FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 



Manuela Lenzen

In den Schuhen des anderen

Simulation und Theorie in der Alltagspsychologie

mentis, 2005

(212 Seiten, 28 Euro)

Frau Dr. Lenzen ist Philosophin und Projektassistentin der Forschungsgruppe 'Embodied Communication' im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Das Anliegen ihres Buches ist aus dessen Klappentext ersichtlich:
»Menschen sind Meister darin, das Verhalten ihrer Mitmenschen zu verstehen. Wie sie dies fertig bringen, liegt nicht auf der Hand. In der Philosophie werden traditionell zwei Antworten diskutiert: Die eine besagt, daß Menschen ihresgleichen ebenso verstehen wie Vorgänge in der unbelebten Natur, daß sie also aus Erfahrungen auf allgemeine Regeln schließen und diese im Einzelfall anwenden. Die andere besagt hingegen, daß es eine besondere Art des Verstehens gibt, die darauf beruht, daß man die Erlebnisse und Überlegungen des anderen aus eigener Erfahrung kennt oder sich zumindest vorstellen kann. Der Volksmund faßt dieses Position in dem Sprichwort zusammen, man könne einen anderen nur verstehen, wenn man eine Meile in seinen Schuhen gelaufen sei. Beide Positionen waren lange Zeit Gegenstand recht unfruchtbarer Kontroversen. Neue empirische Forschungen in der Primatologie und Entwicklungspsychologie haben frischen Wind in diese Debatte gebracht.
     Das Buch zeichnet die Kontroverse um Simulationstheorie und Theorie-Theorie, so die aktuellen Namen der gegensätzlichen Positionen, nach und begründet, daß Verstehen durch Simulation und Verstehen durch Theoriegebrauch keine sich ausschließenden Alternativen, sondern die Extrempunkte eines Kontinuums sind.«

Das Inhaltsverzeichnis läßt den Gang ihrer Argumentation gut erkennen:

Einleitung
I. Der Alltagspsychologe als Theoretiker
1.1. Die Alltagspsychologie als implizite Theorie
1.2. Die Form der alltagspsychologischen Theorie
1.3. Argumente aus der Entwicklungspsychologie
1.4. Die alltagspsychologische Theorie als Wissenskorpus
1.5. Fazit
2. Der Alltagspsychologe als Simulator
2.1. Ein anderes Bild aus der Entwicklungspsychologie
2.2. Das Modell-Modell
2.3. Die "radikale" Simulationstheorie
2.4. Zwischenbilanz
3. Ein (beinahe) entscheidender Test und seine Folgen
3.1. Cognitive penetrability
3.2. Eine Immunisierungsstrategie
3.3. Die Simulation Vernünftiger
3.3.1. Die Rationalisierungserklärung
3.4. Ein neuer entscheidender Test
3.5. Fazit: Empfindliche Simulationen
4. Eine Nische für die Simulation
4.1. Die Wahrnehmung von Intentionen
4.2. Das Körperschema
4.3. Spiegelneuronen
4.4. Zwei Strategien
4.4.1. Neurologische Evidenzen
4.4.2. Entwicklungspsychologische Evidenzen 
4.5. Eine realistische Simulationstheorie
5. In den Schuhen des anderen
Literaturverzeichnis

Im ersten Hauptkapitel wird die wissenschaftliche Position dargestellt, die meint, daß das gegenseitige Verstehen ungefähr so abläuft wie das naturwissenschaftliche, daß also auf dem induktiv-empiristischen Erkenntnisweg mitmenschliche Erfahrungen zu Regeln verallgemeinert werden, die dann im Einzelfall Anwendung finden. Weil diese Position die Theorie vertritt, daß der alltagspsychologische Mensch Theorien über andere Menschen entwickelt, nennt man sie 'Theorie-Theorie'. Das Kapitel mündet in folgendem Fazit:
»Der augenfälligste Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und der Alltagspsychologie besteht darin, dass erstere bewusst erarbeitet, niedergelegt und verwendet wird. Bittet man dagegen Alltagspsychologen, ihr Wissen über das Handeln anderer Personen oder die Leitlinie, nach denen sie das Verhalten anderer interpretieren, anzugeben, warten sie statt mit einer konsistenten Theorie mit einer Reihe von mehr oder weniger plausiblen und mehr oder weniger aussagekräftigen Sätzen auf. Dass diese nicht ihre gesamte alltagspsychologische Theorie ausmachen können, darin sind sich die Theorie-Theoretiker einig. Sie nehmen daher zumeist an, dass es sich bei der alltagspsychologischen Theorie um eine implizite, zum größten Teil unbewusst bleibende Theorie handelt. Die Analogie von grammatischem Wissen und Alltagspsychologie hat sich dabei nicht als überzeugend erwiesen. Den Analogien mit einem Forschungsprogramm à la Lakatos, einem Kuhnschen Paradigma oder dem Handlungsgesetz L von Churchlands ist gemeinsam, dass sie einen harten Kern unverzichtbarer Annahmen postulieren, wobei sich sowohl Churchland als auch Verfechter des Lakatos'schen Ansatzes darauf festlegen, dass es sich bei dem Kern um die Annahme handelt, dass Menschen entsprechend ihren Überzeugungen versuchen, ihre Ziele zu erreichen. .....
     Auch wenn es möglich ist, alltagspsychologische Verhaltensdeutungen nach dem Muster einer dieser Theorievorstellungen zu beschreiben, stellt sich doch die Frage, ob diese Theorien dem Gebot der Sparsamkeit genügend Rechnung tragen, oder ob nicht mancherlei postuliert und mangels Nachweisbarkeit in den Bereich des Unbewussten verlagert wird. Anders stellt sich die Lage nur bei der Theorie dar, die alltagspsychologischen Fähigkeiten beruhten auf Wissen von beliebiger Struktur. .....
     Als abgespeckte Version der Theorie-Theorie können wir an dieser Stelle festhalten, dass sie im schwächsten Fall behauptet, dass Wissensbestände in alltagspsychologischen Interpretationen eine Rolle spielen. Diese Position ist nun so schwach, dass kaum noch zu sehen ist, warum man eine solche Theorie überhaupt explizit vertreten sollte, denn wer würde sie bestreiten? Warum sie dennoch von Interesse ist, wird sich zeigen, wenn sie der Simulationstheorie gegenübergestellt wird.« (S. 59/60)

Im zweiten Hauptkapitel wird deshalb die Simulationstheorie vorgestellt und mit der Theorie-Theorie verglichen:
»Der zentrale Unterschied zwischen der Theorie-Theorie und der Simulationstheorie besteht darin, dass der Alltagspsychologe der Simulationstheorie zufolge in einem noch zu präzisierenden Sinne ähnliche mentale Zustände durchläuft wie der zu Verstehende, während der Theorie-Theorie zufolge der Alltagspsychologe mentale Zustände durchläuft, die diejenigen des zu Verstehenden zum Gegenstand haben, also über sie nachdenkt. Ein weiterer Unterschied besteht in ihrem Anspruch: Während Simulationstheoretiker behaupten, dass die Simulation eine grundlegende und unersetzbare Rolle spielt, alltagspsychologisches Wissen von mehr oder weniger theoretischer Struktur aber auch beteiligt sein kann und aller Wahrscheinlichkeit nach beteiligt ist, leugnen Theorieverfechter, dass Simulationen irgendeine bedeutende Rolle bei der Interpretation menschlichen Verhaltens spielen.« (S. 88)

Am Ende dieses Kapitels kommt die Autorin zu folgender Zwischenbilanz:
»Es zeichnet sich also bereits an dieser Stelle ab, dass eine reine Simulationstheorie die alltagspsychologischen Fähigkeiten der Menschen nicht erklären wird, eine strenge Theorie-Theorie sich aber ebenfalls starken Einwänden ausgesetzt sieht. Doch so wenig produktiv die Polemiken der Anhänger entgegengesetzter Schulen sich bisweilen ausnehmen, so hilfreich ist die starke Polarisierung zur Entwicklung empirischer Testverfahren. In den folgenden Kapiteln geht es darum, die Rolle von Simulation und Wissen in alltagspsychologischen Interpretationen anhand empirischer Evidenzen herauszuarbeiten.« (S. 99)

Als ein Verifikations-Kriterium der empirischen Theorieüberprüfung nennt Lenzen:
»Sollten Menschen mit nachweislich falschen Ansichten über die Funktion des 'entscheidungsgenerierenden Apparats' anderer Personen dennoch richtige Voraussagen über das Verhalten dieser Personen machen, ist anzunehmen, dass die Simulationstheorie stimmt: Das spräche dafür, dass diese falschen Überzeugungen keinen Einfluss auf den Prozess des Voraussagens haben.« (S. 101)

Und dann folgt eine Reihe sehr schlagkräftiger empirischer Befunde, die aber im Rahmen einer Rezension nicht adäquat nachgezeichnet werden können. Das Resultat lautet:
»Es erscheint nach dem Gesagten als ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Simulations-prozesse die alleinige oder hauptsächliche Basis alltagspsychologischer Interpretationen sein könnten. Simulationen, jedenfalls die große Gruppe der adjustierten Simulationen oder Teilprojektionen, kommen nicht ohne Wissens- oder Theorieelemente aus. .....
     Noch nicht gezeigt ist damit, ob Theorie-Theorien ..... ohne Simulationselemente auskommen. Mit anderen Worten, bislang ist noch kein Ort für Simulationsprozesse in alltagspsychologischen Verhaltensinterpretationen gefunden worden. ..... Ihn zu bestimmen, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.« (S. 141)

Für diese Ortsbestimmung zieht die Verfasserin die im vergangenen Jahrzehnt entdeckten Spiegelneuronen heran. Die Spiegelneuronen sind aktiv, (1.) wenn ein Mensch eine bestimmte Handlung ausführt und (2.) wenn er diese bei anderen Menschen beobachtet.
»Gallese und Goldman sehen in den Spiegelneuronen eine rudimentäre Basis der mind-reading-ability und eine Bestätigung der Simulationstheorie. Wird die These der Simulationstheorie so verstanden, dass sie irgendeine Form von Korrespondenz zwischen der mentalen Aktivität des Simulierenden und der des simulierten annimmt, scheint die Aktivität der Spiegelneuronen genau diese Korrespondenz zu liefern. Die Aktivität der Spiegelneuronen könnte die neuronale Basis der von der Simulationstheorie eingeforderten mentalen Mimikry oder zumindest eine rudimentäre Basis derselben, eine phylogenetische Vorstufe sein. Die Spiegelneuronen sorgen sozusagen dafür, dass der Alltagspsychologe mental in die Schuhe des anderen schlüpfen kann« (S. 155)

Eine weitere Bestätigung der Simulationstheorie aus der klinischen Praxis ist das Phänomen des Autismus.
»Typisch für den Autismus ist ein gestörtes Einfühlungsvermögen. Autisten können das Innenleben ihrer Mitmenschen nicht begreifen. ..... Es fallt ihnen schwer, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen oder angemessen auf seine Gefühle zu reagieren. ..... Der Psychologe Simon Baron-Cohen hat für diese Erkrankungen den Namen Seelenblindheit (mindblindness) geprägt. Was Autisten fehlt, so wird vermutet, ist eben die Fähigkeit des Alltagspsychologen.« (S. 157)

Im Schlußkapitel resümiert die Autorin,
»dass die Simulation aufgrund der in den meisten Situationen nötigen Adjustierungen, die wiederum Wissen von Seiten des Alltagspsychologen erfordern, nicht als alleinige Methode der Interpretation von Verhalten angesehen werden kann. Weiterhin zeigte sich, dass sie aufgrund dieser Adjustierungen als kognitiv aufwändig gelten muss. Und schließlich habe ich dafür argumentiert, dass Simulationsprozesse als leicht zu störende Vorgänge auch zu unzuverlässig sind, um die alleinige Basis der Alltagspsychologie zu bilden. Auf einer elementareren Ebene allerdings fand sich eine Nische für Simulationsprozesse: Das Erfassen elementarer intentionaler und emotionaler Zustände gegenwärtiger Personen und ebenso das Vorstellen und Wahrnehmen von Handlungen geschehen durch einen Prozess, in dem genau diejenigen neuronalen Mechanismen aktiviert werden, die auch benötigt werden, wenn entsprechende eigene Intentionen und Emotionen gebildet oder entsprechende Handlungen selbst ausgeführt werden.« (S. 181)

Bilanzierende Bewertung:
Parallel zu diesem Buch von Manuela Lenzen habe ich das von Joachim Bauer über
'Intuitive Kommunikation' gelesen, das ein emphatisches Bekenntnis zur Simulationstheorie auf Basis der Spiegelneuronen-Forschung enthält. Eine Diskussion über die konkurrierende Theorie-Theorie findet dort nicht statt. Das soll kein Vorwurf sein, sondern kennzeichnet unterschiedliche wissenschaftliche Stile: dort die parteiergreifende Darstellung einer neuen Theorie mit einer Fülle von empirischen Belegen und Betonung der Praxisrelevanz, die anderen die Kritik überläßt, hier eine gründliche dialektische Diskussion zweier konkurrierender Konzepte auf der Suche nach Wahrheit. Insgesamt zeigt sich, daß wir beides brauchen: klinische Konzepte, die geeignet sind, praktisches Handeln anzuleiten und philosophisch geschulte Theoriekritik.

Wer Sinn für die filigrane Akkuratesse sorgfältig abwägender Argumentationen hat, sollte sich den ästhetischen Genuß dieser Lektüre nicht entgehen lassen, ganz abgesehen von der bildungspolitischen Relevanz des Ergebnisses, das die frühe Förderung sensibler Empathie ebenso gebietet wie die Schulung theorieförmiger Erkenntnisweisen.

Kurt Eberhard  (August, 2005)

 

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