FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2005

 

Schwierigkeiten und Widersprüche in Pflegefamilien
 und deren therapeutische Potentiale
*

Von Christoph Malter

 

*Vortrag im Rahmen der Fachtagung "Leben in Fremdfamilien - Perspektiven für Jugendhilfe und Psychiatrie - Der Beitrag einer klinischen Soziologie zu öffentlicher Sozialisation und Familienunterstützung", veranstaltet von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
(Aug. 2005)

 

Verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

im Namen der »Bundesarbeitsgemeinschaft für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien« (BAG-KiAP) und der »Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie« (AGSP) bedanke ich mich bei den Gastgebern, der Universität Jena und der Humboldt Universität Berlin, Prof. Dr. Hildenbrand, Dr. Gehres und Prof. Dr. von Kardorff, für die Einladung zu dieser Tagung.

Den vorangegangenen und sehr interessanten Beiträgen konnten Sie bereits entnehmen, dass das hier von Prof. Hildenbrand und Dr. Gehres vorgestellte Forschungsprojekt an der Entwicklung einer neuen Theorie zum Pflegekinderwesen arbeitet, u.a. mit dem Ziel, die beiden widersprüchlichen, häufig konkurrierenden Modelle der inklusiven und exklusiven Pflegefamilie, bzw. der Ergänzungs- und Ersatzfamilie darin zu integrieren (vgl. Gehres, 2005).

Ich werde etwas zu den Besonderheiten von Pflegekindern und Pflegefamilien sagen, sowie zu den angesprochenen Pflegefamilienmodellen und zu den daraus resultierenden Problemen. Abschließend gebe ich kurze Anregungen aus der Forschung im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) der AGSP.

Zunächst zu den Pflegefamilien: Sie unterscheiden sich von der normalen Familie viel mehr als oft bekannt. Mit der Aufnahme des fremden Kindes leisten sie ‚öffentliche Hilfe im privaten Haushalt’. Als Familie genießen sie zwar den Schutz der Privatsphäre, aber sie müssen hinnehmen, dass behördliche Entscheidungen in sie hineinwirken. Während alltägliche Angelegenheiten des Pflegekindes in dem vereinbarten Rahmen von den Pflegeeltern autark gestaltet werden können, fallen weitreichende Weisungen über Schulbesuch, Abschluss eines Lehrvertrages, die Einwilligung in ärztliche Behandlungen und Impfungen, Auslandsreisen oder Umgangsregelungen in den Kompetenzbereich von Jugendamt, Vormund, leiblichen Eltern oder Familiengerichten. Wesentliche Befugnisse, die bei normalen und Adoptivfamilien den sorgeberechtigten Eltern obliegen, werden bei Pflegefamilien außenstehenden Personen überantwortet. In Berlin werden Pflegefamilien – wohlgemerkt nicht nur die Pflegekinder(!) – neuerdings per Ausführungsvorschrift sogar dazu verpflichtet, sich regelmäßigen psychosozialen Begutachtungen zu unterziehen. Dies sind Besonderheiten, die den zwiespältigen Status der Pflegefamilien zwischen autonomer Privatfamilie und Instrument der öffentlichen Jugendhilfe kennzeichnen.

Die aufgenommenen Kinder unterscheiden sich ebenfalls von sonstigen Kindern, auch von den meisten Adoptivkindern. Meist sind sie psychosozial erheblich vorgeschädigt und bieten vielfältige Auffälligkeiten in Erleben und Verhalten. Die Integration in die Pflegefamilie erfordert besondere Anstrengungen auf beiden Seiten. Dem Kind werden soziale Anpassungsleistungen abverlangt, die in seinem bisherigen Umfeld nicht vermittelt wurden. Von der Pflegefamilie wird verständnisvolle Toleranz gegenüber den problematischen Eigenheiten des Kindes erwartet. Beispielsweise reagieren bindungsgestörte Kinder auf Pflege und Liebe oft mit Steigerung der Verhaltensauffälligkeiten.

In der gegenwärtigen Praxis stehen sich die Modelle der inklusiven und exklusiven Pflegefamilie, bzw. der Ergänzungs- und Ersatzfamilie gegenüber. Im exklusiven Modell ist der Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie und, wie Prof. Huber von der Pflegeelternschule in Baden Württemberg es ausdrückt, die Beheimatung das Ziel der Hilfe (vgl. Huber, 2001). Das Ziel im inklusiven Pflegfamilienmodell ist die Einbeziehung der Herkunftsfamilien und die Rückführung. Hier haben regelmäßige Umgangskontakte eine hohe Bedeutung, während die Mitwirkung der leiblichen Eltern im exklusiven Modell als störend betrachtet wird. Entschiedene Vertreter weisen sehr nachdrücklich auf schädliche Wirkungen durch Besuchskontakte hin (vgl. Nienstedt, Westermann, 1990).

Zunächst zur Rückführungsproblematik
Im »Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich« des Deutschen Jugendinstitutes wird daran erinnert, dass nur sehr unsichere Schätzungen über die Rückführungshäufigkeit vorliegen, die zwischen 6% und 42% streuen. Für die Rückführbarkeit von Pflegekindern gäbe es keine allgemein anerkannten Richtlinien (vgl. Permien, 1987, S. 255). Daran hat sich bis heute wenig geändert. Dennoch bekennen sich viele Jugendämter und Familiengerichte zur programmatisch statt empirisch begründeten Favorisierung der Rückführung. Dazu Blandow:
„Da die ‚Rückführung’ von Kindern in ihre Familien ein gegenwärtig hoch geschätztes jugendhilfepolitisches Ziel ist und es gewissermaßen einen edlen Wettstreit um hohe Rückführungsquoten gibt, werden die sehr unterschiedlichen Tatbestände [Anm. geplante Rückgabe, Rücknahme, Rückkehr] gerne verwischt.“ (Blandow, 2004, S. 142)
Geht man der Frage nach, was aus den zurückgeführten Kindern geworden ist, erhält man viele Informationen über ungünstige Verläufe (vgl. Malter, 2005). Ein Teil der Kinder erlebt nach der Rückführung erneute Fremdplatzierung, weil mit den Eltern nicht genügend gearbeitet wurde, weil die Bedingungen in den Herkunftsfamilien weiterhin instabil sind oder aber weil die leiblichen Eltern sich als dauerhaft erziehungsunfähig zeigten. Die Fraglichkeit der Rückführungspraxis ergibt sich oft schon aus den Vorgeschichten der Fremdunterbringungen, die wegen des intensiven Ausbaus der ambulanten Hilfen nur vorgenommen werden, wenn die Eltern „...nicht mehr über familienunterstützende Hilfen erreicht werden können.“ (Salgo, 2001, S. 37)

Zur Problematik der Umgangsgestaltung
Unstrittig ist, dass bei psychisch unversehrten Kindern mit gesunden Bindungen an ihre Eltern regelmäßig Umgang gepflegt werden soll. Das Ziel der Rückführung ist dort angemessen und gehört in den Aufgabenbereich der Bereitschaftspflege. Die meisten Pflegekinder in Dauerpflegen bringen aber jene Voraussetzungen nicht mit. Sie haben Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erlebt. Für derart traumatisierte Kinder ist nicht nur die Rückplatzierung fragwürdig, sondern auch Direktkontakte mit den misshandelnden Eltern. Pathologische Bindungen zwischen Misshandler und Opfer zu pflegen, gefährdet die gesunde Bindungsentwicklung zu den Pflegeeltern (vgl. z.B. Brisch, 1999), einhergehend mit zusätzlichen Belastungen und einem erhöhten Abbruchrisiko. Hinzu kommen neueste neuropsychologische Forschungsergebnisse, die tiefgreifende hirnorganische Verletzungen misshandelter Kinder belegen und die Gefahr der Retraumatisierung unterstreichen (vgl. z.B. Perry, 2001; Hüther u. Himpel, 2004). Zu dieser Thematik wird ausführlich im
»3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens« der Stiftung »Zum Wohl des Pflegekindes« berichtet. In der kontrovers geführten Debatte wird immer wieder das Argument ‚Die Eltern seien wichtig für die Identitätsentwicklung des Kindes und deshalb bedürfe es immer der Kontaktpflege’ vorgebracht. Dass die Eltern für das Kind wichtig sind, unterliegt keinem Zweifel. Der pauschalen Verallgemeinerung positiver Wirkungen von Direktkontakten bei traumatisierten Kindern widersprechen jedoch vielfältige Erfahrungen. Deshalb sind differenzierte, fallbezogene Entscheidungen statt allgemeine, konzeptionelle Vorgaben indiziert. Über die Chancen, frühkindlich erlebte Traumata therapeutisch in Pflegefamilien zu behandeln, kann ich aus eigener empirischer Forschung berichten.  

Anregungen aus der Forschung im TPP
1990 wurde mir die Durchführung der Begleitforschung im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) übertragen. Das auf den Erfahrungen und Forschungsergebnissen eines vom Psychoanalytiker Klaus Hartmann geleiteten Beobachtungsheimes aufbauende Projekt verfolgt das Ziel, gefährdeten Kindern eine Erziehung und Therapie in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien zu bieten. Die AGSP, unter Leitung von Prof. Dr. Kurt Eberhard und Rechtsanwältin Soz.-Päd. grad. Gudrun Eberhard, versucht die Vorteile der Heimerziehung mit denen der Pflegefamilienerziehung zu verbinden. Die erkenntnistheoretische und methodologische Basis der hermeneutischen Gruppenarbeit im TPP ist die abduktionslogisch fundierte Diskurstheorie der Aktionsforschung (vgl. Eberhard, 1999). Die detaillierte Auswertung der Begleitforschung brachte als wichtigste Resultate den Nachweis, dass auch ältere und besonders schwierige Kinder in Pflegefamilien erfolgreich aufgezogen werden können, wenn diese intensiv beraten und betreut werden. Das Abbruchrisiko liegt sehr deutlich unter dem Durchschnitt sonstiger Pflegeverhältnisse. Darüber hinaus konnten gut beeinflussbare Persönlichkeitsbereiche identifiziert werden. Bei 21 von 78 erfassten Merkmalen aus einer kasuistisch angelegten Trendanalyse resultierten statistisch signifikante Aufwärtstrends in den Merkmalsyndromen ‚soziale Anpassung nach außen’, ‚Zugang zu eigenen Gefühlen’ und ‚familiäre Identität in der Pflegefamilie’. Demgegenüber konnten die Bindungsprobleme der Kinder nicht signifikant reduziert werden. Das entspricht den skeptischen Prognosen vieler  Bindungstheoretiker. Als formbar erwiesen sich die äußere Anpassung und die emotionale Selbst-Reflexion (vgl. Malter u. Eberhard, 2001).

Als wichtige Anregung für die Praxis kann klar gesagt werden, dass Fremdplatzierung frühzeitig dort eingeleitet werden sollte, wo ambulante Hilfen aussichtslos sind, damit diese Kinder rechtzeitig therapeutische Chancen in heilpädagogischen Pflegefamilien erhalten. In der Arbeit mit erlebnis- und verhaltensgestörten Kindern haben sich im TPP die psychoanalytische Ich-Psychologie, die Bindungstheorie und die neuropsychologische Traumatheorie als Konzepte des Verstehens und Handelns gut bewährt, allerdings nicht als dogmatische Fundamente, sondern lediglich als Quellen für praxisanleitende Anregungen.

Dem heute von Ihnen vorgestellten Forschungsprojekt wünsche ich viel Erfolg bei der Entwicklung einer Theorie zum Pflegekinderwesen, in die sich die von mir kurz aufgezeigten Schwierigkeiten und Widersprüche überzeugend integrieren lassen.
(Juli, 2005)

 

Literatur:
 

Blandow, Jürgen: Pflegekinder und ihre Familien. Weinheim, München, 2004

Brisch, Karl Heinz: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart, 1999

Deutsches Jugendinstitut: Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim, München, 1987

Eberhard, Kurt: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (2. Aufl.). Stuttgart, 1999

Gehres, Walter: Jenseits von Ersatz und Ergänzung: Die Pflegefamilie als eine andere Familie (Manuskr.), 2005

Hartmann, Klaus: Lebenswege nach Heimerziehung. Freiburg, 1996

Huber, August: Zur Notwendigkeit der Organisierung von Pflegeeltern und der Unterstützung ihrer Arbeit. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (134-143)

Hüther, Gerald; Himpel, Sunke: Auswirkungen emotionaler Verunsicherungen und traumatischer Erfahrungen auf die Hirnentwicklung: In: Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes (Hg:): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Idstein, 2004, (111-125)

Malter, Christoph: Zur Problematik der Rückführung von Pflegekindern. In: Forum (www.agsp.de), 2005

Malter, Christoph; Eberhard, Kurt: Entwicklungschancen für vernachlässigte und misshandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (223-234)

Nienstedt, Monika; Westermann, Arnim: Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien (2. Aufl.). Münster, 1990

Permien, Hanna: Rückführung von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim, München, 1987, (255-265)

Perry, Bruce D.: The neurodevelopmental impact of violence in childhood. In Schetky D. & Benedek, E. (Eds.) Textbook of child and adolescent forensic psychiatry. Washington, D.C.: American Psychiatric Press, Inc., 2001, (221-238)

Salgo, Ludwig: Zielorientierung und Hilfeplanung nach dem SGB VIII (KJHG). In: Stiftung „Zum Wohl des Pflegekindes“ (Hg.): 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Pflegekinder in Deutschland – Bestandaufnahme und Ausblick zur Jahrtausendwende. Idstein, 2001, (36-67)

Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes: 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Idstein, 2004

 

s.a  Kinder im Spannungsfeld zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie
s.a.
Soziologische Dialektik im Ungewissen
s.a.
Einbahnstraße Pflegefamilie? Zur (Un)Bedeutung fachlicher Konzepte in der Pflegekinderarbeit

 

 

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