FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2006

 

Nähe und Distanz in Pflegefamilien
mit stark traumatisierten Kindern

von Prof. Dr. Kurt Eberhard

 

Diskussionsbeiträge zur Nähe-Distanz-Problematik in der sozialpädagogischen Fachliteratur münden vielfach in normative Empfehlungen, nämlich:
1. Appelle zum Schutz sozialpädagogischer Klienten vor Grenzüberschreitungen insbesondere sexueller Art (z.B. in Kindergärten, Schulen, Erziehungsheimen, Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen, Altenheimen etc.)
2. Appelle zum Schutz des sozialpädagogischen Personals vor Grenzüberschreitungen von Klienten, auch vor Verleumdungen und Erpressungen sowie vor burning-out-Krisen.

Diese Appelle sind oft sehr allgemein gehalten – "optimale Balance zwischen zu viel Nähe und zu viel Distanz" – und in dieser Form banal, eigentlich sogar tautologisch, denn "zu viel" ist schon definitorisch negativ. Oder sie werden – meist in Form von Beispielen – konkretisiert, sind aber auch dann eher sozialethische Normen als empirisch überprüfte sozialpraktische Strategien.

Wesentlich differenzierter wird das Nähe-Distanz-Thema in dem von Margret Dörr und Burkhard Müller soeben herausgegebenen Sammelband »Nähe und Distanz« erörtert - leider ohne Berücksichtigung des Pflegekinderwesens.

Pflegeeltern können von pauschalen Abstinenz-Empfehlungen nicht profitieren, weil es gerade zu ihren Aufgaben gehört, emotionale und auch körperliche Nähe herzustellen. Diesbezügliche sozialhygienische Imperative gehen am objektiven Bedarf und an den subjektiven Bedürfnissen der Pflegekinder vorbei. Trotzdem sind Pflegeeltern nicht von der Nähe-Distanz-Problematik befreit, im Gegenteil – immer wieder stehen sie vor sehr komplizierten Nähe-Distanz-Situationen, beispielsweise wenn ein sexuell mißbrauchtes Mädchen sich seinem Pflegevater sexuell anbietet oder dieser sich von jenem erotisch angezogen fühlt, ohne durch langjährig gewachsene Inzesttabus zuverlässig gehemmt zu sein. Oder wenn eine Pflegemutter das Gefühl hat, sie müsse ein exzessiv agierendes Kind durch gewaltsames Festhalten zur Ruhe bringen. Aber in solchen Situationen helfen keine pauschalen Nähe-Distanz-Appelle, sondern nur individuelles Verstehen und individuelles Handeln, das sogar innerhalb einer Pflegefamilie sehr unterschiedlich ausfallen kann.

Die Frage lautet also nicht allgemein: Welche Balance zwischen Nähe und Distanz ist gegenüber Pflegekindern optimal? sondern: wie können Pflegeeltern die im Einzelfall erforderliche Verstehens- und Handlungskompetenz entwickeln? Eine ganz andere Frage stellt sich, wenn Pflegeeltern von außen strafbarer Grenzüberschreitungen verdächtigt werden.

Unsere Antwort im Therapeutischen Programm für Pflegekinder (TPP) der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) auf beide Fragen ist die für die Zwecke von Dauerpflegestellen modifizierte praxisbegleitende Aktionsforschung. Kurzzeitpflegestellen werden von unseren Erfahrungen nur eingeschränkt profitieren können.

Das TPP ist u.a. dadurch gekennzeichnet,

  • daß es aus Erfahrungen mit der Heimpädagogik erwachsen ist und einen betont therapeutischen Anspruch vertritt;
  • daß es vorzugsweise besonders schwierige Kinder nach dem Vorschulalter aufnimmt, die sonst wahrscheinlich im Heim untergebracht worden wären;
  • daß die Pflegeeltern nicht nach ihrer Vorbildung ausgesucht werden, sondern nach emotionalen Qualitäten;
  • daß meine Frau und ich jederzeit telefonisch erreichbar sind und möglichst sofort zur Beratung zur Verfügung stehen;
  • daß die Pflegeeltern sich gegenseitig unterstützen und sich regelmäßig zu Aus- und Fortbildungsseminaren zusammenfinden, die nach den Kommunikationsregeln der Aktionsforschung durchgeführt werden;

(vgl. Irina Eberhard, 2005)

Unter Aktionsforschung verstehen wir denjenigen Erkenntnisweg, der die im Wissenschaftsbetrieb übliche Trennung von Forschung und Praxis aufhebt und auf dem die Beteiligten die gemeinsamen Probleme im Rahmen kollektiver Reflexionen (sog. Diskurse) analysieren und zu problembezogenen phänomenalen, kausalen und aktionalen Hypothesen gelangen, die ihre Glaubwürdigkeit aus bestimmten erkenntnisförderlichen Gesprächsformen (z.B. 'Herrschaftsfreiheit', 'Begründungspflicht', 'intellektuelle Offenheit', 'emotionale Akzeptierung') sowie aus der kritisch beobachteten Praxis beziehen (eine genauere Darstellung der Aktionsforschung und ihrer erkenntnistheoretischen Herleitung aus der Abduktionslogik s. Eberhard 1999, S. 51 ff und S. 120 ff; die spezielle Ausformung für Pflegeeltern s. Eberhard & Eberhard, 1996).

Folgende Theorien haben sich in diesen Diskursen immer wieder bewährt – allerdings nicht als abgesicherte Dogmen, sondern als Lieferanten hypothetischer Anregungen zum Verstehen und Behandeln der einzelnen und einzigartigen Fälle:

  1. Die psychoanalytische Ich-Psychologie, die uns hilft, die Ich-Defekte zu verstehen, die aus Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch folgen. (Prominente Psychoanalytiker dieser Richtung sind Anna Freud, René Spitz, Erik H. Erickson, Fritz Redl und David Wineman.)
     
  2. Die ethologische Bindungstheorie, die uns zeigt, wie sehr die angeborenen Bindungsbedürfnisse zu ihrer Entfaltung feinfühliger Eltern bedürfen und wie unbefriedigte Bindungswünsche zu späterem Sozialversagen führen. (Der Begründer ist John Bowlby, die bekanntesten deutschen Vertreter sind das Ehepaar Grossmann und Karl H. Brisch.)
     
  3. Die neuropsychologische Traumaforschung, die auf der Basis bildgebender Untersuchungsmethoden herausgefunden hat, daß seelisch verletzte Kinder nicht nur psychisch, sondern auch physiologisch und sogar hirnanatomisch gravierend geschädigt sind. (s. z.B. Bruce Perry, Allan Schore, Bessel von der Kolk, Gerald Hüther)

Daraus resultiert, daß unsere Pflegekinder, die alle erheblich traumatisiert wurden, primär der Heilung und erst sekundär der Erziehung bedürfen. Die Pflegefamilie ist vorrangig ein Ort der Therapie und nicht ein Ort der Pädagogik. Einer unserer Leitsätze heißt deshalb: erst Beziehung, dann Erziehung! Pflegeeltern sind also Therapeuten, ob sie und ihre Auftraggeber es wollen oder nicht. Ihre Therapeutika sind Liebe, Ruhe, Stetigkeit (so schon Andreas Mehringer, 2001). Liebe, weil die Pflegekinder durch Lieblosigkeit traumatisiert wurden; Ruhe, weil alle hirnorganisch geschädigten Kinder viel Ruhe gegen ihre innere Unruhe und nervöse Reizbarkeit benötigen; Stetigkeit, weil sie nach einer chaotischen Vergangenheit ein Leben in verläßlicher Vorhersagbarkeit brauchen.

Therapeutische Arbeit heißt aber auch, daß viel Übertragungsdynamik, also alle emotionalen, z.T. psychopathologischen Annäherungen und Abgrenzungen des Pflegekindes bis zur Erträglichkeitsgrenze zugelassen werden müssen. Vermeiden läßt sie sich ohnehin nicht, wohl aber – wie auch die Gegenübertragungen – in der Supervision und im Kreis der Pflegeeltern reflektieren und auf diese Weise therapeutisch fruchtbar machen.

Deshalb sind Pflegeeltern nicht nur auf kontinuierliche Beratung und Supervision, sondern auf engagierte solidarische Unterstützung anderer Pflegeeltern angewiesen. Pflegeeltern brauchen Pflege! Sie müssen auch ermutigt werden, nach außen je nach Situation kooperative Nähe oder professionelle Distanz einzunehmen. Bspw. müssen sie davor bewahrt werden, sich zu willfährigen Assistenten der schulischen Sozialisationsforderungen machen zu lassen. Ferner bedarf ihre private familiäre Autonomie des Schutzes vor programmatischen Instrumentalisierungen von jugendamtlicher Seite. Die therapeutische Arbeit muß schließlich vor zu frühen und zu weit gehenden Umgangs- oder Rückkehransprüchen abgeschirmt werden. Das Ergänzungsfamilienmodell, in dem die Pflegeeltern als Erziehungshelfer überforderter leiblicher Eltern gelten, hat zwar prinzipiell Priorität, aber in der Praxis zwingt das noch stärkere gesetzliche Gebot des Kindeswohls in der Mehrzahl der Fälle zur Orientierung am Ersatzfamilienmodell, in dem die Pflegefamilie die neue Heimat und die dortige ohnehin sehr schwierige Bindungsarbeit vor konkurrierenden, meist sogar pathologischen alten Bindungen behütet werden soll. Es ist eben im allgemeinen nicht ratsam, ein wurzelgeschädigtes Pflänzchen, das zwecks Heilung aus unzulänglichem Boden in gute Muttererde umgepflanzt wurde, alleweil herauszuholen und im alten Boden gastieren zu lassen oder es gar dorthin zurückzutopfen, bevor dieser saniert ist.

Wir haben über die vielen Jahre – inzwischen sind es 26 – mit den hier nur grob skizzierten Leitlinien und Methoden gute Erfahrungen gemacht und die begleitende Evaluationsforschung erwies u.a. ein im Vergleich zur Bundesstatistik sehr signifikant geringeres Abbruchrisiko (Genaueres zu dieser Forschung s. Christoph Malter, 2001). Im Zusammenhang mit dem hiesigen Thema ist besonders erwähnenswert, daß die Identifizierung mit und die Bindung an die Pflegefamilie sowie die Fähigkeit, die eigenen Schwächen zu reflektieren, deutlich zunahmen.

Zu den Zielen heilpädagogischer Arbeit mit Pflegekindern gehört also nicht der Kompromiß zwischen Nähe und Distanz, sondern die Fähigkeit zu Nähe UND Distanz, zu Bindung UND Lösung und zu reflexiver Rationalität. Das können selbst therapeutisch orientierte Heime nicht leisten, weil dort wegen der Gruppensituation und der Schichtwechsel der Erzieher bindungsförmige Nähe und autonome Distanz kaum möglich sind. Das Damoklesschwert berechtigter und unberechtigter Anschuldigungen und die entfremdenden Vorkehrungen dagegen spielen im Heim zusätzlich eine bedrückende Rolle (vgl. dazu Urs Hofmann, 2004). Pflegefamilien bieten demgegenüber echte familiäre Praxis und dauerhafte familiäre Integration, mithin die in Familien üblichen, sehr flexiblen Formen von Nähe und Distanz. Der Schutz des Kindes vor Mißhandlung und Mißbrauch wird nicht durch Distanzregeln erreicht, sondern durch einfühlsame Liebesbindungen, die das Wohlergehen des Kindes zum egoistischen Anliegen werden lassen.

Die andere Problematik – Umgang mit Verdächtigungen von außen – kann im Rahmen des Aktionsforschungsgesprächs unter Pflegeeltern, die sich gut kennen, ebenfalls besser und glaubwürdiger behandelt werden als dienstaufsichtlich von oben – erst recht, wenn die Verdächtigungen berechtigt sein sollten. Ein vorbeugendes allgemeines Kontakt- und Zärtlichkeitsverbot, wie es mancherorts in anderen pädagogischen Bereichen dekretiert wurde, kommt jedenfalls im Pflegekinderwesen aus o.g. Gründen nicht in Betracht. Im Gegenteil: je tiefer die Liebe zum Kind, desto sicherer ist es vor aggressiven Attacken und sexueller Ausbeutung; solch schützende Liebe wird sich aber ohne zärtliche Kontakte kaum entfalten können.

 

L i t e r a t u r:

Brisch, K.H.: Bindungsstörungen, Stuttgart 1999

Bowlby, J.: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung, Heidelberg 1995

Dörr, M. u. Müller, B. (Hg.): Nähe und Distanz - ein Spannungsfeld päd. Professionalität. Weinheim, 2006

Eberhard, K. u. G.: Aktionsforschung in der Pflegeelternausbildung, Neue Praxis, H.2, 1996

Eberhard, K.: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 1999

Eberhard, I.: Aufgaben der heilpäd. Pflegestelle in der Arbeit mit traumatisierten Kindern, www.agsp.de, 2005

Erikson, E.H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966

Freud, A.: Das Ich und die Abwehrmechanismen, München 1964

Grossmann, K.E. u. Grossmann, K.: Bindung und menschliche Entwicklung, Stuttgart 2003

Hofmann, U.: Grenzfall Zärtlichkeit, Luzern, 2004

Hüther, G. u. Krens, I.: Das Geheimnis der ersten neun Monate, Düsseldorf 2005

Kolk, van der B.A. et al.: Traumatic Streß, Paderborn 2000

Malter, C.: Zur therapeut. Wirksamkeit von Pflegefamilien, in Kindeswohl, H.3, 2001

Mehringer, A.: Eine kleine Heilpädagogik, (11. Aufl.) München 2001

Perry, B.: ’Bonding’ und ’Attachment’ bei mißhandelten Kindern, in dtsch. Übers. www.agsp.de, 1999

Redl., F. u. Wineman, D.: Kinder, die hassen, München 1986

Schore, A.: Affect Dysregulation and Disorders of the Self, New York 2003

Spitz, R.: Vom Säugling zum Kleinkind, Stuttgart 1967

 

veröffentlicht in »Netz - Zeitschrift für das Pflegekinderwesen« Juli 2006; s. http://www.pflegekinder.ch/wir_helfen/netz_zeitschrift.html

 

 

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