FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Klaus E. Grossmann und Karin Grossman (Hrsg.)

Bindung und menschliche Entwicklung

- John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie -

Klett Cotta 2003 (443 Seiten, 39 Euro)

 

Niemand in Deutschland hat sich um die Bindungstheorie so verdient gemacht, wie Karin und Klaus Grossmann. Nun präsentieren sie eine Sammlung grundlegender Texte ihrer geistigen Eltern, John Bowlby und Mary Ainsworth, die diesen ein würdiges Denkmal setzt und sie vor oberflächlichen Rezeptionen schützt, wie sie in den letzten Jahren in Mode gekommen sind und die beispielsweise so weit gehen, daß angstvolle Fixierungen mißhandelter Kinder auf ihre traumatisierenden Eltern als Belege schützenswerter Bindungen mißbraucht werden (vgl. S. 33/34)

Zum Aufbau des Buches erläutern die Herausgeber:
„Das Buch ist in fünf Teile gegliedert. Die kürzeste und prägnanteste Fassung der Bindungstheorie hat John Bowlby 1987 im ersten Beitrag dieses Buchs, »Bindung«, geschrieben. Der Aufsatz soll, zusammen mit dieser Einführung, die Grundlage für das Folgende bilden und einen ersten Überblick über die Bindungstheorie geben.
Teil II stellt die evolutionsbiologische Orientierung von Bindung vor. Dafür ist unseres Erachtens John Bowlbys Niko-Tinbergen-Vorlesung (1989; nicht in diesem Band enthalten) ebenso erhellend wie seine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Problemen aus ethologischer Sicht (1991a) und die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Persönlichkeit, ebenfalls aus ethologischer Sicht, die gemeinsam von Mary Ainsworth und John Bowlby (1991) verfaßt wurde.
Teil III enthält im wesentlichen Beiträge von Mary Ainsworth über die bindungspsychologische Forschung im Säuglingsalter. Die Forschung begann in Uganda als Feldforschung (Ainsworth, 1964) und wurde in Baltimore durch »Hausbeobachtungen« und die Entwicklung der Fremden Situation fortgeführt (Ainsworth & Wittig, 1969) und formalisiert (Ainsworth & Bell, 1970). Die integrative Sicht wird in der Konzeption von Bindungsverhaltensmustern (patterns of attachment) deutlich. Ein solches Muster ergibt sich aus der Berücksichtigung von situativen Einflüssen und Verhaltenssequenzen in ihrer Bedeutung für das Zusammenwirken aller Verhaltensweisen. Dabei war der Rahmen der Bindungstheorie von Mary Ainsworth z. B. durch die Betonung der Exploration von Anfang an viel weiter gespannt als nur auf das reine Bindungsverhalten per se. Unsere eigene Akzentuierung von Bindung im Kontext psychologischer Anpassungen hat ihre Wurzeln in diesem Ganzen, dem Mary Ainsworth immer verpflichtet war.
Teil IV enthält Beiträge zu Einflüssen der Mutter auf die Bindungsentwicklung ihrer Kinder. Einmal geht es um kindliche Kompetenz, ein zentrales Thema in der Entwicklungspsychologie (Ainsworth & Bell, 1974). Kompetenz entwickelt sich aus mütterlicher »Feinfühligkeit« gegenüber den kindlichen Signalen, was Ainsworth, Bell und Stayton (1974) umfassend darstellen. Ein typisches Beispiel für diese Art der Entwicklung von Kompetenz gibt das Weinen des Kleinkinds. Bell und Ainsworth (1972; Beitrag in diesem Band nicht enthalten) haben darüber geforscht, und es hat eine wissenschaftliche Kontroverse gegeben, die auch heute noch gelegentlich aufflackert. Wir werden diese Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Antwort von Mary Ainsworth, die sie mit Sylvia Bell 1977 auf kritische Einwände hin veröffentlichte, darstellen (vgl. den letzten Beitrag dieses Teils). Ihre Antwort macht deutlich, wie grundverschieden die theoretischen Denkgebäude der Lerntheorie des kindlichen Lernens und die Theorie kindlicher Bindung - Bindung als vorprogrammierte Form des einvernehmlichen Miteinanders - waren und teilweise noch sind.
Teil V schließlich enthält Beiträge zur Bindungsforschung über den Lebenslauf. An dieser waren wir als Forscher von Anfang an interessiert, und hier sind auch die psychoanalytischen Vorstellungen zwischen den Polen »Vorurteil« und »überprüfbare Hypothese« am deutlichsten. Zwei Vorträge von Mary Ainsworth (1985a, b) für die New York Academy of Medicine wurden zu diesem Themenbereich ausgewählt, außerdem ein längerer Kommentar aus einem Band mit Beiträgen über Bindung im Vorschulalter (Ainsworth, 1990). Den Abschluß bildet ein kürzerer Kommentar von John Bowlby, Postskript (1991b), über Bindung über den Lebenslauf, vielleicht sein letzter. John Bowlby starb am 2. September 1990 auf der Isle of Skye in Schottland. Kurz zuvor hielt er noch das erste Exemplar seiner Biographie über Charles Darwin in den Händen. Mary Ainsworth starb nach längerer Krankheit am 21. März 1999 in Charlottesville, Virginia.” (S. 17 - 19)

Jeder Teil wird von einem Kapitel der Herausgeber eingeführt, das die Lektüre der darauf folgenden Texte und ihre Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Bindungstheorie wesentlich erleichtert.

Besonders wertvoll ist der Abdruck des Postskripts, das Bowlby kurz vor seinem Tod für ’Attachment across the Life Cycle’ verfaßte, herausgegeben 1991 von C.M. Parkes, J. Stevenson-Hinde & P. Marris. Ihm entnehmen wir folgende Zitate:
„Wenn wir das Vorhandensein eines Bindungsverhaltenssystems im Organismus annehmen, das als Ergebnis der Evolution betrachtet wird und dessen biologische Funktion Schutz ist, dann erweisen sich viele der Rätsel als lösbar, die diejenigen, die sich mit menschlichen Beziehungen beschäftigen, lange Zeit verwirrt haben. Das Verlangen nach Nahrung oder nach sexueller Befriedigung wird nicht länger als einzige Triebkraft privater Intimität gesehen. Statt dessen wird das Bedürfnis nach Nähe oder nach der Möglichkeit des Zugangs zu jemandem, der als stärker oder klüger angesehen wird und der, wenn er zugänglich ist, innig geliebt wird, als ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur angesehen. ....
Wenn Systeme in Harmonie zusammenarbeiten sollen, muß zwischen ihnen effektive Kommunikation bestehen, und das gilt für nichts mehr zu als für die Dyade von Kind und Elternteil. ....
Es war ein großes Pech für die Psychoanalyse, daß die Konzepte der Information und Kommunikation in der Wissenschaft unbekannt waren, als Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Ideen über Metapsychologie formulierte. ....
Tatsächlich ist in der psychoanalytischen Denkweise das Hauptkriterium für seelische Gesundheit oder Krankheit das Ausmaß, in welchem Kommunikation offen oder verschlossen ist, und wenn sie offen ist, ob sie klar und kohärent oder aber undurchsichtig und widersprüchlich ist. ....
Auch hier interessiert den Psychoanalytiker nicht nur das Ausmaß, in dem ein Patient sich frei fühlt, seine Emotionen offen auszudrücken, sondern er beschäftigt sich mit der Hauptfrage, ob er weiß, was seine Gefühle sind und was sie hervorgerufen hat. Dies sind Themen der intrapsychischen Kommunikation. ....
Traditionell hat die psychoanalytische Theorie den Fokus der Aufmerksamkeit eher auf diese intrapsychischen Blockaden gelegt: auf die Ansammlung von Abwehrprozessen, die dazu führen, daß eine Person unfähig ist, Erinnerungen abzurufen, unfähig, Gefühle auszudrücken und sich dessen bewußt zu sein, was sie fühlt und warum sie es fühlt; sowie auf Blockaden, die verantwortlich dafür sind, daß Vorstellungen über andere Personen gehegt werden, die ganz klar falsch sind. Der Grund ist natürlich, daß die Personen, die unsere Hilfe suchen, fast per definitionem durch solche intrapsychischen Blockaden beeinträchtigt sind, die sich von Anfang an als Blockierungen in der Kommunikation mit dem Therapeuten manifestieren; wir richten dann unsere Bemühungen darauf, dem Patienten zu helfen, diese Blockierungen zu entfernen. Viel weniger Aufmerksamkeit wurde den Umständen gewidmet, die ursprünglich zu der Entwicklung solcher intrapsychischen Blockaden geführt haben. Der Grund dafür ist natürlich, daß das psychoanalytische Theoretisieren sich fast ausschließlich auf Daten aufbaute, die im Verlauf der Therapie gewonnen wurden. .....
Während ein sicheres Kind mit 12 Monaten mittels Gestik und Mimik offen in zweiseitiger Kommunikation mit seiner Mutter steht - wobei jeder der beiden Partner die Kommunikation korrekt interpretiert -, ist ein unsicheres Kind nicht dazu in der Lage. Statt sich seiner Mutter zuzuwenden, um zu erkunden, ob es ungefährlich ist oder nicht, sich den Spielsachen und einem Besucher anzunähern und beides zu untersuchen, und um ihr anzudeuten, wie es sich in der fremden und sich verändernden Situation fühlt und wie die Mutter nach seinen Wünschen reagieren solle, bleibt das Kind für sich oder gibt widersprüchliche Signale. Zudem sind diese gegenseitigen Kommunikationsmuster meist dauerhaft, wie die Längsschnittstudien zeigen, die von Mary Main in Kalifornien bzw. Karin und Klaus Grossmann in Bayern durchgeführt wurden. ....
Die Befunde über die sehr unterschiedlichen Arten, in denen sicher und unsicher gebundene Kinder sich verhalten, wenn sie frustriert sind, sich ängstigen oder bekümmert sind, haben weitreichende Bedeutung für Psychopathologie und Psychotherapie. So beobachteten Klaus und Karin Grossmann, daß jedes Kind im Alter von 12 Monaten, das als sicher gebunden klassifiziert wurde, nicht nur in direkter Kommunikation mit seiner Mutter stand, wenn es zufrieden war, sondern auch, wenn es bekümmert war; dagegen kommunizierten die Kinder, die als unsicher-vermeidend klassifiziert waren, nur dann - wenn überhaupt - direkt, wenn sie zufrieden waren. Je mehr sie verzweifelten, desto weniger kommunizierten sie. ....
Wer in seiner Kindheit in Zeiten der Not eine verständnisvolle Reaktion erlebt hat, wird in der aktuellen Krise auf Ähnliches hoffen, während diejenigen, die während der Kindheit Zurückweisung und Mißachtung erlebt haben, auch genau diese erwarten werden, wenn sie im Erwachsenenleben verzweifelt sind.“ (S. 402 - 406)

Hier wie an anderen Stellen wird deutlich, daß Bowlby der Psychoanalyse mehr verbunden blieb, als Karin und Klaus Grossmann annehmen. Die tiefen Wurzeln der Bindungstheorie im psychoanalytischen Mutterboden hat Peter Fonagy freigelegt, und in der deutschen klinischen Praxis engagiert sich Karl-Heinz Brisch (s.a. Brisch/Grossmann und Brisch/Hellbrügge) erfolgreich für die Reintegration der beiden so überaus fruchtbaren Paradigmen. Deshalb empfehlen wir den psychoanalytischen Experten die Anschaffung der von dem Forscherehepaar Grossmann sorgfältig gesammelten und sachkundig kommentierten Schriften von John Bowlby und Mary Ainsworth besonders dringend . Die bindungstheoretisch orientierten Kolleginnen und Kollegen und alle, die sich für die Geschichte der Bindungstheorie interessieren, werden sie sich ohnehin nicht entgehen lassen.

Kurt Eberhard (Jan. 2004)

 

 

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