FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

T. Berry Brazelton, Stanley I. Greenspan

Die sieben Grundbedürfnisse
von Kindern

Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein

Beltz, 2002, ISBN 3-407-85792-6 (19,90 Euro)

Thomas Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan, Forscher und Praktiker auf dem Gebiet der Kinderheilkunde und Kinderpsychiatrie, benennen und beschreiben in diesem Band die elementaren Bedürfnisse des Kindes. Ausgehend von der gut belegten Ansicht, dass die frühe Kindheit die kritischste und für Störungen anfälligste Phase im Leben des Menschen ist, bearbeiten sie gemeinsam die Frage, welche spezifischen Erfahrungen für eine gesunde Entwicklung unentbehrlich sind.

Selbst ein so reiches Land wie die USA unterstütze Familien nicht im erforderlichen Ausmaß und hinke anderen Kulturen hinterher. Die Mißachtung der Grundbedürfnisse habe verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder.

Die Gliederung ist übersichtlich und regt zur Lektüre an:

  • Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen
  • Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
  • Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
  • Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
  • Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen
  • Das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und nach kultureller Kontinuität
  • Die Zukunft sichern

Alle Kapitel sind so aufbereitet, dass sich einer kurzen sachkundigen Einführung eine umfangreiche dialogische Diskussion der Autoren anschließt, gefolgt von überzeugenden Empfehlungen.

Besonders interessant für alle, die mit vernachlässigten und misshandelten Kindern arbeiten, ist das erste Kapitel:
„Wenn Kinder im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren zu sprechen gelernt haben, sollten sie bereits auch die Fähigkeit besitzen, sich an ausführlichen Interaktionssequenzen (reziproken Interaktion) zu beteiligen, in denen ihre unterschiedlichen Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen Ausdruck finden. Solche Interaktionen bauen auf den früheren, im Alter von zwei bis vier Monaten entwickelten Mustern auf. Kinder, die diese Fähigkeit nicht erworben haben, empfinden kleine Frustrationen als Katastrophe oder reagieren grundsätzlich extrem; sie brechen leicht in Tränen aus, steigern sich in Wutanfälle hinein oder sind ihrer Erregung und Freude, ihrem Zorn oder ihrer Traurigkeit oder sogar depressiven Stimmung ausgeliefert. Solche Reaktionen stehen zu der augenblicklichen Situation in keinerlei Verhältnis. Sie zeigen aber, dass ein Teil der Gefühle, Stimmungen und Verhaltensweisen des Kindes keine Chance hatte, durch reziproke Interaktionen reguliert zu werden.“ (S. 40f.)

Im Diskussionsteil finden sich dann folgende Dialoge:
„SIG: Wir können heute behaupten, dass die Entwicklung von Geist und Gehirn und die Entwicklung der Denkfähigkeit durch diesen frühen wechselseitigen Austausch emotionaler Signale angeregt wird, und nicht etwa durch irgendeine kognitive Stimulierung, z.B. mit Leselernkarten....
TBB: ...Ein gestresster Fetus würde vermutlich automatischer reagieren, seine Reaktionen wären weniger moduliert und zielgerichtet…Bei überwältigenden Stressfaktoren, z.B. Unterernährung oder Beeinträchtigung durch Gifte wie Alkohol oder Drogen, müsste man den Schluss ziehen, dass vermutlich auch diese Lernprozesse beeinträchtigt werden.
SIG: ...Das wichtigste daran ist, dass sich diese Austauschvorgänge in den ersten Lebensmonaten abspielen, also lange bevor sich das Baby mit etwa acht, neun Monaten selbständig fortzubewegen lernt.... Das Affektsystem entwickelt sich früher als die motorische Kontrolle....“ (S. 43ff.)

„SIG: Am schlimmsten ist es für ein Baby, in seinem Leben niemanden zu haben, von dem es geliebt wird und auf dessen Liebe es sich verlassen kann. Wenn eine solche Person fehlt, weil der Säugling z.B. in einem Heim untergebracht ist oder weil seine Betreuungsperson ambivalent oder unzuverlässig ist, dann wird das Bedürfnis, das wir hier definieren, nicht befriedigt. Am schlimmsten ist die Situation, in der das Baby überhaupt keine oder eine unsichere Beziehung hat. Kinder klammern sich eher an ein Elternteil, der sie misshandelt, als sich einer unbekannten Situation auszuliefern....
TBB: In unseren Touchpoints-Kursen weise ich grundsätzlich darauf hin, dass negative Aggression zwangsläufig sowohl im Baby als auch in der Mutter auftauchen wird...
SIG: Es ist notwendig, zwischen diesen negativen Gefühlen und traumatischen Erfahrungen zu unterscheiden. Die Traumaforschung hat gezeigt, welche physiologischen und emotionalen Reaktionen Kinder unter schwerem Stress entwickeln. Diese Art von Extremstress lässt sich an Babys beobachten, die keine liebevolle, sichere Basis besitzen.“ (S. 57ff.)

„SIG: In unserem Land wandern manche Kinder von einer Pflegestelle zur nächsten, so dass ihre Bezugspersonen häufig wechseln....
TBB: William Weld, der ehemalige Gouverneur von Massachusetts, hat 1992 eine Foster-Care Commission einberufen. Ihr gehörten etwa zwanzig Kollegen an, die für das Sozialministerium Verbesserungsvorschläge erarbeiten sollten. Wir haben nach dem Zufallsprinzip einhundert Fälle herausgesucht und genauer unter die Lupe genommen. Kein einziger dieser Fälle war jemals vollständig aufgearbeitet worden. Niemand wusste genau über den Hintergrund der Kinder Bescheid, für die eine Pflegestelle gesucht wurde....
SIG: ....Sobald ein Baby sechs Monate oder länger von ein und derselben Frau betreut wird, werden seine Beziehungen und seine Entwicklung beeinträchtigt, wenn man es aus dieser Umgebung herausreißt...
TBB: ....Wir gefährden ihre [der Kinder] gesamte kognitive und emotionale Entwicklung, wenn wir mit Pflegestellen und Adoptionen und Sorgerechtsregelungen russisches Roulette spielen. Das muss klar gesagt werden....“ (S. 73ff.)

Auch die weitere Bilanz der Autoren ist alles andere als erfreulich:
In den USA und vielen anderen Ländern haben wir für die körperliche Unversehrtheit und das Wohlergehen der Kinder wenig vorbildliches geleistet, obwohl die Voraussetzungen dafür dank der stabilen und erfolgreichen wirtschaftlichen und politischen Systeme gegeben sind. Viel zu viele Kinder sind unnötigen Risiken ausgesetzt; sie kommen untergewichtig zur Welt und weisen körperliche Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten sowie emotionale und soziale Probleme auf, die man hätte verhindern können. Immer mehr Babys leiden infolge von Misshandlung und Vernachlässigung unter Schädigungen ihres zentralen Nervensystems. Die pränatale und postnatale Beeinträchtigung durch Alkohol, Tabak, Blei, Quecksilber und andere Giftstoffe sowie der Drogenmissbrauch im Kindesalter und Adoleszenz wirken sich ebenfalls schädlich auf die gesunde Funktionsfähigkeit des zentralen Nervensystems aus... Wir müssen akzeptieren, dass wir für die körperliche Unversehrtheit und das physische Wohlergehen unserer Kinder nicht das Nötige getan haben... Unser Hauptaugenmerk gilt hier der Betreuung schwangerer Frauen, der Gesundheitsvorsorge im Säuglings- und Kleinkindalter, der Reduzierung der Säuglingssterblichkeit und der Untergewichtigkeit Neugeborener sowie dem Schutz der Kinder vor Gewalt, Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung.“ (S. 109f.)

In einem bemerkenswert freundlichen Stil wird in den weiteren Kapiteln der Erziehungsnotstand dargelegt und diskutiert, mit erstaunlich ähnlichen Resultaten, wie sie hierzulande weniger freundlich von den Journalisten Gaschke und Gerster/Nürnberger präsentiert wurden.
Christoph Malter (Mai, 2002)

 

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