die sie später selbst befähigen, anderen nahestehenden Schwächeren Zuwendung und Unterstützung zu geben. Klinisch arbeitende Kollegen sehen in der Unfähigkeit, sich in Bindungsbeziehungen sicher zu fühlen, ein wichtiges Element psychischer Störungen. Dies entspricht den physiologischen Befunden der Psychobiologie, die Bindungen besonders in ihrer Funktion der Streßreduktion beschreibt." (S. 603/604)

Die Antwort auf die Frage nach der Behandelbarkeit psychischer Unsicherheit kann bei der das ganze Buch durchziehenden Dialektik von Musterläufigkeit und Beeinflußbarkeit nur sehr ambivalent ausfallen. Der letzte Absatz lautet:
     "Läßt sich psychische Unsicherheit beheben? Ja und nein. Sichere Partner oder Therapie können Wunder wirken. Partner können aber auch verzweifeln, wenn sich keine Bereitschaft des anderen zu Gemeinsamkeit auf der Grundlage emotionaler Zuneigung entwickelt. Eine solche Zuneigung muß auch bereit sein, die Vielfalt der erfreulichen und der anstrengenden Anforderungen des Lebens mit Kindern und Partnern zu teilen und auch immer aus deren Sicht zu berücksichtigen.
     Der große Unterschied zwischen psychischer Sicherheit und Unsicherheit liegt unseres Erachtens darin, ob trotz hinreichenden Funktionierens im täglichen Leben eine größere oder geringere Verletzlichkeit gegenüber traumatischen Lebensereignissen oder Situationen besteht, ob das Lebensgefühl meistens erfreulich und emotional reich ist und ob es Lebensinhalte gibt, für die man sich gerne anstrengt und die, weil sie auch anderen nützen, wertgeschätzt werden. Die negative Seite wäre, daß das Leben eher als Last und ohne lohnende Ziele empfunden wird, als etwas, das zu ertragen ist und das eher emotional leer, selbstbezogen und unerfreulich ist. Ob das Gefüge psychischer Sicherheit das eigene Leben dominiert, hängt weitgehend davon ab, ob die Bereitschaft und die Möglichkeit zu sicheren Bindungen bestehen." (S. 612)

Bilanzierende Bewertung:
Karin und Klaus Großmann haben ein monumentales Werk vorgelegt, das man nur mit schlechtem Gewissen besprechen kann. Entweder man versucht die übliche kommentierende Rezension, dann macht man sich der Anmaßung schuldig, oder man geht den bei uns üblichen Weg der dokumentarischen Rezension, dann scheitert man an der Aufgabe, unter den vielen möglichen die richtigen Textstellen herauszugreifen. Man steht vor einer riesigen Schatztruhe, die zu reich gefüllt ist, um eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Deshalb kann es nur einen guten Rat geben: greift selbst hinein!

Kurt Eberhard  (Jan. 2005)

 

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