FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 



Karl Heinz Brisch & Theodor Hellbrügge (Hrsg.)

Kinder ohne Bindung

Deprivation, Adoption
und Psychotherapie

Klett-Cotta, 2006
(278 Seiten, 32 Euro)


Die Herausgeber:
Karl Heinz Brisch, Priv. Doz. Dr. med. habil., Kinder- und Jugendpsychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker. Oberarzt der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Theodor Hellbrügge Prof. Dr. Dr. h.c. mult., em. Prof. für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde.

Das Buch ist das Resultat des von den Herausgebern organisierten Kongresses »Kinder ohne Bindung« in München 2004. Es dokumentiert die umfassende Erklärungskraft der Bindungstheorie für gesunde und gestörte Persönlichkeitsentwicklungen sowie ihre beträchtliche praktische Relevanz:
»Alle Beiträge zeigen auf unterschiedlichste Weise, wie sich unser Wissen aus der Tierforschung, der Grundlagenforschung sowie aus den verschiedenen Längsschnittstudien zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen des Deprivationssyndroms und seinen Folgen anwenden läßt. Die klinischen Beiträge zur Problematik der Diagnosestellung und Therapie machen Mut, daß positive Entwicklungen auch bei Kindern mit schwerwiegenden Deprivationserfahrungen und Bindungsstörungen möglich sind, wenn diese Kinder neue »sichere« Bindungserfahrungen etwa mit Pflege- oder Adoptiveltern machen können.« (aus der Einleitung der Herausgeber)

Für die erlesene Auswahl der Autoren schuldet die Fachwelt den Herausgebern besonderen Dank:

Kim A. Bard, Ph. D., Director, Reader in Comparative Developmental Psychology, Centre for the Study of Emotion, University of Plymouth, Faculty of Science, United Kingdom.

Dr. Angie Hart, Institute of Nursing and Midwifery, University of Brighton, United Kingdom.

Dana E. Johnson, M. D. Ph. D., Professor Pediatrics, Director, Division of Neonatology, International Adoption Clinic, University of Minnesota, Minneapolis, USA.

Miri Keren, Director of a Community Infant Mental Health Unit, Geha Mental Health Center, Tel-Aviv University, Israel.

Prof. Dr. Zdeněk Matějček, Prague Psychiatric Center, Praha, Ceská Republika (verstorben kurz vor Beginn des Kongresses, vertreten durch Dipl.-Psych. Jana Christ)

Dr. med. Mechthild Papoušek, Kinderzentrum München.

Prof. Dr. Sir Michael Rutter, Social, Genetic and Developmental Psychiatry Centre, Institute of Psychiatry, London, United Kingdom.

Prof. Dr. jur. Ludwig Salgo, Fachbereich Rechtswissenschaften, Johann-Wolfgang-Goethe- Universität, Frankfurt/Main.

Stephen J. Suomi, Ph. D., Chief, Laboratory of Comparative Ethology, National Institute of Child Health and Human Development, Bethesda, USA.

Dr. Jaróslav Šturma, Detské centrum Paprsek, Praha, Ceská Republika.


 

Das Inhaltsverzeichnis annonciert zwölf sehr unterschiedliche Beiträge:

THEODOR HELLBRÜGGE: Vom Deprivationssyndrom zur Entwicklungs-Rehabilitation.

STEPHEN J. SUOMI: Die wechselseitige Beeinflussung zwischen genetischen und Umweltfaktoren formt individuelle Differenzen der Verhaltensentwicklung bei Primaten.

KIM A. BARD: Die Entwicklung von Schimpansen, die von Menschen aufgezogen wurden - Fähigkeiten der Mütter; Bindung und Bewältigungsverhalten.

MECHTHILD PAPOUŠEK: Bindungssicherheit und Intersubjektivität - Gedanken zur Vielfalt vorsprachlicher Kommunikations- und Beziehungserfahrungen

MICHAEL RUTTER: Die psychischen Auswirkungen früher Heimerziehung.

DANA E. JOHNSON: Internationales Adoptionsprojekt-Team (IAP) - Zusammenhänge zwischen dem Wachstum von psychisch belasteten Kindern und kognitiver sowie emotionaler Entwicklung

JARÓSLAV ŠTURMA: Deprivationsstudien in der ehemaligen Tschechoslowakei und ihre Folgen für die Familienpolitik

ZDENĔK MATĔJČEK: Ehemalige Heimkinder in Adoption und Familienpflege - Erfahrungen aus der Tschechischen Republik.

MIRI KEREN: Wie soll man ein Kleinkind diagnostizieren, das in einem Waisenhaus gelebt hat?

ANGlE HART: Die alltäglichen kleinen Wunder - Bindungsorientierte Therapie zur Förderung der psychischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Pflege- und Adoptivkindern

KARL HEINZ BRISCH: Adoption aus der Perspektive der Bindungstheorie und Therapie

LUDWIG SALGO: Das Wohl des Kindes unter den Aspekten gesetzlicher Einflüsse

 

Vor die Wahl gestellt, einige wenige Beiträge gründlich oder alle jeweils kurz zu präsentieren, habe ich mich für die zweite Variante entschlossen.

1.
»Der Beitrag von Theodor Hellbrügge gibt einen historischen Überblick über die Anfänge der Deprivationsforschung und eine Einführung in die vielfältigen Symptome des Hospitalismus. Dabei würdigt er sowohl die Pionierarbeiten von Rene Spitz als auch die des Pädiaters Meinhard von Pfaundler. Er berichtet über Ergebnisse von eigenen Untersuchungen zum Deprivationssyndrom sowie von Längsschnittstudien zur kindlichen Entwicklung und zeichnet den Entstehungsweg der Entwicklungs-Rehabilitation nach, wie sie heute in der Sozialpädiatrie verankert ist.« (S. 10)

Kultur- und fachhistorisch besonders interessant sind seine Untersuchungen an den 'Lebensborn'-Kindern des Dritten Reiches:
»Vor mehr als einem halben Jahrhundert - im Frühjahr 1947- wurden mir in der Mütterberatung in München-Thalkirchen mehrere Kinder vorgestellt, die schon vom Anblick her auffällig waren. Sie waren ihrem Alter entsprechend groß, hatten blonde Haare, blaue Augen und waren bei der ärztlichen Untersuchung völlig gesund. Sie hatten ein normales Gewicht, einen normalen Kopfumfang, normalen Blutdruck und Puls und keine Anämie. Trotzdem stellten sie sich in einem erbärmlichen Entwicklungszustand dar, wie ich ihn bis dahin noch nicht erlebt hatte. Sie konnten mit zwei Jahren noch nicht sprechen, hatten keinen Blickkontakt und schrieen vor Angst, wenn man sich ihnen näherte. Vor allem fiel ihr leerer Gesichtsausdruck auf, der einen eher traurigen, völlig teilnahmslosen Eindruck machte. Sie nahmen untereinander keinen Kontakt auf, so daß jedes Kind isoliert war. Wenn sie dennoch Kontakt aufnahmen, geschah dies in Form von Aggressionen.« (S. 13)

Diese Kinder zwangen ihn u.a., die klassische pädiatrische Diagnostik durch eine Verhaltensdiagnostik und Interaktionsdiagnostik zu ergänzen, die inzwischen Standard geworden ist. Im Zuge seiner diagnostischen Bemühungen entwickelte sich auch eine ausgeprägte Begriffssensibilität. Ein kleines, aber für das Pflegekinderwesen wichtiges Beispiel:
»'Sonderpädagogik' steht für ein Absondern, 'Heilpädagogik' steht dafür, daß das Kind auch mit seinen Schwächen Anerkennung findet und als solches angenommen wird.«
(S. 26)

2.
»Stephen Suomi zeigt anhand seiner Studien, wie sich bei Rhesusaffen das Verhaltensrepertoire aus einem Wechselspiel zwischen Umwelt und Genetik entwickelt.« (S. 10)

Einerseits belegen seine Befunde den verhaltenssteuernden Einfluß der Gene, andererseits aber auch die kompensatorische Macht positiver Mutter-Kind-Bindungen:
»Dieser Beitrag beschrieb Forschungsansätze mit dem Schwerpunkt auf einer Untergruppe von Rhesusaffen, die spontan übermäßige und sozial unangemessene aggressive Verhaltensstörungen sowie andere Muster impulsiven Verhaltens zeigten. Darüber hinaus war bei ihnen während der gesamten Ontogenese ein chronisches Defizit im Serotoninstoffwechsel feststellbar. Sowohl genetische als auch Umweltfaktoren können die Entwicklung dieser das Verhalten betreffenden und biologischen Neigungen deutlich beeinflussen, sie können in der Tat bei dieser Entwicklung auch interagieren.
In einem Beispiel ging es um Interaktionen zwischen verschiedenen Polymorphien des 5-HTT-Gens und frühen Erfahrungen während des Aufwachsens. Rhesusaffen mit dem kurzen Allel zeigten bedeutende Defizite in den frühen neurobiologischen Funktionen und im Serotoninstoffwechsel, extreme Aggressivität und eine gesteigerte hormonelle Streßreaktion im Hypothalamus-Hypophysen-System (HPA-Achse). Weiterhin konsumierten Affen mit dem kurzen Allel in übermäßiger Weise Alkohol, jedoch nur solche, die unter Gleichaltrigen aufgewachsen waren. Affen mit dem kurzen Allel, die von kompetenten Müttern aufgezogen wurden, zeigten solche Defizite in ihrem Verhalten oder biologische Defizite nicht.« (S. 40)

3.
»Kim Bard hat ein Interventionsprogramm verwirklicht, das Schimpansenmüttern, die von Menschen aufgezogen werden, hilft, intuitive Fähigkeiten zur Pflege ihres Nachwuchses und zum Aufbau von Bindungsverhalten wieder zu erlernen.« (S. 10)

Ihre 'Schlußfolgerungen' enden mit folgender Feststellung:
»Die emotionale Entwicklung eines Kindes wird durch die Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Kultur und den Umweltbedingungen sowie durch Erfahrungen während der frühen Sozialisation beeinflußt. So entwickeln sich die Fähigkeiten des Säuglings, wie etwa seine Erregungsmuster sowie seine Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und besonders die Qualität seiner Bindung, aus der Interaktion zwischen den Eigenschaften oder Charakteristika des Kindes und elterlichem intuitiven Fürsorgeverhalten innerhalb eines jeweiligen kulturellen Milieus.« (S. 56)

4.
»Auf der Grundlage der Berichte zur Primatenforschung stellt Mechthild Papoušek umfassend dar, wie sich aus den elterlichen intuitiven Verhaltensbereitschaften die Fähigkeit des Säuglings zur Intersubjektivität entwickelt und welche Konsequenzen sich hieraus für den Aufbau von psychischen Strukturen des Säuglings ergeben.« (S. 10)

Aus ihren Erfahrungen in der 'Sprechstunde für Schreibabys' im Münchener Kinderzentrum berichtet sie über destruktive Wechselwirkungen der vorsprachlichen Kommunikation, die sich ohne therapeutische Intervention gefährlich aufschaukeln können:
»Das Schreien des Säuglings kann unwillkürlich zu einem Erinnerungskontext werden, der - beispielsweise nach unbewältigten Beziehungsabbrüchen (in der Kindheit oder in zeitlichem Zusammenhang mit der Schwangerschaft) - Gefühle von Verlassenheit, Enttäuschung und ungelöster Trauer wiederbelebt (M. Papousek & Wollwerth de Chuquisengo, 2003). Solche evozierten Gefühle können so überwältigend sein, daß sie den Blick für die Signale des Babys verstellen; nicht selten verschmilzt dann das reale Baby in der Wahrnehmung mit dem übermächtigen Erinnerungsbild von sich selbst als dem kleinen verlassenen oder abgewiesenen Kind; die aufgewühlten eigenen Gefühle werden unbewußt und unreflektiert über den Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation dem Baby zugeschrieben (Barth, 2004). Für das Baby bedeutet dies, daß es nicht nur keine affektspiegelnde Tröstung und Regulationshilfe erfährt, sondern daß sich sein eigener Affekt auf unabgegrenzte Weise mit der Übermacht der negativen mütterlichen Affekte verbindet. In ähnlicher Weise kann das Schreien des Babys auf seiten der Elternperson Gefühle von ohnmächtiger Wut und hilflosem Ausgeliefertsein gegenüber dem bedrohlichen Schreien ihres außer sich geratenen, jähzornigen Vaters auslösen (Möhler & Resch, 2000); die Elternperson fühlt sich dem Schreien des Babys ausgeliefert ("Das Babymacht mich fertig") und schreibt dem Baby bedrohlichen Jähzorn und "böse" Absichten zu. .....
     Therapeuten haben in dieser Arbeit unersetzliche Verbündete: die angeborenen Motivationen und Fähigkeiten des Säuglings zu Selbstwirksamkeit und Kontaktbereitschaft und die intuitiven elterlichen Verhaltensbereitschaften.« (S. 82/83)

Eltern, die wegen eigener traumatischer Vorgeschichten keine solchen intuitiven Bereitschaften mitbringen, scheinen ihr nicht begegnet zu sein.

5.
»In einem zentralen Beitrag stellt Sir Michael Rutter die Ergebnisse aus seiner Längsschnittstudie dar, in der Kinder aus den rumänischen Waisenhäusern nach ihrer Adoption in englische Familien immer wieder nachuntersucht wurden. Die hieraus gewonnenen Daten über die körperliche, kognitive und psychische Entwicklung dieser Kinder ermöglichen es ihm, den Zusammenhang zwischen Zeitpunkt und Dauer der Deprivation und ihren schädlichen Einflüssen auf die kindliche Entwicklung zu diskutieren. Auf dieser Basis erörtert er einige Fragen über die möglichen Wirkungen von frühen Deprivationserfahrungen und leitet Hypothesen über mögliche kausale Zusammenhänge zwischen Deprivation, Hirnreifung und psychopathologischen Auffälligkeiten der Kinder ab.« (S. 10/11)

In seiner Zusammenfassung gelangt er zu folgenden Schlußfolgerungen:
»Es hat sich gezeigt, daß es größere Auswirkungen auf die psychische Entwicklung von Kindern hat, wenn sie im Heim großgezogen werden. Wenn sie später in einer guten familiären Umgebung heranwachsen, so trägt dies viel dazu bei, die negativen Effekte zu mindern, es bleiben aber bei einer beträchtlichen Zahl von Kindern - wenn auch einer Minderheit - erhebliche Defizite zurück. Es ist jedoch klar, daß dann mehrere, ziemlich unterschiedliche Prozesse, die ein Risiko in sich bergen, involviert sein müssen. Die Erziehung im Heim führt nur dann zu kognitiven Entwicklungsdefiziten, wenn sie auch mit einer globalen Deprivation in den Lernerfahrungen verbunden ist und die negativen Folgeerscheinungen noch durch Unterernährung verstärkt werden. Unter diesen Umständen ist die kognitive Einschränkung mit einem verminderten Wachstum des Kopfes verbunden - wobei auch das Hirnwachstum begrenzt ist. Aufgrund der verschiedenen Forschungsergebnisse kann man - als ihren gemeinsamer Nenner - annehmen, daß eine normale kognitive Entwicklung sowie ein normales Gehirnwachstum einen angemessenen, auf Erfahrungen beruhenden 'Input' für die biologische Programmierung der neuronalen Strukturen erfordern, die beidem, kognitiver Entwicklung wie Hirnwachstum, zugrunde liegen.
Im Gegensatz dazu scheint die begrenzte Anzahl der dennoch relevanten Studien den Schluß nahezulegen, daß ein undifferenziertes Bindungsverhalten häufig bei Heimerziehung vorkommt, auch wenn es keine tiefgreifenden Deprivationserfahrungen gibt. Es wird angenommen, daß der Wechsel vieler Fürsorgepersonen, wie er in der Heimbetreuung oft die Regel ist, die normale Entwicklung selektiver Bindungen behindert und daß dieser Effekt durch ein späteres Heranwachsen in einer guten familiären Umgebung nicht vollkommen beseitigt wird. .....
     Die Belege sind für eindeutige Schlußfolgerungen zu spärlich, es scheint jedoch möglich zu sein, daß spätere Erfahrungen die Effekte einer frühen biologischen Programmierung durch Deprivation wenigstens mindern können. Natürlich sind auch kompensatorische psychische Strategien möglich, darüber weiß man aber noch weniger.«

Hier könnten Erfahrungen und Forschungen aus heilpädagogischen Pflegefamilien weiterhelfen.

6.
»Rutters Beitrag wird ergänzt durch die Forschungsergebnisse von Dana Johnson über die schädigenden Auswirkungen von Deprivationserfahrungen auf das Körperwachstum und die möglichen positiven Veränderungen in der körperlichen Entwicklung von Adoptivkindern durch neue, emotional tragende Erfahrungen mit Adoptiveltern.« (S. 11)

In der Diskussion der Befunde resümiert der Autor:
»Bei Kindern mit einer Deprivationsdauer von 18 Monaten und weniger vor der Adoptionsvermittlung hatten 78% innerhalb von neun Monaten nach der Aufnahme in die Adoptionsfamilie in bezug auf die Körpergröße einen Wert im normalen Bereich erzielt. Die Wachstumsgeschwindigkeit von Kindern mit einer Deprivationsdauer von mehr als 18 Monaten bei Adoptionsbeginn war praktisch identisch mit derjenigen von jüngeren Kindern....
     Obwohl diese Ergebnisse ermutigend sind, ist bei Kindern, die langfristig in Heimen untergebracht werden, die Wahrscheinlichkeit für das Erreichen ihrer genetisch möglichen Endgröße verringert. Der Grund dafür liegt in einer Kombination von pränataler Wachstumsstörung und psychosozialer Wachstumsverzögerung sowie einem erhöhten Vorkommen einer vorzeitigen Geschlechtsentwicklung (Pubertas praecox) (Mul, 2000; Tuvemo & Proos, 1993). Gohlke und Mitarbeiter (1998) berichteten über 18 Kinder mit psychosozialem Minderwuchs, die fast ihre endgültige Größe erreicht hatten. Nach der Diagnosestellung wechselten alle Kinder in ein besseres psychosoziales Umfeld, worauf eine signifikante Zunahme der Wachstumsgeschwindigkeit beobachtet werden konnte. Die Mehrheit der Kinder (78%) erreichte fast die berechnete individuelle Endgröße. Die durchschnittliche Endgröße der Kinder war aber dennoch bedeutend niedriger als die berechnete Zielgröße.
     Abschließend ist zu sagen, daß es keine bessere Zusammenfassung für die Interaktion zwischen Umwelt und Wachstum gibt als ein Satz aus den Sprüchen Salomos: "Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Haß" (Spr 15,17)« (S. 155/156)

7. u. 8.
»In der ehemaligen Tschechoslowakei wurde eine große Zahl von Säuglingen zur Pflege in Kinderheimen abgegeben, wo sie unter deprivatorischen Bedingungen aufwuchsen. Durch die Längsschnittstudien von Zdeněk Matějček und Jaróslav Šturma konnten wichtige Hinweise auf solche Faktoren gewonnen werden, die es den Kindern trotz der schwierigen und traumatischen Startbedingungen ermöglichten, eine psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufzubauen, und die manche von ihnen vor einer psychisch auffälligen Entwicklung schützen.« (S. 11)

Jaróslav Šturma schildert die kollektivierte Kindererziehung in der Tschechoslowakei vor der politischen Wende:
»Die Eltern  wurden veranlaßt, ihre Kinder in die Pflege staatlicher Kindereinrichtungen mit Ganztagsbetreuung - anfangs auch mit Wochen- oder sogar Dauerbetreuung - zu geben. Es wurde argumentiert, Eltern wären in der Erziehung und in der Fürsorge für ihre Kinder Laien und besäßen keine hinreichende Kompetenz, während in einer Kinderkrippe fachlich geschultes Personal für die Kinder sorgen würde. Sogar gegen das Stillen - eine unersetzliche Funktion der Mutter - fand man Argumente, und für eine künstliche Flaschenernährung der Kinder.
     Mit den Folgen dieser "Experimente" setzen wir uns bis heute auseinander. Inzwischen sind die Kinder, die auf diese Weise erzogen wurden, nämlich selbst Eltern oder Großeltern, und prägen mit ihren in der Erziehung erworbenen Haltungen die jetzige Generation. Es geht um die transgenerationale Weitergabe negativer Erfahrungen. 
     In dieser Situation nahmen Josef Langmeier (geb. 1920) und Zdenek Matějček (geb. 1922) ihre Tätigkeit im psychologischen Dienst der Kinderpsychiatrie und der Sozialpädiatrie auf. Zu ihren Aufgaben gehörte es
, die Entwicklung der in den Säuglingsanstalten und Kinderheimen untergebrachten Kinder zu beobachten und zu beurteilen.« (S. 162/163)

Sie fanden die typischen psychosozialen Entwicklungsrückstände, aber auch, daß es kein einheitliches Deprivationssyndrom, sondern fünf verschiedene Typen gibt:

  1. der relativ gut angepaßte Typ,
  2. der hypoaktive, gehemmte, regressive Typ,
  3. der Typ der sozialen Hyperaktivität,
  4. der Typ der Provokation,
  5. der Typ der Ersatzbefriedigung emotionaler Bedürfnisse.

Auch diese sind in sich keine gut abgegrenzten typologischen Kategorien, sondern Idealtypen im Sinne Max Webers, denen die Kinder und Jugendlichen nur mehr oder weniger zugeordnet werden können.
     »Da die psychische Deprivation kein einheitliches Bild bietet, kann man auch kein einheitliches Ergebnis der Hilfs- oder Stützmaßnahmen erwarten. In der Lebensumgebung  -vom Kinderheim bis zur Adoption und der individuellen Familienpflege - existiert immer ein gewisses (kleineres oder größeres und qualitativ unterschiedliches) latentes Angebot zur Hilfe, die sowohl das Kind als auch später der Erwachsene durch sein eigenes 'entgegenkommendes' Verhalten aktivieren kann. Dieses Angebot kann allerdings gelenkt und zielbewußt und dadurch viel effektiver ausfallen, wenn wir die psychische Deprivation verstehen und wenn wir über ihre Verarbeitung durch das Kind und anschließend durch den Erwachsenen Bescheid wissen. Das heißt, dieses Angebot muß so ausfallen, daß es von einem Kind (gegebenenfalls später vom Erwachsenen) angenommen werden kann und keinen Widerstand oder eine Abwehrhaltung hervorruft.
     Die Schlußfolgerung kann, meiner Meinung nach, optimistisch ausfallen. Das, was bisher von seiten eines Amtes mehr oder weniger spontan geschieht - d. h. daß ein depriviertes Kind einfach in die Adoption oder in die Pflegefamilie übergeben wird -, kann bewußter, aufgeklärter, gezielter und verantwortungsbewußter getan werden. Übrigens geschieht es häufig ja auch in dieser Weise - siehe unsere resilienten Absolventen der Familienpflege. Dies ist allerdings nicht das Resultat professioneller Kurse, Diplome oder akademischer Bildung der zukünftigen Eltern oder Plegeeltern - es ist eine Angelegenheit der Angemessenheit der Persönlichkeit des Kindes und seiner neuen Erzieher und ihres gegenseitigen aktiven 'Entgegenkommens'.« (S. 182)

9.
»Welche differentialdiagnostischen Schwierigkeiten entstehen, wenn man ein Kind mit den Symptomen einer schwerwiegenden Deprivationserfahrung diagnostizieren soll, verdeutlicht der Beitrag von Miri Keren. Anhand eines kasuistischen Beispiels schildert sie sehr anschaulich die nur langsam positiven psychischen Veränderungen eines deprivierten Heimkindes in der Zeit nach seiner Adoption. Die Therapie beruhte auf einem multidimensionalen Behandlungsansatz.« (S. 11)

Wie die anderen Autoren betont Miri Kern die Notwendigkeit einer individualisierenden Betrachtungsweise und die Bereitschaft, ohne eindeutige Diagnosen auszukommen.
»Die psychiatrische Diagnosestellung bei Säuglingen bzw. Kleinkindern, die nach einem Aufenthalt im Waisenhaus adoptiert werden, ist oftmals eine schwierige Aufgabe, weil die Einwirkung sehr früher und schwerwiegender Schädigungen auf die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung des Säuglings so tiefgreifend ist, daß bestimmte unterschiedliche diagnostische Kategorien nicht das ganze klinische Bild erfassen. Wenn man sich das vor Augen hält, sollte die therapeutische Begleitung für Säugling und Eltern so früh wie möglich nach der Adoption einsetzen, sie sollte auch viele verschiedene therapeutische Disziplinen umfassen und über einen langen Zeitraum begleitend für das Adoptivkind und seine Adoptiveltern geplant und durchgeführt werden, damit sich das Kind langfristig in seinen sozialen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten entwickeln kann.« (S. 189)

10.
»Therapeutische Hilfestellungen für Pflege- und Adoptivkinder sowie ihre Eltern werden von vielen Seiten immer wieder für notwendig gehalten. .... Mit diesen Fragen und den Möglichkeiten sowie Grenzen der psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfe beschäftigt sich der Beitrag von Angie Hart. Hier kommt besonders zur Geltung, daß Angie Hart selbst sowohl Adoptivrnutter als auch Therapeutin ist. Sie schildert anhand von mehreren eindrucksvollen Fallbeispielen kreative Zugänge zu psychisch sehr belasteten Adoptivkindern.« (S. 11)

Im letzten Abschnitt ihres Referats kehrt sie trotz aller vorher geäußerten theoretischen Bedenken zum Resilienzkonzept zurück:
»Ich empfehle, daß sich Therapeuten in ihrer Arbeit besonders auf Resilienz fördernde Interventionen konzentrieren, weil sie auf diese Weise ihren Klienten Möglichkeiten zu einer besseren psychischen Funktionsfähigkeit eröffnen können. Indem ich eine 'Autoethnographie' schrieb, zeigte ich den Weg auf, wie ich 'Bindungszaubersprüche' anwende, um durch alltägliche kleine Wunder die Resilienz der Kinder zu fördern. Hinter jedem Zauberspruch stehen häufig sehr komplizierte Rezepturen, aber der erfolgreiche Aufbau der psychischen Widerstandsfähigkeit des jeweiligen Kindes steht ganz im Mittelpunkt. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, hoffnungsvolle Bindungserfahrungen zu fördern, für eine Kontinuität stützender Beziehungen zu sorgen. ...« (S. 216)

Von jenen Wundern und den in der Einleitung angekündigten Zaubereien erfährt der Leser leider wenig, aber der Appell, im Alltag jede Chance zu nutzen, 'hoffnungsvolle Bindungen' zu ermöglichen, ist überzeugend. Das Bekenntnis, daß ihr das bei den eigenen Adoptivkindern besser gelungen sei, ermutigt Projekte, in denen die Adoptiv- bzw. Pflegeeltern selbst als Therapeuten gelten, die allerdings sehr der unterstützenden Supervision bedürfen.

11.
»Nach einer kurzen Einführung zur Entstehung von Bindungssicherheit und der Bedeutung von traumatischen Erfahrungen für die Entwicklung von Bindungsstörungen diskutiert Karl Heinz Brisch in seinem Beitrag, wie eine bindungsdynamische Sichtweise im Pflege- und Adoptionswesen auf Fragen wie Besuchskontakt, begleiteter Umgang, Rückführung und Psychotherapie angewandt werden kann. Dabei ist es ihm ein Anliegen, sowohl die Risiken als auch die Chancen der Betreuung eines bindungsgestörten Kindes durch Pflege- oder Adoptiveltern zu diskutieren und dies anhand eines Fallbeispiels zu erläutern.«
(S. 12)

Wie immer ist Brischs Darstellung der bindungstheoretischen Erkenntnisse brillant (s.a. Bindungsstörungen; Brisch/Grossmann..; Brisch/Hellbrügge; Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen...), und der Leser ist gut beraten, damit die Lektüre des Buches zu beginnen. Besonders wertvoll ist auch der komprimierte Bericht über die Ergebnisse der einschlägigen neuropsychologischen Forschung:
»Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre öffnen die Tür zu einem Denken, welches das Erleben eines seelischen Traumas mit der Entwicklung von Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns verknüpft. Teicher (2000) kam in seinen Studien an der Harvard Medical School zu neuen Forschungsergebnissen: Opfer von Mißbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit wiesen im Erwachsenenalter im Vergleich mit nicht mißbrauchten Kontrollprobanden strukturelle Veränderungen mit Volumenverminderungen im Hippocampus, dem Corpus Callosum und der Amygdala auf.
    
Perry et al. (1995; 2001) stellten bei der Schilderung ihrer Untersuchungen dar, wie sich das Gehirn in Abhängigkeit davon entwickelt, welche Regionen angeregt werden: Das wachsende Gehirn besonders des Säuglings organisiert und internalisiert neue Informationen derart, daß neue Informationen bestimmte Strukturen des Gehirns stimulieren und diese dadurch eine stärkere Vernetzung und Verschaltung erlangen, weil sie durch Reize von außen angeregt werden zu funktionieren. Wenn aber ein Kind - etwa bei einer traumatischen Erfahrung - einer sehr streßvollen Situation ausgesetzt ist und dabei mit Informationen überfordert wird, die es wegen der Übererregung nicht verarbeiten kann, kann es um so eher zur Bildung von neuropsychiatrischen Symptomen kommen, wie wir sie bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, PTSD) kennen. Der momentane Zustand der neuronalen Aktivierung und der humoralen Streßreaktion kann als Anpassung an die überfordernden traumatischen Situationen persistieren und zu einer Fehlanpassung führen. Als Folge kann das Individuum auf spezifische Erfordernisse der sozialen Umwelt nicht adäquat reagieren. Im sich entwickelnden Gehirn hängen die noch undifferenzierten neuronalen Systeme von Schlüsselreizen der Umwelt und der Mikroumwelt ab (etwa von Neurotransmittern und Neurohormonen, zu denen auch das Cortisol und das neuronale Wachstumshormon zählen), um sich von ihren undifferenzierten, unreifen Formen zu ihren vorgesehenen Funktionen entwickeln zu können. Das Fehlen dieser kritischen Schlüsselreize oder eine Störung innerhalb dieser sensiblen Phasen kann zu anormalen neuronalen Teilungen und Synapsenentwicklungen führen. Nach Perry et al. (1995) ist die Wirkung früher kindlicher Interaktionserfahrungen in einem Entwicklungsmodell dadurch zu erklären, daß die Ausformung neuronaler und organischer Hirnstrukturen jeweils von ihrer Stimulation und somit von ihrem Gebrauch abhängig ist (vgl. auch Hüther, 1996, 1998, 1999; Liu et al., 1997; Meaney et al., 1988, 1990; Spitzer, 2000). (s.a. Die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen...)
     Ein ähnlicher Einfluß - insbesondere auf die Reifung der orbitofrontalen Hirnregion, die für die Steuerung, Integration und Modulation von Affekten zuständig ist - kann auch für andere traumatische Erfahrungen im Kindesalter während der Reifungszeit des kindlichen Gehirns angenommen werden (Schore, 1996, 1997, 2001). (s.a.
The Effects of Early Relational Trauma...) Erfahrungen von Mißhandlung bzw. Trauma in der frühen Kindheit verändern auch sehr stark die Entwicklung der rechten nonverbalen Gehirnhälfte, die für verschiedene Aspekte von Bindung und Affektregulation verantwortlich ist (Schore, 2001).« (S. 234/235)

In seinem 'Ausblick' zieht Brisch die für Pflege- und Adoptivkinder wichtigsten Konsequenzen aus den empirischen Resultaten der Bindungsforschung:
»Die Bindungstheorie ist sehr gut geeignet, um den Aufbau von gesunden Bindungsbeziehungen zu erklären und zu beschreiben. Gleichzeitig kann aber auch die Entwicklung von Bindungsstörungen diagnostiziert und als Folge von traumatischen Erfahrungen in Bindungsbeziehungen, wie etwa mit leiblichen Eltern, erklärt werden. Die Traumatisierung eines Kindes durch Bindungspersonen bedeutet immer eine Gefahrdung des Kindeswohls, so daß die Herausnahme eines Kindes aus einem solchen Lebenskontext und seine Versorgung durch Pflege- und Adoptiveltern immer eine Maßnahme zum Schutz des Kindes darstellt, die ihm, entsprechend der Bindungstheorie, in der Regel neue äußere sowie emotionale Sicherheit gibt. Es wäre wünschenswert, daß es für alle Beteiligten - einschließlich der Familienrichter und -richterinnen - zur verbindlichen theoretischen Richtschnur würde, alle Maßnahmen im Kontext von Inobhutnahme, Pflege und Adoption sowie Besuchskontakte, Rückführung und Psychotherapie des Kindes eindeutig unter bindungsdynamischen Gesichtspunkten zu sehen und durchzuführen; eine solche Richtschnur könnte, auf dem Boden fundierter entwicklungspsychologischer Forschung, für alle Maßnahmen und Entscheidungen zum Wohle des Kindes eine eindeutige Orientierung sein. In diesem Beitrag wurde das Entwicklungsrecht des Kindes auf eine sichere emotionale Bindung und damit auf eine gesunde körperliche und emotionale Entwicklung dann höher bewertet als das Recht der leiblichen Eltern auf Kontakt mit ihrem Kind, wenn die Wahrnehmung dieses Elternrechts der Entwicklung des Kindes schadet. Kinder als die eindeutig Schwächsten haben ein primäres und übergeordnetes Recht auf Schutz sowie auf einen 'sicheren emotionalen Hafen' durch Bindungspersonen, damit sie sich gesund entwickeln können. (S. 251/252)

12.
»Da richterliche Entscheidungen und sich verändernde Rechtsauffassungen das Kindeswohl erheblich bestimmen können, befaßt sich der abschließende Beitrag des Juristen Ludwig Salgo mit den gesetzlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Pflege- und Adoptivkindern sowie von Kindern, die in den Rechtsstreit der Eltern involviert sind. An einzelnen Gerichtsurteilen diskutiert er exemplarisch, wie Entscheidungen gegen das Kindeswohl getroffen wurden und welche Auswirkungen diese für die psychische Situation des einzelnen Kindes haben können. Dabei nimmt er eine sehr bindungsorientierte Position ein, die dem Wohl des Kindes eine übergeordnete Rolle im Rechtsstreit zuschreibt.« (S. 12)

Salgo (s.a. Gesetzliche Regelungen des Umgangs...; Häusliche Gewalt und Umgang) referiert und analysiert zwei familienrechtliche Entscheidungen, die dokumentieren, wie weit auch höchste Gerichte von empirisch gut belegter Wissenschaft entfernt sind. Glücklicherweise ist er selbst ein beruhigendes Beispiel dafür, daß die Rechtswissenschaft sehr wohl bereit und in der Lage ist, psychologische und neurologische Forschungsergebnisse angemessen zu rezipieren. Sein Fazit:
»Die beiden beschriebenen wie zahlreiche andere Fälle stehen für unerfreuliche Entwicklungstendenzen, die nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Die Erkenntnisse von Psychoanalytikern und Bindungsforschern wie Rene A. Spitz und John Bowlby haben Eingang in der Sozialpolitik vieler Staaten gefunden, und ihre Wirkung ist nach wie vor anhaltend. Vor der Bindungsforschung steht dennoch weiterhin die gewaltige Aufgabe, ihre Ergebnisse aus der Grundlagenforschung auch für die Handlungsebenen von Behörden und Gerichten nachhaltig zugänglich und operationalisierbar zu machen. Es drängt sich, bei aller Zuversicht, immer wieder der Eindruck auf, daß die Erkenntnisse der Bindungsforschung bei den Akteuren zu wenig bekannt oder in Vergessenheit geraten sind. Manchmal entstand in den letzten Jahren sogar zunehmend der Eindruck, daß die langfristigen Folgen traumatischer Erfahrungen in der Kindheit in der behördlichen und gerichtlichen Praxis, aber auch bei Pflege- und Adoptiveltern zu wenig bekannt oder unterschätzt werden.
     Auch hier wüßte ich nur zu gern, welche Bedeutung die Verbreitung einer 'systemischen Sichtweise' für diese Entwicklungstendenz hat. Die Bindungsforschung müßte ihr Verhältnis zur Systemtheorie deutlich machen, um den zahllosen Fehldeutungen in der Praxis zu begegnen. Zusätzlich wird es in nächster Zeit auch darum gehen, neuere Erkenntnisse aus der Trauma-, Gehirn-, Streß- und Bindungsforschung einer breiteren Fachöffentlichkeit bekanntzumachen (Stiftung zum Wohl des Pflegekindes, 2005). Erst in jüngster Zeit ist es, auch mit Hilfe bildgebender Verfahren, möglich geworden, psycho-biologische Auswirkungen von Angst und Streß auf die Gehirnentwicklung von Kindern nachzuweisen.
Möglicherweise ist eine solche Aussage noch zu gewagt, aber diese Entwicklung könnte manche komplexe, kostspielige und langwierige Verfahren zur Feststellung von Deprivationserfahrungen bei Kleinkindern verkürzen, zumindest aber absichern. In der Welt der Juristen, mit einer trotz allem noch immer skeptischen Einstellung gegenüber Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, könnten solche bildgebenden Verfahren Nachweise untermauern.« (S. 273/274)

Dem sehr berechtigten Appell Salgos an die Bindungstheoretiker, sich mit der Systemtheorie kritisch auseinanderzusetzen, soll hier wenigstens polemisch entsprochen werden: Wer eine sehr ernst zu nehmende Meta-Theorie wie die Systemtheorie als Tatsachenwissenschaft mißbraucht, hat jene offensichtlich nicht verstanden - aber das soll eine gründliche Diskussion des potentiell sehr fruchtbaren Verhältnisses von Systemtheorie und Bindungstheorie keinesfalls ersetzen.

Bilanzierende Bewertung:
Das von Brisch und Hellbrügge vorgelegte Werk erwirbt sich mehrere große Verdienste:
es ist im besten Sinne international, weil es sich nicht auf amerikanische Importe beschränkt; es ist von erheblicher wissenschaftshistorischer Bedeutung, weil es die erste Generation europäischer Deprivationsforscher und deren Schüler zu Wort kommen läßt; es ist interdisziplinär angelegt, weil die Autoren aus unterschiedlichen Fachrichtungen kommen; es ist praxisorientiert, weil die meisten Autoren aus der Praxis stammen und weil es in klarer, sehr lesbarer Sprache geschrieben ist. Für unsere nachwachsenden und vielfältig bedrohten Kinder wollen wir hoffen, daß dieses Buch von möglichst vielen beruflich und politisch Verantwortlichen gelesen und beachtet wird!

Kurt Eberhard  (Febr. 2006)

 

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